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KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 7 - 20.04.2001 - Onlineversion

Lutz Getzschmann

Arbeit und Klassenbewußtsein im Kapitalismus des 21.Jahrhunderts




1. Der Abschied der Linken vom Proletariat

In letzter Zeit ist innerhalb unterschiedlichster Kreise der Linken eine Debatte über Grundfragen des Begriffs und der Bedeutung von Lohnarbeit und Perspektiven der Aufhebung der Lohnarbeitsgesellschaft entbrannt. Diese Diskussion, die zeitweilig vor allem um die Forderung eines garantierten Grundeinkommens kreiste, könnte für jene politisch marginalisierten Gruppen, deren Praxis immer noch auf die Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse gerichtet ist, Bestandteil einer Vorstufe zur Initiation einer neuen klassenorientierten sozialen Bewegung sein, die emanzipatorische Ziele und Werte der „alten“ Arbeiterbewegung in sich aufnimmt und in gründlich modernisierter Form weiterträgt. Allerdings muß die Debatte zunächst von den beträchtlichen akademischen Verkrümmungen und Verwirrungen befreit werden, von denen die selbsternannten „Existenzgeld“-Lobbyisten offensichtlich geprägt sind. Während die „neuen sozialen Bewegungen“ der achtziger Jahre in ihrer großen Mehrheit eher die Ausblendung der Ökonomie aus dem politischen Raum betrieben haben und ihre Zerfallsprodukte in den Neunzigern sich als Konkursverwalter einer geschlagenen Linken gerieren, die verlernt hat, in historischen Kategorien sozialer Verhältnisse zu denken, scheint es so, als würden nun wieder verstärkt Anstrengungen unternommen, materialistisches Denken und Elemente der radikalen Kritik der herrschenden politischen Ökonomie zurückzuerobern. Daß diese Diskussion nicht allerorten in den Reststrukturen der radikalen Linken geführt wird, sondern in der Regel eher in kleinen isolierten Zirkeln, muß nicht gegen eine solche optimistische Einschätzung sprechen. Heute ist es offensichtlich weniger denn je entscheidend, wie breit und spektakulär eine Debatte geführt wird, wichtiger ist, wie substantiell ihr Gehalt ist, inwiefern sie Pfade aus dem Labyrinth der Ratlosigkeit freischlägt und Brückenköpfe zwischen Theorie und Praxis errichtet. In diesem Falle handelt es sich konkret um die Aufgabe, mithilfe der Rekonstruktion des marx´schen Arbeitsbegriffs zum einen einen diskutierbaren Ansatz zur Kritik der Lohnarbeit und der warenförmigen Produktion zu schaffen und zum anderen die Theorie anzudocken an die Praxis der TheoretikerInnen, d.h. an ihre gesellschaftliche Situiertheit in den Klassenverhältnissen. Dafür könnten gute Aussichten bestehen, wenn es gelänge, die zerklüfteten Lebenslagen der Beteiligten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, d.h. das Knäuel von Beschäftigungsverhältnissen und Überlebensstrategien von Working Poor über gesichertes Normalarbeitsverhältnis, befristeten Arbeitsverträgen (Selbstausbeutung inklusive), Teilzeitbeschäftigungen, Erwerbslosigkeit und Sozialhilfebezug bis zu studentischen Billigdienstleistern auf ihren Kern als, teilweise pauperisierte Modernisierungsverlierer, teilweise qualifizierte Modernisierungsgewinner, in jedem Falle aber Fragmente einer von drastischen Umbrüchen und Neuzusammensetzungsprozessen gekennzeichneten Arbeiterklasse zurückzuführen, die mit dem Niedergang der alten Industrien und fordistischen Produktionsformen in den imperialistischen Metropolen ihre ständischen Organisationsweisen und kollektiven Bewußtseinsformen abstreift (oder sie vielmehr mit brachialer Gewalt abgestreift bekommt) wie eine zu eng gewordene Haut und allmählich als das in Erscheinung tritt, was sie in einem solchen Stadium notwendigerweise zunächst nur sein kann: Arbeiterklasse im höchsten denkbaren Maße an sich, atomisiert, zerrissen, bewußtlos, jedes einzelne Individuum in ein permanentes Konkurrenzverhältnis zum Anderen gesetzt.

