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  KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Extra zum Krieg - 16.10.1999 - Onlineversion

Manfred Sohn 

Ein Protektorat - und weiter ... 

Beitrag für Kalaschnikow, abgeschlossen am 17.07.99 
   
Die politische Regierungszentrale ist wieder in Berlin und von Berlin aus machen Herrschende das, was sie von dieser Stadt aus am liebsten machen: Sie dirigieren deutsche Militärstiefel in anderen Teilen der Welt.

Mit den deutschen Besatzungstruppen im Kosovo ist die Normalität in die deutsche Politik zurückgekehrt. Sie war unterbrochen einmal durch den Schwächeanfall von 1918 bis 1933 und zweitens durch die aus Sicht des Kapitals unerträglich langen Jahrzehnte der sozialistischen Herausforderung von 1945 bis 1989. Jetzt hat alles wieder seinen Platz: Deutschland ist die unbestrittene kontinentale Zentralmacht und ihr Zentrum ist Berlin, am östlichen Rand des Reiches. Damit sind auch die weiteren Aufgaben bestimmt - denn eine Hauptstadt gehört in das Zentrum, nicht an den Rand. Doch dazu später.

Im Kosovo ging es um Menschenrecht so wie es 1914 um einen Platz an der Sonne und 1941 um die Rettung des christlichen Abendlandes vor ging. Klar war, daß nach dem Krieg die Medienmaschinen zu seiner Rechtfertigung noch einmal aufheulten. Mit großer Mühe und großem Getöse wurden 7 Kinderleichen entdeckt - von denen Journalisten, die dafür Traumgehälter kassieren, sofort wußten, daß sie von Serben getötet wurden. Die sieben toten Kinder verklebten die Augen der guten Deutschen, deren Jungs von der Luftwaffe gemeinsam mit den guys der anderen NATO-Staaten mit ihren Bombern über Jugoslawien ein vielfaches an Kinderleibern aus der Luft zerfetzt hatten - und den Überlebenden die Schulen und Kindergärten in Klump gehauen haben.

Das Gelüge um die Menschenrechte ist an anderer Stelle hinreichend widerlegt worden. Helfen wird das wenig - die Platte war zu erfolgreich, um nicht bei nächsten Waffengang wieder aufgelegt zu werden.

Die Interessenlage in diesem Krieg

Der rechte Baron hat natürlich recht. Der Chefredakteur der „Wirtschaftswoche" mokierte sich im April über die moralische Aufgeblasenheit von Schröder, Fischer und Scharping und insbesondere über die Erklärung Schröders, im Kosovo ginge es um Menschenrechte und da sie nur eine Flugstunde von uns entfernt verletzt würden, könne Deutschland nicht tatenlos zusehen. Stefan Baron damals, am 15. April, süffisant: „Sind Menschenleben in Europa mehr wert als etwa in Afrika? Ab welcher Distanz können uns Massenvertreibungen gleichgültig sein? Zwei Flugstunden weit weg oder drei?" Und belehrend fügte er hinzu: „Die Argumente von Kanzler und Kollegen sind entweder naiv oder heuchlerisch. Als Grundlage für eine verläßlich deutsche Außenpolitik können sie keinesfalls dienen. Gerechte Kriege gibt es nicht, Staaten haben keine Moral, sondern Interessen."

Wo er recht hat, hat er recht. Welche Interessen also spielten in diesem Krieg eine Rolle und wer hat sie wie weit durchgesetzt?

Die jugoslawische Führung hat es gegenüber dem Diktatversuch von Rambouillet immerhin geschafft, die NATO-Truppen aus dem jugoslawischen Kernland fern- und die eigene Armee intakt zu halten. Der Preis dafür ist der faktische Verlust des Kosovo. Ob er politisch akzeptabel ist, ob also die gegenwärtige Führung sich hält, wird das Volk entscheiden - so wie es in vier Wahlen bisher entschieden hat, Milosovic zu wählen. 

