Einleitung
Vor einem knappen Jahr wurde ein Mann aus
Friedrichshain als Vergewaltiger geoutet und unserer Gruppe zugeordnet. Im März
1999 erschien daraufhin eine erste Stellungnahme unsererseits, in der wir darauf
verwiesen haben, daß wir grundsätzlich nicht über Mitgliedschaften in
linksradikalen Zusammenhängen spekulieren. Weiterhin haben wir angekündigt uns
nach internen Diskussionen nochmals zum Themenkomplex Vergewaltigung und
Täterschutz zu äußern. Um einen inhaltsleeren Schlagabtausch zu vermeiden,
haben wir uns die Zeit genommen, uns erst intern auf einen gemeinsamen
Standpunkt zu einigen. Unser Ziel war und ist eine grundsätzliche
Auseinandersetzung mit dem Thema, fernab von Dogmen. Wir haben uns auf folgendes
Positionspapier geeinigt.
Zum Definitions- und Sanktionsrecht
In der „Szene" hat sich in den 80/90er
Jahren ein bestimmter Umgang mit dem Thema Vergewaltigung durchgesetzt. Dieser
ist gekennzeichnet durch die Einführung des Definitions- und Sanktionsrecht,
d.h. die Begriffsbestimmung einer sexuellen Grenzüberschreitung durch die
betroffene Person wird als allgemeingültig anerkannt. Dies artikuliert sich in
der These: „Wenn eine Frau sagt es ist eine Vergewaltigung, dann ist es eine
Vergewaltigung." Daran geknüpft ist immer das Ausüben bestimmter
Sanktionen, bis hin zu körperlicher Gewaltausübung und lebenslangem Ausschluß
aus allen Zusammenhängen. Wir lehnen diesen in der' „Szene" gängigen
Umgang mit Vergewaltigung, insbesondere die Koppelung von Definitions- und
Sanktionsrecht, ab. Dabei geht es uns nicht darum der betroffenen Person' ihre
Erfahrungen und Äußerungen abzusprechen bzw. diese nicht ernst zu nehmen. Die
subjektive Empfindung kann jedoch nicht als Maßstab für eine objektive
Definition, die Allgemeingültigkeit beansprucht, verwendet werden. Denn die
individuelle Bedeutung und die Auswirkung von sexuellen Grenzüberschreitungen
äußert sich bei den betroffenen Personen unterschiedlich. Dies wird durch
weitere Faktoren bestimmt, wie z.B. frühere Erfahrungen mit sexuellen
Grenzüberschreitungen. Und nicht jede Form der sexuellen Grenzüberschreitung
ist eine Vergewaltigung. Dies zu leugnen, verflacht lediglich die Thematik. Der
antisexistische Gehalt dieses Vorgehens ist fragwürdig. Es gibt neben der
Vergewaltigung verschiedene Formen sexistischer Verhaltensweisen und
Übergriffe, die Konsequenzen erfordern. Hierbei ist es aber notwendig von Fall
zu Fall zu differenzieren, um unterschiedlich vorzugehen. Um nachvollziehbar und
konsequent auf Vorwürfe reagieren zu können, bedarf es möglichst klarer
Begrifflichkeiten. Eine Definition und Differenzierung von
Grenzüberschreilungen wird aber in der „Szene" abgelehnt. Hier steht es
allein der Person zu, die eine Tat benennt, diese einzuordnen und zu beurteilen.
Dabei ist es üblich, daß auf ein Outing im Vorfeld festgelegte Sanktionen
folgen. Hier wird ein Automatismus losgetreten, der sich zuweilen sogar dem
Einflußbereich der betroffenen Person entzieht. Ein Zweifel an der Richtigkeit
der Sanktionen, Nachfragen und Diskussionen werden dagegen weithin als
Täterschutz geahndet. Wir halten die Folgen einer solchen Vorgehensweise nicht
vereinbar mit einem emanzipatorischen Politikansatz. Ein Vergewaltigungsvorwurf,
der nicht an eine verallgemeinerbare Definition gebunden ist, mit damit
einhergehender rigider Bestrafung führt nicht zu einer höheren
Sensibilisierung für sexistische Übergriffe. Statt eine weitergehenden
Reflexion voranzutreiben, kommt es zu einer Stigmatisierung einzelner als
Täter. Hier unterscheidet sich die „Szene" kaum von der bürgerlichen
Gesellschaft. Denn auch dort wird das Problem personalisiert und damit
entpolitisiert, indem die Kritik auf eine Einzelperson projiziert wird.