Die Fragmentierung aller Lebensbereiche und Bewußtseinsfelder, die in den letzten Jahren gesamtgesellschaftlich immer deutlicher zu Tage tritt, hat längst auch die bundesdeutsche Restlinke ergriffen, deren Protagonisten eben den gleichen Prozessen unterworfen sind, wie alle anderen auch. Es gibt kein gemeinsames Projekt mehr, auf das sich unterschiedlichste Strömungen, Fraktionen und Interessengruppen beziehen würden, was es gibt ist eine Vielfalt der Nischen, in denen es sich scheinbar teilweise recht behaglich überwintern läßt. Das „Projekt“ Klassenkampf, das der klassische gemeinsame Kristallisationspunkt und Bezugsrahmen war, scheint, so eine allgemein verbreitete Sichtweise, durch die Integration weiter Teile der Arbeiterklasse in der Periode des Fordismus obsolet geworden zu sein und wurde auch konsequent mit dem Bezug auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt von wesentlichen Teilen der radikalen Linken zu Grabe getragen. Insofern mutet die heutige Debatte, die an den Randbereichen bürgerlicher Publizistik auch unter dem Leitmotiv „Ende der Arbeitsgesellschaft“ geführt wird, wie eine radikalisierte Neuauflage der Trends der siebziger und frühen achtziger Jahre an, die weitgehend den Ausgang aus der Industriegesellschaft postulierten und mit dem Verweis auf boomende Dienstleistungsbranchen und permanent neu entstehende Sektoren nicht industriell produzierender Ökonomien den „Abschied vom Proletariat“ gekommen sahen.

Ein Herausspringen aus der im Fluß befindlichen Klassenstruktur jedoch ist einerseits heute weniger denn je möglich und andererseits ein beliebter sozialpsychologischer Reflex gerade von proletarisierten Mittelklassenlinken (die, machen wir uns da mal nichts vor, den Kern der verbliebenen antikapitalistischen Gruppen und Strömungen in der BRD ausmachen). Die Proletarisierung von Klassensegmenten, die bisher noch den Schein einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber dem Kapitalverhältnis aufrechterhalten konnten, schreitet im Strudel der kapitalistischen Modernisierung immer weiter voran und bringt eine Fülle von Bewußtseinsformen, zunächst aber vor allem ideologischer Abwehrreaktionen hervor. Davon sprach auch schon vor ein paar Jahren Karl-Heinz Roth, wenn er auf die Gefährlichkeit dieses Mechanismus hinwies,

„weil sich inzwischen viele Linke aufgrund der neuesten Proletarisierungstendenzen selber in den unteren und „prekär“ gewordenen Segmenten der deregulierten Arbeitsmärkte wiederfinden. Ich halte das für ein paradoxes Phänomen, das möglicherweise die zunehmende Fremdheit der Linken gegenüber einer in die Reproletarisierung getriebenen Arbeiterklasse erklärt. Wir sind selbst zunehmend Objekt dieses Prozesses und flüchten uns vielleicht gerade deshalb auf metaphorische Ersatzebenen, um die eigene reale Verelendung zu verdrängen. Gerade weil sie immer häufiger den eigenen Alltag beherrschen, können die unreflektiert hingenommenen neuen Proletarisierungsprozesse dann bei vielen von uns nur noch mit Hilfe von Angstmechanismen beantwortet werden.“1


2. Verallgemeinerung, Ausdifferenzierung und Fragmentierung der Lohnarbeit

Die „Arbeitsgesellschaft“ ist, entgegen den gewagten modischen Thesen jener Autoren noch lange nicht an ihr Ende gekommen, zumal offensichtlich nicht ganz klar ist, wie die Propagandisten der Freizeitgesellschaft den Begriff Arbeit überhaupt definieren. Deshalb sei hier zunächst nur als kurze Gedächtnisstütze daran erinnert, daß die letzten menschlichen Gemeinschaften, die ohne „Arbeit“ auskommen konnten, vor vielleicht etwa 20.000 Jahren existierten und daß ein Verschwinden der Arbeit nur denkbar ist als Verschwinden des Menschen als denkendem und tätigem Wesen von diesem Planeten. Konkret:

„Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung um sich den Naturstoff in einer für ihn brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihm schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten, tierhaften instinktmäßigen Formen der Arbeit zu tun. (...) Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen vielleicht manchen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt, er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß.“2