Im alten Bonn: Kein Jubel auf den Straßen, aber in den herrschenden politischen Kreisen. Sie haben ihre Feuerprobe bestanden. Die Bundeswehr ist wieder handlungsfähig. Das Trauma von 1945 beginnt zu weichen. Es ist vollbracht: Deutschland hat wieder ein Protektorat! Ein ganz kleines zwar nur, nur ein Stückchen einer Provinz eines Balkanlandes - aber aller Anfang ist halt schwer. Es ist das erste deutsche Protektorat nach der Kolonialzeit und nach der kurzen Sumpfblüte von 1939 bis 1945. 

Was war - um bei der Leitfrage von Herrn Baron zu bleiben - das Interesse der herrschenden Klassen Deutschlands an diesem Krieg? Es bestand und besteht vor allem darin, die Stellung als vorherrschende europäische Kontinentalmacht ein Stückchen auszubauen. Das ist gelungen. Es ist zwar nicht soweit gelungen, wie gehofft war, aber sie sind vorangekommen. Der deutsche Militärstiefel steht im Balkan.

Jenseits des Atlantiks ist der Jubel unüberhörbar verhaltener. Die Interessenlage der herrschenden Kreise in Washington, Denver und anderswo war ebenfalls klar: Der Kaukausus, der Nahe Osten und das Scharnier für beide, der Balkan, sind amerikanisches Interessengebiet. Sie sind es geostrategisch wegen der Rohstoffvorräte und -verbindungen und sie sind es, um dem europäischen Konkurrenten das Spielfeld Eurasien nicht zu überlassen. Im Kampf der imperialistischen Giganten sind die USA nicht der Angreifer, sondern der Verteidiger. Sie müssen nicht mehr die Nr. 1 werden, sie sind es und sie möchten es bleiben. Sie registrieren seit rund zwei Jahrzehnten ein ökonomisches Stärkerwerden der 1945 tief am Boden liegenden kapitalistischen Staaten Europas. Sie sahen, wie vor allem das deutsche Kapital den Gewinn aus dem Zerschlagen und Zusammenbrechen der realsozialistischen Staatengemeinschaft zog. Sie haben mit der EU einen in seinem Volumen und seiner Geschlossenheit erstmals gleichwertigen Konterpart und mit dem EURO eine Herausforderung des Dollars als der Leitwährung bekommen, deren Unentbehrlichkeit zum Handel in der Welt der Haupthebel war und ist, um die Wirtschaftskraft fremder Länder in die USA zu lenken und dort zu verwerten. Diesen Vorteil als Platzhirsch haben sie vor allem genutzt, um sich - unter Aneignung fremder Wirtschaftskraft - die gewaltigste Militärmaschine zu bauen, die die Menschheit bislang hatte. 

Vom Zaun gebrochen aber hat die Jugoslawien-Kriege Deutschland. Nur der Papst stand Kohl und Genscher bei, als am 23.12.91 Bonn Krotien und Slowenien anerkannte. Die UNO warnte, London warnte, Washington warnte. Der Jugoslawien-Vermittler Carrington erklärte öffentlich, das sei das „Signal zum Bürgerkrieg". Der Bürgerkrieg wurde internationalisiert, weil Washington diese Herausforderung Deutschlands begriffen hatte. Also gingen die Amerikaner mit ihrer stärksten Karte in das Spiel: der militärischen. Sie waren es, die die militärische Eskalation betrieben haben und einige Wochen sah es so aus, als würden die deutsche Zauberlehrlinge die Kräfte fürchten, die sie riefen. Als der Bodenkrieg angesichts der scheinbaren Wirkungslosigkeit der Bombardements immer näher rückte - trotz Bonner Widerstand immer wieder von Washington und London ins Gespräch gebracht -, da schien der aufstrebende deutsche Imperialismus Schiß vor der eigenen Courage zu bekommen. Tatsächlich hat die deutsche Diplomatie die herrschenden Kreise aus der drohenden Sackgasse herausgetrickst.