Es wird eine Polarisierung in „den guten
Genossen" und „den schlechten Genossen" suggeriert. Eine wirkliche
Diskussion wird damit abgewendet. Statt dessen wird versucht sich selbst auf „die
gute Seite" zu retten, und Lippenbekenntnisse vereiteln die Thematisierung
von Widersprüchen. Die gesamtgesellschaftliche Relevanz bleibt dabei allerdings
auf der Strecke. Um genau dieser Entwicklung entgegenzuwirken und einen Umgang
mit sexistischen Übergriffen in verschiedenen Formen zu finden, halten wir es
für notwendig zu differenzieren. Dazu haben wir für unsere Gruppe folgende
Definition von Vergewaltigung erarbeitet: Vergewaltigung ist eine mit physischer
oder psychischer Gewalt oder unter Androhung dieser herbeigeführte sexuelle
Handlung. Sie ist Ausdruck des sexistischen Verfügungsanspruchs einer Person
über eine andere. Dem Opfer bleibt die Möglichkeit, sich dem Zugriff zu
entziehen, in Folge von physischer Unterlegenheit und/oder unter Ausnutzung
starker Abhängigkeitsverhältnisse verwehrt. Mit dieser Bestimmung kann man den
Begriff eingrenzen. Eine Vergewaltigung nach dieser Definition ist Ausdruck
einer derartig starken sexistischen Einstellung, die nicht mit einer
Mitgliedschaft in unserer Gruppe vereinbar ist. Das heißt selbstverständlich
nicht, daß andere Formen der Grenzüberschreitung keine Konsequenzen erfordern.
In der Vergewaltigungs- und Täterschutzdebatte
des vergangenen Jahr, wurde fast durchwegs kritiklos das Auftreten von
autoritärem und in vorbürgerlichen Gesellschaften verhaftendem Gedankengut
hingenommen. Erinnert sei hier nur an die Plakatserie „Dead man can't rape!"
oder die in einem in der Interim veröffentlichten Artikel formulierte Aussage:
„Wir kastrieren auch ohne Chipkarte!". In welchen gesellschaftlichen
Kreisen diese Auffassung von geeigneter Bestrafung Zuhause ist, läßt sich
unschwer bei Kampagnen zur Wiedereinführung der Todesstrafe für
Kinderschänder und Vergewaltiger erkennen. Es fällt selbst hinter den
bürgerlichen Standard zurück, wenn Vorverurteilungen zu lebenslänglichen
Strafen führen. Hier wird noch nicht einmal das Recht auf Verteidigung
gewährt, im Gegenteil der Vorwurf kommt bereits einer Verurteilung gleich.
Mit linksradikalen Vorstellungen von der
Veränderbarkeit von Mensch und Gesellschaft hat dies alles nichts gemein!
Um einer Verselbständigung von
Sanktionsmaßnahmen entgegenzuwirken, muß Klarheit über Sinn und Zweck von
Sanktionen herrschen. An diesem Punkt treten verschiedene Fragen auf. Wann und
mit welchem Ziel üben wir als politische Gruppe Sanktionen aus? Welche
Sanktionsmöglichkeiten sind uns als politische Gruppe überhaupt gegeben?
Oberstes Ziel von Sanktionen sollte in jedem Fall
der Schutz der betroffenen Person sein. Das heißt, auf ihren Wunsch hin hat
sich die beschuldigte Person bis auf weiteres von ihr fernzuhalten. Damit kann
jedoch nicht die Verbannung aus allen linken und sozialen Zusammenhängen
begründet werden. Des weiteren ist es das Ziel von Sanktionen sowohl Druck auf
die beschuldigte Person auszuüben, als auch nach innen und außen zu
demonstrieren, daß sexistisches Verhalten Konsequenzen hat. Damit einher geht
die Förderung einer Auseinandersetzung zum Themenkomplex innerhalb der Gruppe.
Art und Umfang aller weiteren Sanktionsmaßnahmen werden von uns nach
gruppeninternen Diskussionen (siehe unten) festgelegt. Dabei sind wir uns
bewußt, daß die Sanktionsmöglichkeiten als politischer Zusammenhang begrenzt
sind. Wir können eine Person mit ihrem Fehlverhalten konfrontieren, eine
Stellungnahme sowie einen Reflexionsprozesse einfordern. Als stärkstes
Drohmittel bleibt uns nur ein vorübergehender oder endgültiger Rausschmiß.
Mit dieser Einsicht und aufgrund unserer bereits beschriebenen Vorstellung von
der Veränderbarkeit des Menschen räumen wir jedem/r erst einmal das Recht ein,
eigenes Verhalten zu reflektieren, als falsch zu erkennen und zu verändern.
Sanktionieren kann mensch dann immer noch.
Zum „Täterschutz"
Der konkrete Vorwurf an unsere Gruppe war von
Anfang an der des „Täterschutzes".2 Wir halten es für wenig sinnvoll
alle Vorfälle des letzten Jahres noch einmal aufzuwärmen. Allerdings ist
festzustellen, daß der Begriff beliebig eingesetzt wird. Diskussionen und
kritische Auseinandersetzungen werden gleichgesetzt mit Abwehren und Abschirmen
von Kritik. „Täterschutz" ist das bewußte Nicht-zur-Kenntnis-nehmen,
das Negieren von Vorwürfen. Damit einher geht die Abwendung von Kritik an
sanktions- oder kritikwürdigem Verhalten.