Arbeit in diesem Sinne ist eine Grundeigenschaft menschlicher Entwicklung und kann nicht so ohne weiteres verschwinden, genausowenig, wie sie, gemäß den Forderungen einiger Autoren und Gruppen gemäß einfach „abgeschafft“ werden kann. Der Verweis auf diese Tatsache mag banal klingen, scheint aber durchaus nicht ganz selbstverständlich zu sein, da ganz offensichtlich Autoren wie Robert Kurz als Alternative zu „Arbeit“ immer nur Müßiggang sehen können, nicht aber Arbeit jenseits des Bezugsrahmens der warenproduzierenden Gesellschaften. Wenn also in bestimmten neueren Publikationen beständig vom „Ende der Arbeit“ die Rede ist, denke ich nicht, daß es sich dabei um einen, durch Gewohnheit mitgeschleppten Formulierungsfehler handelt. Mitunter ist auch, konkreter vom „Ende der Lohnarbeit“ die Rede. Auch diese steile These aber ist, wenn man versucht, sie an größeren Zeitabschnitten zu überprüfen, kaum haltbar. Selbst wenn wir uns an den arbeitsrechtlichen Begriff der abhängigen Beschäftigung halten, ist diese, die stattgefundenen Strukturveränderungen mitberücksichtigt, dominierend. Es ist festzustellen, daß die Lohnarbeit sich im Laufe des 20. Jahrhunderts beständig ausgedehnt hat und zwar nicht nur in absoluten Zahlen von Erwerbstätigen, sondern auch prozentual gegenüber den verschiedenen Varianten „selbständiger“ Arbeit. Konkret für Deutschland: Waren nach Zahlen, die Joachim Bischoff nennt, 1882 noch 36% der Erwerbstätigen Selbständige, also in der Regel auch Besitzer ihrer Produktionsmittel, und 64% Lohnabhängige, so waren 1987 nur noch 13% selbständig und 87% in Lohnarbeitsverhältnissen (mithelfende Familienangehörige der Selbständigen mitgerechnet).3 Besonders aufschlußreich ist dabei der Rückgang jener mithelfenden Familienangehörigen, deren unbezahlte Arbeitskraft in den kleineren selbständigen Wirtschaftseinheiten (Handwerk, Gewerbetreibende, Landwirtschaft etc.) oft das Rückgrat der Produktion ausmachten. Diese ging in der BRD zwischen 1950 und 1978 von drei Millionen auf gut eine Million zurück. Schmidt4 gibt für 1882 einen Selbständigenanteil von 25,6% an, von 13,4% für 1939 und schließlich einen Tiefstand von 9% im Jahr 1980. Auch angesichts der unterschiedlichen Zahlenangaben ist der Trend wohl eindeutig. In den letzten 20 Jahren allerdings ist der Anteil der Lohnabhängigen wieder leicht gesunken. Zwischen 1978 und 1998 stieg die Zahl der Selbständigen in der BRD von 2,3 auf 3,6 Millionen (davon rund 600.000 in der ehemaligen DDR). Das Phänomen, das in den neunziger Jahren sich massiv ausgeweitet hat, wird allgemein „neue Selbständigkeit“ genannt, wobei die betreffenden Erwerbstätigen mit den „alten“ Selbständigen früherer Zeiten nur oberflächliche Gemeinsamkeiten haben

„Die Erwerbsgesellschaft unserer Tage, deren Kennzeichen lange Zeit die unaufhaltsame Ausbreitung des Arbeitnehmertums zu sein schien, kennt neuerdings eine ähnlich breitgefächerte Palette von Selbständigen. Sie reicht von rasend schnellen Fahradkurieren über Programmierer am heimischen Computer bis zu Ausländern, die in Lokalen langstielige Rosen oder batteriebetriebene Spielzeuge verkaufen. Nicht zu vergessen die Vermittler von Altersversorgungsmodellen, die in einem Call-Center agieren, die polnischen Kindermädchen oder Putzfrauen, die in Zeitungsannoncen ihre Dienste anbieten und schließlich auch jene Gruppe, die sich derzeit der größten publizistischen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit erfreut - die Existenzgründer von biotechnologischen Laboren oder Internetdiensten, von Fitnessstudios oder Preisagenturen, von Restaurants für Vollwertkost oder Ingenieurbüros für Lasertechnologie. Der säkulare Trend der stetig abnehmenden Bedeutung von Selbständigkeit ist nicht nur zum Stillstand gekommen, sondern weist seit geraumer Zeit wieder eine leichte Zunahme auf.“5


Etwa 46% dieser Selbständigen sind Ein-Personen-Betriebe, , weitere 42% beschäftigen einen bis 4 Mitarbeiter und lediglich 12% sind größer. Über das Ausmaß an Scheinselbständigkeit kursieren, je nach Definition, unterschiedliche Zahlen. Zumindest aber kann wohl festgestellt werden, daß ein großer Teil der „neuen“ Selbständigen nur sehr eingeschränkt als „Unternehmer“ zu bezeichnen ist, bei vielen sind ähnliche Arbeitsstrukturen vorhanden wie bei formellen Lohnarbeitern, nur ohne die im fordistischen „Normalarbeitsverhältnis“ bestehenden sozialen Absicherungen. Was aber einen nicht unwichtigen Unterschied zu den „alten“ Selbständigen ausmacht, ist, daß sie überwiegend die Funktion von Zulieferbetrieben für die „entschlackten“ Großbetriebe wahrnehmen und von diesen teilweise stark abhängig sind.6