Die Kunst der Diplomatie im imperialistischen Zeitalter besteht bekanntlich darin, auch kleinste Haarrisse zwischen den Interessen handelnder Mächte und auch innerhalb der herrschenden Kreise dieser Mächte selbst auszunutzen. Hinsichtlich der USA lag dieser Haarriß zwischen der Bereitschaft, in dem Gerangel mit EUROland zwar auf die militärische Karte zu setzen, aber eben nicht voll, weil - trotz „Wüstensturm" - das Vietnam-Trauma noch sitzt. Das Hin und Her um die Apache-Hubschrauber zeigt unübersehbar, daß im Lager des stärksten imperialistischen Räubers heftig gestritten wurde, ob die ganze Macht in diesem Konflikt eingesetzt werden sollte oder nicht. Der Juniorpartner Großbritannien war da ebenso unübersehbar forscher. Wer einmal im „Imperial War Museum" in London war - dem Museum, in dem der britische Imperialismus nicht gequält, sondern stolz die Devotionalien aus 150 Jahren erfolgreicher Waffengänge zur Schau stellt - stößt als jüngste Abteilung eben nicht auf dem Scham Vietnam, sondern auf den Stolz des Falkland-Sieges. Der wird ausführlich zelebriert und jede britische Provinzbücherei ist voll von diversen Erinnerungsbüchern zu diesem Waffengang. Das Vermitteln eines Bodenkrieges bis in die eigene Bevölkerung hinein war in den USA anders als in Großbritannien zäh - unabhängig von der Entschlossenheit der Führung, es zu tun.

Das Verdienst der deutschen Diplomatie war - darin sind sich alle großen bürgerlichen Blätter einig - das Hereinholen „der Russen". Nun muß mensch sich sowohl auf linker wie auf serbischer Seite vor einem teilweise etwas nostalgisch verklärten Rußland-Bild hüten. Das ist eben heute weniger ehemalige sozialistische Hauptmacht als viel mehr der verarmte Rüpel, der sich in die Herrenrunde, zu der er wieder wie zu Zars Zeiten gehören möchte, notfalls selbst einlädt. Diese Macht Rußland ist nach wie vor groß in ihrer territorialen Ausdehnung und der Zahl ihrer Bevölkerung. Unter Zerschlagung sozialistischer Errungenschaften ist sie seit nunmehr bald zehn Jahren wieder eine kapitalistische Macht, deren herrschende Klasse mafiose Strukturen ausweist und die sich nur halten kann, weil sie vom Westen mit Krediten über Wasser gehalten wird, deren Rückzahlung sie durch weitere Auspressung ihres Volkes zu garantieren hat. Sie ist insofern eine labile Macht. Aber sie hat eine Mitgift der von dieser Klasse erdolchten sozialistischen Mutter: die Atomwaffe und zumindest die Reste einer Armee, die gelernt hat, wie Kriege geführt werden und deren Generalstab das nach wie vor kann - davon zeugt der Fallschirmspringer-Coup in den Kosovo hinein.

Nachdem Deutschland also zunächst, als die Bomber von der Leine gelassen wurden, das Spiel mitgespielt hat, die NATO anstelle der UNO zu setzen und damit Rußland (und China) an den Rand zu spielen, hat es Rußland als Rettungsanker benutzt, um den drohenden Bodenkrieg abzuwenden. Mit Baron gefragt: Welche Interessen hat Rußland? Die herrschenden Kreise dieses labilen Landes wissen, daß sie das nächste Spielfeld sind, wenn die Sache mit Jugoslawien durch ist. Es geht um den Kaukasus - ihren Kaukasus. Auch Rußland ist nicht der versoffene Jelzin allein. Nüchtern betrachtet liegt die beste Politik auf der Hand: Je intensiver und länger auf dem Balkan und damit auf Kosten der Balkanvölker herumscharmützelt wird, desto mehr Zeit hat das Land bis zum direkten Griff zu seinen Ressourcen. Also hat Rußland die Einladung Deutschlands, sich doch wieder einzumischen, dankend angenommen, hat Diplomaten und am Schluß auch Teile seiner einst ruhmreichen Armee geschickt.