„Täterschutz" ist nicht eine mit dem Ziel
der Einschätzung und möglicher Reaktionen geführte Diskussion eines Vorwurfs.
„Täterschutz" ist auch nicht, eine kritische Auseinandersetzung mit der
beschuldigten Person zu führen.
Es ist ebenso wichtig wie richtig genau zu diesem
Themenkomplex Diskussionen zu führen. Ein Schwerpunkt unseres politischen
Ansatzes ist die Jugendarbeit. Gerade deshalb müssen politische Positionen
vermittelt werden können. Eine Auseinandersetzung ist aber auch unabdingbar um
eigene Positionen weiterzuentwickeln.
Weiterhin ist „Täterschutz" nicht,
soziale Kontakte zu geouteten oder beschuldigten Personen fortzusetzen. Allein
die vorrangig in der „Szene" zur Verteidigung undifferenziertester
Repressionsmaßnahmen benutzte Argumentation, mensch müsse alle potentiellen
Opfer vor dem potentiellen Täter schützen, führt dies schon ad absurdum. Denn
ein effektiver Schutz ist wohl kaum der Ausschluß aus „unserer kleinen
Welt". Im Gegenteil unser Anspruch ist es gesellschaftliche
Lösungsvorschläge zu entwickeln und anzuwenden. Deshalb sollte es nicht
vorrangiges Ziel sein, die beschuldigte Person aus dem Einflußbereich
auszuschließen, sondern gerade die Möglichkeiten zu nutzen und soziale
Kontrolle auszuüben.
Unser Umgang
In der AAB besteht seit einigen Jahren eine
konkrete Regelung für das Vorgehen bei uns betreffenden Sexismusvorwürfen. Es
werden bei Bedarf Frauen- und Männer getrennte Plena abgehalten. Das
Frauenplenum hat bei allen Entscheidungen Vetorecht. Bei Sexismusvorwürfen
entscheidet allein das Frauenplenum.
Um Diskussionen führen und Entscheidungen
treffen zu können, müssen alle Gruppenmitglieder auf einen gemeinsamen
Informationsstand gebracht werden, Denn sobald von der Gruppe Konsequenzen
gefordert werden, ist eine Darstellung des Vorfalls unabdinglich. Um über die
jeweilige Verfahrensweise und damit einhergehende Sanktionen entscheiden zu
können, muß die Möglichkeit gegeben sein, die Tat einzuordnen. Dabei gilt es,
den Umgang damit für die betroffene Person so weit wie möglich zu erleichtern.
Maßgebliche Grundlage für alle Diskussionen ist die Darstellung der
betroffenen Person. Die Wahl der Form der Äußerung (schriftlich/mündlich
gegenüber Vertrauenspersonen in der Gruppe/...) bleibt immer der betroffenen
Person überlassen. Von der beschuldigten Person wird eine Stellungnahme
gefordert, in welcher Form wird von der Gruppe entschieden.
Es ist nicht zu leugnen, daß es verschiedene
Formen von sexistischen Verhaltensweisen und Übergriffen auch in der „Szene"
gibt. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die „Szene" kein
gesellschaftliches Subsystem ist, in welchem alle bereits alles klarhaben und
die besseren, quasi fertig-guten Menschen sind. In Bezug auf Rassismus ist dies
bereits seit Jahren auch bei der radikalen Linken eine allgemein anerkannte
Tatsache. Entscheidend ist unserer Ansicht nach die Einsicht, daß Menschen von
den Bedingungen unter denen sie aufgewachsen sind und leben geprägt werden,
aber auch veränderbar sind. Nur auf dieser Grundlage ist
revolutionäre/emanzipatorische Politik denkbar und machbar. Das geschieht nicht
von heute auf morgen, sondern in einem langen Prozeß. Und diese Veränderungs-
und Reflexionsprozesse werden auch vom jeweiligen Umfeld geprägt. Es gibt aber
auch Grenzen, an denen wir es nicht mehr leisten können oder es für falsch
halten weiterhin auf eine Person einzuwirken. Diese müssen klar vermittelt
werden.
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen"
(Adorno)
Antifaschistische Aktion Berlin
Berlin, Januar 2000
1) Wir schreiben im Text durchgehend
geschlechtsneutral, um die Verwendung des Gegensatzes von Frau = Opfer und Mann
= Täter zu vermeiden.
2) Unserer Ansicht nach, ist der Begriff „Täterschutz" problematisch, da
er im Sicherheitsdiskurs von rechts besetzt ist. So fordern die Republikaner im
Zusammenhang mit Sexualstraftätern: „Opferschutz muß wieder vor Täterschutz
gehen."
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