Vergessen wird meist in den Darstellungen der sich angeblich auflösenden Arbeiterklasse der informelle Sektor. Gerade das Ausmaß der Informalisierung von Arbeitsverhältnissen die als solche inzwischen nach einigen Schätzungen 15% aller Beschäftigung ausmachen (Diettrich: je nach Untersuchung 4% bis 30% des Bruttosozialproduktes der westlichen Industriestaaten7) kann als Indiz für den richtigen Kern der von K.H. Roth vorgetragenen und von verschiedensten Seiten heftig kritisierten These von der weltweiten Nivellierung von Klassenlagen im Rahmen der entgrenzten Radikalisierung von Ausbeutungsverhältnissen interpretiert werden. Denn zumindest in den letzten Jahrzehnten war Informalität von Arbeitsbeziehungen in erster Linie ein Kennzeichen des Trikont, wo „bis zu neun Zehntel der Arbeitskräfte im informellen Sektor tätig“8 sind.9 Informelle Arbeit ist in der Regel prekarisiert und entbehrt jedes üblichen Sozialstandards.

Insgesamt kann also festgestellt werden, daß heute auch in den imperialistischen Metropolenländern mehr denn je gearbeitet wird, wobei es eben entscheidend wäre, zu untersuchen, wie sich die Formen der vergesellschafteten Arbeit verändert haben, die mit der fordistischen Produktionsform in weiten Bereichen nicht mehr viel zu tun haben, die angelegt sind auf Deterritorialisierung der Arbeit, die partielle Entgrenzung und Auflösung der Fabrik als Produktionsort und in den privilegierteren Dienstleistungsbereichen ihre Ersetzung durch den privaten Computer als zentralem Produktionsmittel des modernen High-Tech-Proletariers. Die Individualisierung des Produzenten, der sich selbst nicht mehr in Austauschbeziehung zu anderen Lohnabhängigen wahrnimmt, dessen Beschäftigungsverhältnis auf Flexibilität hin orientiert ist, der für die Verwertung seiner Arbeitskraft unter Einschluß der durch das Kapital usurpierten geistigen Potentiale permanent verfügbar ist, gerade weil seine Arbeitszeit in der Regel nicht durch ein starres Schichtsystem definiert wird, gerade weil es keine Rückzugsmöglichkeit vor der virtuellen Fabrik mehr gibt, eine innere Distanzierung von seiner Lohnarbeit heute für den am heimischen Schreibtisch arbeitenden Softwareentwickler heute genausowenig mehr möglich ist, wie in vergangenen Zeiten für den Schriftsteller, den Philosophen oder „freien“ Publizisten. So erweist sich hier die vermeintliche Abschaffung der Fabrik als ihre eigentliche Ausweitung in die Hirne und Wohnzimmer der Produzenten hinein. Das Verschwimmen der Unterschiede zwischen den früheren Gegenpolen Hand- und Kopfarbeit wie auch der Einzug der Fabrik in die bisherigen „privaten“ Refugien der Reproduktion der Arbeitskraft bedeutet den wirklichen Tod des bürgerlichen Individuums, über den Hans-Jürgen Krahl schon 1968 mit einiger Berechtigung aber, zumindest was die ökonomische Sphäre betrifft, wohl noch verfrüht trauerte.

Dieses Beispiel aus der Welt der Modernisierungsgewinner ist nicht etwa nur charakteristisch für die Leiden der ganz neuen „Mittelschichten“, auch in weniger privilegierten Zonen der kapitalistischen Produktion schlagen Tendenzen durch, die in eine ähnliche Richtung gehen. Das Wegbrechen des „Normalarbeitsverhältnisses“ als durchgängiger Norm und seine Ersetzung durch ein buntscheckiges Muster verschiedenster Beschäftigungsverhältnisse, die jeweils auf den konkreten Arbeitsbereich und die Flexibilitätsanforderungen der Unternehmen zugeschnitten sind: die Entstehung ganzer Dienstleistungsindustrien, in denen soziale Absicherungen und feste Beschäftigungsverhältnisse nie existierten, die netzwerkförmige Umstrukturierung der großen Konzernblöcke, die Auslagerung weiter Bereiche der Zulieferindustrien aus den Trusts und ihre Umwandlung in eine Kette scheinselbständiger Kleinunternehmer, die bedeutende Zunahme nicht sozialversicherungspflichtiger geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, vor allem in Dienstleistungsbranchen. Die neue Arbeiterklasse ist zunächst eine fragmentierte, als Klasse mit gemeinsamen Interessen, kulturellem Selbstverständnis und solidarischen Verkehrsformen kaum wahrnehmbar, als Begrifflichkeit eine Abstraktion, die allerdings notwendig ist für die Rekonstruktion sozialistischer Politikformen.