Die amerikanische Supermacht steht unübersehbar verdrossen neben der Taschenspielerrunde aus Deutschen, Eurokraten und Russen. Das Hereinholen oder -kaufen der Jelzin-Russen und das Aufweichen der Kapitulations-Linie von Rambouillet hat Belgrad den Rückzug ermöglicht und so Bonn vor der Nagelprobe Bodentruppen bewahrt. Und so stehen im Kosovo jetzt nicht - wie im Bodenkriegs-Fall - nur amerikanischen und britische Truppen, sondern eben auch italienische, französische deutsche und russische - wo auch immer. Das nennt mensch „unentschieden". 

Unentschieden ist nicht Sieg und das Spiel um die imperialistische Weltherrschaft nach der historischen Niederlage des Sozialismus von 1989 hat erst begonnen. 

Der Kosovo wird Kräfte binden und dem jungen deutschen Neoimperialismus noch viel Freude machen - das gilt vor allem angesichts der neuen Kumpel von der UCK. Die Krisenreaktionskräfte, die die Bundeswehr zur Zeit erst noch bildet, werden erst mal überwiegend in den Balkan wandern. Für weitere Aufgaben - etwa im Kaschmir-Konflikt, deren Mithilfe bei der Beilegung die G 8 - Runde bereits angedroht hat - stehen sie nicht zur Verfügung. Vermutlich wird es eine längeres deutsches Engagement auf dem Balkan geben. 

Die Formierung der Blöcke

Der Kosovo ist nur eine Etappe auf dem Weg der sich herausbildenden Konfrontation innerhalb des NATO-Lagers. Die NATO startete bekanntlich im April 1949 - damals noch ohne Deutschland - mit dem Hauptauftrag, durch Totrüsten und notfalls Krieg das alternative Gesellschaftssystem, den Sozialismus, in Europa zu vernichten. Nachdem das gelungen ist, treten die alten Wesensmerkmale des Imperialismus wieder zum Vorschein. Das aber bedeutet: die imperialistischen Staaten und Staatengruppen, vor allem USA und EUROland, streiten jetzt erneut um ihre Einflußzonen.

Die NATO gewinnt damit seit 1989 ein Doppelgesicht, das sich in den letzten Jahren immer deutlicher ausgeprägt hat und seit Kosovo eigentlich unübersehbar ist: Sie ist einerseits das gemeinsame Schild, hinter dem die imperialistische Länder in die ehemals sozialistisch organisierten Räume vordringen. Zweitens aber verstärkt sich hinter diesem Schild das Gerangel um die Frage, wer unter den imperialistischen Gruppierungen künftig das Sagen haben soll. 

Dieser Fahrplan der zunehmenden Konfrontation ist klar und offiziell verkündet: 

Handelsblatt, 4.1.99: Clinton schlägt vor, daß der US-Militärhaushalt in den nächsten sechs Jahren um 100 Milliarden Dollar aufgestockt werden soll - die damals verkündete Aufstockung von 12 Milliarden allein für das Haushaltsjahr 99/00 dürfte inzwischen nach oben korrigiert worden sein.
Handelsblatt, 20.1.99: British Aerospace fusioniert mit dem britischen Marconi-Konzern. Deutschlands und Frankreichs Rüstungsindustrielle reagieren spitz. Die geplante Fusion sei ein Hindernis für die europäische Integration in der Luftfahrtindustrie, betont ein Dasa-Sprecher. Das französische Unternehmen Thomson-CSF kritisiert, es werde eine „Festung England" geschaffen.
Handelsblatt, 12.5.99: Jugoslawien wird noch bombadiert, da verkündet in Vorbereitung des Kölner Gipfels Scharping, „die Europäer" - welche genau, sagt er nicht - müßten „die Fähigkeit erwerben, auch ohne Eingreifen der Amerikaner mit Krisen wie der im Kosovo umzugehen." Herr Solana ist die Personifizierung und die WEU die Materialisierung dieses Versuchs. 

Die Welt, die scheinbar nach 1989 multipolar geworden war, gruppiert sich also nach ihren inneren , von Lenin und Luxemburg um die Jahrhundertwende analysierten Gesetzen in zwei Pole. Recht haben damit übrigens auch die japanischen Genossen, die das in der deutschen Linken liebgewonnene Bild von der „Triade" USA-EU-Japan nie geteilt haben. Angesichts der durch Asienkrise und die neuen Militärrichtlinien USA/Japan noch enger geknüpften Verbindungen zwischen Washington und Tokio zeichnet sich in der Tat immer deutlicher ab, daß die Kerne innerimperialistischer Widersprüche die Dreiergruppen USA/Großbritannien/Japan einerseits und Deutschland/Frankreich/Italien andererseits sind. 

In diesem beginnenden Spiel ist Deutschland der Herausforderer und der Haupt-Kriegstreiber. Imperialismus bedeutet den Weltkriegszustand in Permanenz. Dieser permanente Weltkriegszustand hat - wie ein Gebirge Berge hat - Höhepunkte, die wir uns angewöhnt haben, Weltkriege zu nennen: also die Phasen 1914/18 und 1939/45. Davor, dazwischen und danach war das dominierende das Kräftesammeln, der Kampf um Positionsgewinne mit nichtmilitärischen Mitteln und das Austragen sogenannter kleinerer Kriege. Zu diesen kleineren Kriegen - die für die Beteiligten, ihr Kinder und Kinderskinder immer die zentrale Katastrophe des Lebens sind - gehört der hinter uns liegende Kosovo-Krieg. 

Der Kampf zwischen den Höhepunkten ist nicht militärisch dominiert. Das - aber mehr auch nicht - ist der Grund dafür, daß es zur Zeit keine akute Weltkriegsgefahr gibt. Das dritte große Gemetzel ist im Anmarsch, aber es steht noch nicht direkt vor der Tür. 

Die Hauptstraße der deutschen Herausforderung ist noch (!) nicht die militärische. Es ist die ökonomische. Das Etappenziel heißt Euro. Im Kern ist das die Herstellung des D-Mark-Blocks unter Einbeziehung der französischen und italienischen Bourgeoisie. Damit haben die herrschenden Monopole zwischen Rhein und Elbe die Ziele von 1915 (bzw. 1940) mit ein paar Jahrzehnten Verspätung erreicht. In vatikanischen Zeitspannen gedacht: eine Verspätung von vier, fünf Generationen - also Lappalien. Die Herstellung einer von Frankfurt gesteuerten Einheitswährung ist ein gewagter und großer Schritt. Der Vorkrieg, in dem wir leben, spielt sich vor allem um die Frage ab, ob diese Währung den Dollar als Weltleitwährung ernsthaft gefährden kann oder nicht. Die Prognose sei hier gewagt: Wenn der Euro den Dollar real bedroht, dann haben wir den Vorabend des dritten Weltkrieges erreicht und wenn es den USA gelingt, England auf seiner Seite zu halten, wird er europäisch beginnen. 
Weil der Kosovo ein Vorfeldkrieg war, ist aus amerikanischer Sicht sein Hauptkollateral-Erfolg auch die Tatsache, daß mit ihm der Euro vom Start weg und im wahrsten Sinne des Wortes unter Feuer genommen werden konnte und einige Wunden davongetragen hat. Die Setzung der Startposition durch die herrschenden Kreise Kontinentaleuropas ist willkürlich: die Parität Euro zu Dollar hätte genausogut 5:1 oder 1:5 oder irgendetwas anderes sein können. Daß sich der Euro dem Dollar mit einem Kurs knapp über 1 direkt vor die Nase setzt, ist ein Element psychologischer Kriegsführung gewesen - mit der strategischen Aufgabe, den Abstand zu vergrößern. Nun mag der zweimal geschlagene deutsche Imperialismus pfiffig sein, seine Gegner in Washington und London, die ihm zweimal die Knochen im Leib zerbrochen haben, sind keine Pappergreise, haben die Herausforderung angenommen und drücken zur Zeit den Euro in Richtung der psychologischen Marke 1:1. Das ist der jetzige Spielstand. 