3. Das Alte im Neuen und der Blick von unten

In diesem Zusammenhang könnte die Beschäftigung mit den dem Fordismus vorgängigen Frühstadien des Kapitalismus sinnvoll sein und der Blick auf die Entstehungsgeschichte der elementaren Arbeiterbewegung in Europa erhellend für uns, die wir heute am Anfang einer Entwicklung stehen, in der sich auf der Basis der veränderten Produktions- und Reproduktionsverhältnisse proletarische Kampfformen und Widerstandsmilieus praktisch völlig neu entwickeln müssen. Zunächst einmal, weil Fragmente des frühindustriellen Handwerks- und Manufakturkapitalismus nach dem Ende des Fordismus plötzlich wieder auftauchen und zwar zum einen auf einem wesentlich höheren Niveau der Produktivkraftentwicklung, das zunächst wenig vergleichbar mit der Welt des 17., 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu sein scheint, zum anderen teilweise gerade solche Elemente, die in der marxistischen Theorietradition größtenteils als eher untypisch für kapitalistische Gesellschaftsformationen angesehen werden. Wir können beobachten, wie die fordistischen Konzernkolosse, die darauf hinorientiert waren, möglichst jeden Arbeitsgang der Produktion unter ein gemeinsames Dach zu bringen nicht nur ergänzt werden durch die Schwitzbuden der Peripherie, sondern teilweise direkt durch kleine und mittelständische Betriebe, Subunternehmen, „Selbständige“ ersetzt werden, wie neben den industriellen Kernen, die bei der Transformation übrig bleiben, eine netzwerkförmige Produktions- und Dienstleistungslandschaft entsteht, in deren Rahmen das frühkapitalistische Handwerks- und Verlagssystem, teilweise unter prekären Bedingungen, fröhliche Urständ feiert. Mit den zentralisierten Produktionsstätten schwinden auch die großen Arbeiterorganisationen des Fordismus und ihr Umfeld von Kulturorganisationen der unterschiedlichsten Art, zerschmilzt die Arbeiterbewegung, in den Formen wie wir sie kannten, wie Schnee in der Sonne.

Wie wird eine Arbeiterbewegung des postfordistischen Zeitalters aussehen, welche Bewußtseinsformen werden in ihr maßgeblich sein und welche Organisationsformen wird sie sich geben? In jenen Bereichen zersplitterter Kleinbetriebe und neuer Dienstleistungsbranchen, in denen so etwas wie gewerkschaftliche Organisierung und Interessenvertretung bisher noch nie in nennenswertem Umfang existiert hat, wird gewerkschaftliche Arbeit ob mit, neben oder ohne die DGB-Gewerkschaften sich zunächst auf einer quasi geheimbündlerischen Ebene abspielen, daneben wird es Propagandazirkel, Bildungsvereinigungen und wechselnde Wahlallianzen geben, werden die marginalisierten Organisationen der Arbeiterbewegung mitunter Anschluß an linksbürgerliche Organisationen suchen, mitunter sich wieder von diesen abwenden und den alten Kampf um die Autonomie der Arbeiterbewegung oder ihr Verharren als Anhängsel der bürgerlichen Linken wieder von neuem beginnen müssen. Marginalisiert wird sie allerdings sein, denn Arbeiterbewegung als politisch-kultureller Zusammenhang wird nicht mehr automatisch identifizierbar mit den medial präsenten Wahlkampfmaschinen von SPD und PDS sein oder mit den vertrusteten DGB-Großdienstleistern á la ver.di (die ÖTV zum Beispiel hat inzwischen einen Vertrag mit einer großen Versandhauskette abgeschlossen und bietet ihren Mitgliedern jetzt alles was Konsumenten so brauchen). Auch das ist nicht neu, die Organisationsformen der frühen „Arbeiterbewegung“ werden wir uns durchaus auch im Hinblick auf unsere Zukunft anschauen müssen.

Damit stellen sich allerdings auch einige Organisationsfragen, die die Geschichte der Arbeiterbewegung seit ihren Anfängen durchziehen, neu. Unter anderem auch die der Prädestination für Organisierung überhaupt. Der weitverbreiteten Vorstellung, daß es immer die verelendeten Massen der un- und angelernten ArbeiterInnen waren und sind, die den erbittertsten Widerstand leisten, widerspricht u.a. die Erfahrung der frühen Arbeiteraufstände, bei denen es vor allem die untergehenden, von der Modernisierung überrollten, bis dato aber privilegierten und gutsituierten Klassensegmente der Arbeiterklasse waren, die am organisiertesten und hartnäckigsten bisweilen auch recht militante Abwehrkämpfe gegen die kapitalistische Modernisierung führten und mit einer teilweise eher rückwärtsgewandten Zielrichtung zwar nicht verhindern konnten, was qua technologischem Fortschritt mehr oder weniger unvermeidlich war, aber Grunderfahrungen des Widerstands, der Kollektivität und Solidarität schufen, auf deren Verarbeitung spätere Generationen der proletarischen Bewegungen aufbauen konnten. Als Beispiele hierfür könnte die englische Gewerkschaftsbewegung des frühen 19.Jahrhunderts genannt werden, die sich gegen die Deklassierung ihrer Mitglieder wandte und damit gegen die Modernisierung der Produktion, aber auch, allen positiven und negativen Romantisierungsversuchen zum Trotz, die Ludditenbewegung, deren Auftreten ab 1811 nicht etwa, wie Robert Kurz und andere wild herumphantasieren, eine bewußt antimoderne Bewegung von „Sozialrebellen“ war, sondern auch und vor allem eine Reaktion auf die Kriminalisierung der frühen Gewerkschaften.