Nun sind die Herrschenden in Deutschland nicht bekloppt und sie können rechnen. Das Bruttosozialprodukt betrug 1996 für die USA, Japan und Großbritannien rund 13,6 Billionen Dollar, für Deutschland, Frankreich und Italien zusammen nur knapp 5 Billionen Dollar. Mit diesem Kräfteverhältnis kann man keinen Krieg gewinnen. Zu dieser quantitativen Unterlegenheit kommt die entscheidende qualitative: Euroland hat - bis auf Frankreich - keine ordentliche Atomstreitmacht und sie haben im Weltraum nichts zu melden. Keine herrschende Klasse ist so erfahren wie die deutsche in der Suche, aus der Position des Unterlegenen heraus zu siegen. Sie waren 1914 gegenüber England unterlegen und sie waren es 1941 gegenüber den Alliierten zahlenmäßig ungefähr genauso kraß wie das heutige Kräfteverhältnis von 14:5. Dies ist im übrigen auch der Hauptgrund für die besondere deutsche Aggressivität: Wer sich schwächer wähnt, muß das durch das Überraschungsmoment und Rigorosität auszugleichen versuchen. Also brach 1914 Deutschland Belgiens Neutralität und erfand 1939 das Blitzkriegs-Konzept. 

Die nächsten Ziele

Die herrschenden Kreise an Rhein und Main haben aus den Lektionen I und II gelernt, daß sie geduldiger an den Voraussetzungen arbeiten müssen, bevor sie die Herausforderung offen aussprechen. Dieses Arbeiten an den Voraussetzungen geschieht auf folgenden Ebenen:
Völlige Unterwerfung aller kontinentaleuropäischen Ressourcen durch die Schaffung der Einheitswährung
Einbeziehung Osteuropas in die Eurozone
Etablierung des Militärischen als allgemein akzeptiertes Element der Politik
Langsamer Aufbau einer eigenständigen kontinentaleuropäischen Militärstreitmacht mit Weltraum- und Atomkomponente.
In der Perspektive Herstellung der Parität zum angelsächsischen Block durch Einbeziehung Rußlands und mindestens Neutralisierung Chinas und Japans.