Die Fortschrittlichkeit der Maschinenwebstühle etwa hätten sie unter anderen Umständen wohl durchaus zu schätzen gewußt aber es war nun einmal gerade jener “Fortschritt” der für sie und ihre Familien eine reale Gefahr bedeutete und die gesamte ökonomische und kulturelle Basis ihrer Existenz vernichtete. Edward P. Thompson schreibt dazu:

“Selbst wenn wir die Verbilligung der Waren mit in Betracht ziehen, ist es jeder sinnvollen Bedeutung des Wortes nach unmöglich, Prozesse als >fortschrittlich< zu beschreiben, die für die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre die in diesem Industriezweig beschäftigten Arbeiter jeglicher Würde beraubten. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Luddismus Moment eines transitorischen Kampfes. Einerseits blickten die Ludditen auf alte Bräuche und paternalistische Gesetze zurück, die niemals wieder zum Leben erweckt werden konnten, andererseits aber versuchten sie, uralte Rechte wieder in Kraft zu setzen um neue Präzedenzfälle zu schaffen. Verschiedentlich schlossen ihre Forderungen einen Mindestlohn mit ein, die Beschränkung der >Aussaugung< von Frauen und Jugendlichen, Schlichtungsverfahren, die Verpflichtung der Meister, für die durch Maschinen überflüssig gemachten Arbeiter neue Arbeit zu finden, das Verbot von Schundarbeit, das Recht auf offenen gewerkschaftlichen Zusammenschluß. Alle diese Forderungen waren im selben Maße vorausschauend wie rückwärtsgewandt und sie enthielten die verschwommene Vorstellung weniger einer paternalistischen als einer demokratischen Gemeinschaft, in der wirtschaftliches Wachstum nach ethischen Grundsätzen geregelt und das Streben nach Profit den menschlichen Bedürfnissen untergeordnet werden sollte.”9a


Es handelte sich um eine der letzten großen Abwehrkämpfe der Handwerksarbeiter gegen ihren Untergang und in dieser Weise sollten sie historisch auch eingeordnet werden. Was hier geschah, war die Ablösung einer ökonomisch nicht mehr zeitgemäßen Form kapitalistischer Produktion durch eine andere, das Fabriksystem und die Auswirkungen dieses Wandels könnten, im Überblick betrachtet, etwa vergleichbar sein mit denen der Ablösung des Fordismus und seiner bestimmten Form der Fließbandproduktion durch eine neue Form vernetzter hoch­technisierter Produktion und einen Begriff von Arbeit, der in manchen neu entstandenen Branchen die Fabrik als zentralisierte Produktionsstätte nicht nur wandelt sondern teilweise aufhebt, durch den Computer und das Internet ersetzt, sie aber nicht abschafft, sondern in neuer Form räumlich und mental verallgemeinert in alle Poren des gesellschaftlichen Lebens hinein. Ich bin davon überzeugt, daß in etwa 150 Jahren über die Abwehrkämpfe der überflüssig gemachten fordistischen Massen- und Facharbeiter (und teilweise noch tradierteren Segmenten), wie sie sich etwa im britischen Bergarbeiterstreik von 1984, in den Streiks von Rheinhausen(1987/88), Bischofferode(1993/94) dem französischen Generalstreik (Winter 1995) oder Liverpool(1997/98) manifestierten, ähnlich geschrieben werden wird wie über die anachronistisch gewordenen Kämpfe und Bewegungen der Handwerksarbeiter im England des frühen 19. Jahrhunderts. Jede historische Phase kapitalistischer Entwicklung bringt in den arbeitenden Klassen ihre je eigenständigen Bewußtseins- und Kampfformen hervor, die ihre Wurzeln in den gegen die Modernisierungsfolgen gerichteten Kämpfe der mental enteigneten Arbeiter der jeweils letzten Phase haben, aus deren Kampferfahrungen, d.h. vor allem Niederlagenerfahrungen sie hervorgegangen sind. Vor allem allerdings stellt sich das Proletariat in seinem Bewußtsein und seinen Organisationsformen im Verlaufe eines jeweils langwierigen Lernprozesses auf die jeweilige Stufe der kapitalistischen Produktion. Das Bewußtsein der, ebenfalls von einem mehr handwerklicher und technischer Kenntnisse und Fähigkeiten als durch einen industriellen Produktionsablauf gekennzeichneten Arbeitsalltag geprägten Arbeitereliten der Fabriken des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unterscheidet sich erheblich sowohl von Bewußtseins und Organisationsformen der ungelernten und Gelegenheitsarbeiter als auch von dem der Handwerksarbeiter vor der allgemeinen Verbreitung des Fabriksystems. Hier ging es den radikalsten Gruppen bereits um die Übernahme der durchorganisierten Produktion durch das Proletariat, die gesellschaftliche Aneignung des gemeinschaftlich produzierten Mehrwerts und nicht mehr darum, sich der kapitalistischen Form der Mehrwertproduktion entgegenzustemmen. Karl-Heinz Roth beschreibt die prägenden Elemente ihres Klassenbewußtseins am Beispiel der Automobilarbeiter bei Daimler in Untertürkheim, wo die Produktion gegen Ende des 19. Und noch bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen werkstattmäßig betrieben wurde:

„Wegen seiner Materialverbundenheit und seines intuitiv-erfahrungsmäßigen Geschicks, Eigenschaften, ohne die die technisierte Apparatur des Ateliers nicht in Gang zu halten war, hatte der Arbeiter bei der Bestimmung des Arbeitsablaufs eine Menge mitzureden. Er tendierte sogar in politisch bewegteren Zeitläufen dazu, die Fabrik mehr oder weniger in eigene Regie zu nehmen - übrigens eng verbunden mit den Technikern und den übrigen Kopfarbeitern in den kaufmännischen Abteilungen, während er gleichzeitig von einer Beseitigung der „anarchischen“ Übelstände auf der Erscheinungsebene des Kapitals durch einen sozialistischen Staat der Arbeit träumte. Diesen bodenständigen werkstoffverbundenen, auf einen Status Quo mit dem Einzelkapital bedachten Arbeiter nennen wir professioneller Arbeiter, dem die werkstattmäßige Organisationsform der Arbeit gegenübersteht. Der professionelle Arbeiter und das Werkstattsystem der vollmechanisierten Produktion sind eine besondere, historisch begrenzte Entwicklungsweise von Arbeitsorganisation und Klassenzusammensetzung, denen sich andere Phänomene - etwa der ungelernte Handlanger oder einzelne Mechanisierungsansätze im Gebrauch der Maschinerie unterordnen: Der Arbeiter-Kapital-Widerspruch ist vorrangig durch Werkstattprinzip und den professionellen Arbeiter bestimmt. (...) Die Art wie der Kapitalist seine Arbeitskraft ausbeutet , bürgt dafür, daß der Reprodutionsorganismus noch nicht seine ganze Erfahrung, Geschicklichkeit etc. zum alten Eisen wirft, daß seine Arbeit noch nicht vollends abstrakte Arbeit ist, die ihn als Arbeitersubjekt noch nicht vollständig aus dem Produktionsprozeß herausdrängt. Vice versa sind auch die Verhaltensweisen des Arbeiters gegenüber der Fabrik Daimler selbstbewußt und - überaus gemäßigt.“10


Das ist ein logischer Schritt der durchaus nicht mit der zynisch-dümmlichen Denunziation eines Robert Kurz zusammenzufassen ist, der in diesem Zusammenhang von der “verhausschweinten” Arbeiterklasse spricht, also der domestizierten Arbeiterklasse, die ihre Unfreiheit in der Tretmühle der Lohnarbeit als Daseinsvoraussetzung akzeptiert hat. Es ist allerdings nicht ganz unwichtig, die Differenzierungen und Spaltungslinien innerhalb der Klasse historisch nachzuvollziehen, etwa zwischen den ab Ende des achzehnten Jahrhunderts bereits entstehenden Facharbeiterschichten, die relativ privilegiert, von Stolz auf ihre handwerklichen Fähigkeiten durchdrungen und durch eine relativ starke Identifikation mit ihrem Arbeitsplatz geprägt waren und der Masse der ungelernten working poor und Tagelöhner, die buchstäblich nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, sowie dem “Lumpenproletariat”, das als Bodensatz der Arbeiterklasse die jeweiligen Modernisierungsverlierer bezeichnet, die gleichermaßen von der Masse der Proletarier verachtet und vom Staatsapparat mit Repression überzogen wurden. Dazwischen finden sich viele Abstufungen, auf- oder absteigende Berufsgruppen und die Zusammensetzung der verschiedenen Klassenfraktionen verändert sich permanent. Das Proletariat ist alles andere als ein homogener Block mit gleichen Erfahrungen und Interessen.