Das ist die strategische Grundlinie, an der unübersehbar gearbeitet wird. Richtung Osteuropa ist ein Rennen im Gang: Wer entfaltet mehr Integrationskraft: Die NATO als der militärische Arm der USA oder die EU als der ökonomische Arm Deutschlands? Zur Zeit sieht es so aus. als ob die Ostausdehnung der EU gelingt. Das wäre nach der Etablierung der militärischen Komponente durch den Kosovo-Konflikt ein weiterer Schritt in Richtung auf den großen Krieg. Denn für die Veränderung des oben genannten ungünstigen Kräfteverhältnisses gibt es einen Schlüssel: Moskau. Noch einmal: Diese herrschende Klasse ist nicht lernunfähig. Das Konzept 1941 war: Rußland besiegen, seine Ressourcen einverleiben und dann die USA herausfordern. Das Konzept 1999 ist: Rußland zum Verbündeten machen, so seine Ressourcen einverleiben und dann die USA herausfordern.
Dieses veränderte Konzept erklärt auch den Umgang mit Königsberg. In wenigen Jahren wird - wenn nicht ein Wunder geschieht - die Region um Kaliningrad (früher nördliches Ostpreußen) gänzlich von EU-Gebiet umschlossen sein. In diese Region fließen Millionengelder aus dem Westen. BMW baut dort bald Autos, es gibt ein Deutsch-Russisches Haus und mit DM- (bald EURO-)Hilfe siedeln sich immer mehr Rußlanddeutsche aus Kasachstan dort an. Aber: „Gerade auch die Rußlanddeutschen haben viel zur Normalisierung beigetragen. Versuche bundesdeutscher Rechtsradikaler, sie als Vehikel einer „Re-Germanisierung" der Region zu mißbrauchen, sind gescheitert.". Die rechten Kettenhunde werden von den Herrschenden nicht von der Leine gelassen - noch nicht. Dazu steht zuviel auf dem Spiel: Neben den ungünstigen wirtschaftlichen Vergleichszahlen muß Euroland vor allem militärisch gleich ziehen. Dazu aber ist das russische Potential unentbehrlich. Es ist sozusagen das Wertvollste, das die Sowjetunion ihren Bezwingern hinterlassen hat. Es ist völlig klar: Euroland kann die USA nicht ernsthaft herausfordern, bevor es nicht selbst
a) militärisch geschlossen handlungsfähig ist - deshalb die WEU
b) Positionen im Weltraum aufbaut - deshalb die Planung, 70 Milliarden DM in ein EU-Satellitensystem zu investieren, um nicht mehr (wie im Kosovo-Krieg) vom US-System GPS abhängig zu sein und deshalb der Versuch die Russen als nach wie vor führende Weltraumnation Europas einzubeziehen
c) Atommacht ist - deshalb erstens der Nichtausstieg aus der Atomenergie, zweitens die Vasallentreu zu Frankreich und drittens das Hereinnehmen der Russen in den Kosovo als deutsche Herzens-Angelegenheit

Wenn es dann noch gelingt - Kontakte dazu hat es in den letzten Monaten gegeben - eine Art Verbund EURO/Yen gegen den Dollar zu schaffen und China mindestens neutral zu halten, könnte das Spiel, das 1914 und 1939 schief lief, Anfang 2000 klappen. Denn mit Japan und Rußland an der Seite wäre das ökonomische Kräfteverhältnis gegenüber USA und England ungefähr 9:10 zugunsten von Euroland/Japan und dann kann Mann tief Luft holen und den Fehdehandschuh werfen.

Die innere Front

Den vielleicht wichtisten Sieg haben die Herrschenden im eigenen Land erzielt. Abgesehen von den ersten Schreckminuten direkt nach dem 24. März hat es hier keinen Moment eine ernsthafte Aussicht auf eine machtvolle Antikriegsbewegung gegeben. Das liegt nicht an den linken Organisationen. Angesichts ihrer gegenwärtigen Schwäche war die Schnelligkeit bewundernswert, mit der nicht nur in größeren Städten, sondern praktisch in allen Orten bis zur Kreisstadt-Größe hinunter überall Protestkundgebungen, Infostände und andereres organisiert wurden - oft buchstäblich über Nacht, während die anderen Deutschen gegen Belgrad flogen. Aber es ist den Herrschenden unbestreitbar gelungen, diese linken Kern zu isolieren. In Berlin demonstrierten am 8. Mai gegen den Krieg eben nicht 300.000 oder 3 Millionen, sondern nur 30.000 - großzügig gezählt. Ohne Zweifel hat daran einen großen Anteil die Tatsache, daß es eine SPD/GRÜNE-Regierung war, die den Krieg anführte. Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, jeden Sozialdemokraten und jeden Grünen dafür zu prügeln. Wer fremde Länder bombardiert, ist kein Linker und hat keinerlei Schonung verdient. Aber dieses Prügeln wird die Probleme wahrscheinlich nicht lösen. Sie liegen tiefer. 

Bertolt Brecht hat in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen" - also an uns - von der Verzweiflung geschrieben, „wenn da nur Unrecht war und keine Empörung". So ist das heute, 1999, ja auch: Da ist Unrecht und zuwenig Empörung. 
1939 - da gab es gegenüber dem Krieg kritischere, ängstlichere Gesichter, weil die Deutschen ja an ihre Blumen von 1914 und dann ihren Hunger von 1917 und ihre Tränen von 1918 dachten. Aber zwei Jahre später schon verzweifelten viele treue KPD-Genossen, die gegen den Krieg aufrütteln wollten und feststellten, daß nicht nur der Terror ihre Bewegung klein hielt, sondern daß ihr ärgster Feind die Illusion war, der Krieg brächte letztlich doch etwas ein. Denn gegenüber der Zahl der deutschen Gefallenen - die bis 1940 ungefähr die Größenordnung der heutzutage im deutschen Straßenverkehr getöten Menschen hatte - fiel auf die andere Seite der Waage das, was Brecht in dem Lied „Und was bekam des Soldaten Weib?" beschrieb: „Aus Warschau bekam sie das leinene Hemd... Aus Oslo bekam sie das Kräglein aus Pelz... Aus Brüssel bekam sie die seltenen Spitzen... Aus Paris bekam sie das seidene Kleid...Aus Tripolis bekam sie das Kettchen." Entsprechend war die Stimmung im Land und die Kommunisten gerieten in den Schraubstock zwischen Staatsterror und der benebelnden Wirkung Brüsseler Spitzen. Brecht schrieb dieses Lied 1942 und deshalb hatte es eine letzte Strophe: „Und was bekam des Soldaten Weib aus dem weiten Russenland? Aus Rußland bekam sie den Witwenschleier."

Da aber die Situation eben noch nicht so weit ist, daß die Stimmung kippt, werden die nächsten Jahre schwer, sehr schwer werden. Und es ist nicht sicher, ob wir, die Nachgeborenen (und vor allem unsere Kinder) nicht so wie Brecht werden leben müssen, „öfter als die Schuhe die Länder wechselnd". Viel Hoffnung, daß uns die Flucht in eines der angelsächsischen Länder, die schon zweimal den moderaten gegen den aggressiven Kapitalismus verteidigt haben, erspart bleibt, ist nicht. 

Eine der wichtigsten Aufgaben wird es sein, den Blick auf den Hauptfeind im eigenen Land zu richten. Am alarmierendsten ist in den letzten Monaten noch nicht einmal die Perversion, mit der versucht worden ist, die antifaschistischen Traditionen für die Kriegspropaganda einzuspannen. Alarmierender ist das Anblasen des Antiamerikanismus von rechts. Ob Augsteins „Madeleins Krieg" oder das weite Öffnen des FAZ-Feuilletons für alle Arten der US-Kritik: da werden Fundamente gegossen für die kommenden Lügengebäude. Dies ist deshalb so gefährlich, weil seit dem Vietnam-Krieg die deutsche Linke quasi den Antiamerikanismus mit der Muttermilch eingesogen hat. Dies beinhaltet ein enormes Mißbrauchspotential und die Herrschenden werden es zu nutzen wissen. Es wird schwer werden, aber wenn wir das folgende nicht vermitteln, werden wir noch nicht einmal den Hauch einer Chance haben, den dritten Weltkrieg abzuwenden: Unsere Hauptfeinde sind nicht die Yankees, sondern die Preußen. Der Gegner sitzt nicht in Washington. Er sitzt in Berlin.

abgeschlossen am 17.7.99

 
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