Im oben genannten Untertürkheimer Daimler-Werk etwa waren unter den Bedingungen der werkstattmäßigen Produktion die ungelernten Arbeiter eine Minderheit, bis im Verlauf des 1. Weltkrieges und des ihm folgenden Kampfzyklus der radikalisierten Teile der Arbeiterbewegung für den Konzern die Gelegenheit da war, mit der militärischen und politischen Austragung der Kämpfe sowohl die Arbeitsorganisation als auch die Zusammensetzung der Belegschaft grundlegend umzugestalten, weil

„sich die bisherige spezielle Zusammensetzung der von ihm ausgebeuteten Arbeiterklasse mit ihrem besonderen Verhalten - Achtstundentagbewegung, Solidarität bei Tarifkämpfen und vor allem Verhinderung aller mehrwertsteigernden Veränderungen in der Arbeitsorganisation für die weitere Aufwärtsentwicklung der Profitrate als hinderlich erweist.“11


Parallel zur technologischen Offensive, die mit der Einführung der Fließbandarbeit vorangetrieben wurde, konnte mit der Niederlage der Revolutionäre in den militanten Auseinandersetzungen zu Anfang der zwanziger Jahre auch eine ganze Kampftradition der Arbeiterbewegung liquidiert werden. In den Hauptabteilungen seiner auf Massenproduktion umgestellten Betrieben führt Daimler jetzt einen neuen Typ von Lohnarbeiter ein,

„einen möglichst wenig seßhaften, der bisherigen Klassensolidarität entfremdeten, für die weiter zerlegten Arbeitsoperationen einseitig und kurzfristig ausgebildeten und im Rahmen der neuen Arbeitsteilung jederzeit auswechselbaren Arbeiter - den Massenarbeiter. Mit vielen Überschneidungen und Verzögerungen vollzieht sich dieser Prozeß der Aneigung der bisherigen proletarischen Geschicklichkeit und Produktionserfahrung durch die Betriebsleitung, der für die Arbeiter nur noch monotone, bewußtlos ausgeführte Arbeitstakte übrig läßt, in den zwanziger Jahren. Die professionellen Arbeiter werden währenddessen, nachdem sie in der Rätebewegung ihre wichtigste Schlacht verloren haben und mittels der KPD ihre Rückzugsgefechte liefern, an den Rand der verflüssigten Produktionsmaschinerie gedrängt.“12


Es hat sich herausgestellt, daß die fordistischen Massenarbeiter, deren Formen von Klassenbewußtsein sich von denen der professionellen Arbeiter bzw. später der Facharbeiter im engeren Sinne massiv unterschieden, eigene Kampfformen hervorgebracht haben, die sich von den institutionalisiert-gewerkschaftlichen Streik- und Räteaktionen der professionellen und Facharbeiter grundlegend unterschieden, die keine Identifikation mehr mit der Fabrik, keinen Stolz mehr auf die geleistete Arbeit zur Grundlage hatte, sondern den Haß auf das bestehende System der Lohnarbeit, die Entfremdung innerhalb eines Arbeitsprozesses, dem in seiner Eintönigkeit und nervtötenden Despotie keinerlei positive Seiten mehr abzugewinnen waren. Oder, wie es von operaistischer Seite dazu heißt:

„Das Bemühen der Kapitalisten muß früher oder später scheitern, denn irgendwann wird sich die (technische) Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse auch politisch ausdrücken. Und entsprechend der Inhaltlosigkeit und der „totalen“ Entfremdung seiner Tätigkeit artikulieren sich die politischen Ziele und die (Kampf-)Formen der Massenarbeiter. Wurde der Facharbeiter Träger des Reformismus; war für ihn die proletarische Revolution eine Sache des geduldigen (...) Hinüberwachsens (...) kurzum: eine Sache jenseits der Unordnung, der revolutionären Gewalt und des bewaffneten Aufstands, so äußert sich der Widerstand der Massenarbeiter in anderen Formen. Denn unmittelbar aus der Fremdheit gegenüber der Produktion und der Gesellschaft ergibt sich für den Massenarbeiter die Tendenz zur Sabotage der Arbeit: verlängerte Pausen, als Krankheit getarntes Wegbleiben vom Arbeitsplatz (...).Sabotagemaßnahmen an den Bändern, Steigerung der Ausschußproduktion (...), die bis hin zu Ansätzen einer Fabrikguerilla reichen. Sie richten sich allesamt gegen die „Arbeit“ selbst. Die These von der Arbeiterkontrolle, der Organisation der Arbeit durch die Arbeiter selbst muß (demnach) für den Massenarbeiter als Aufforderung zur Selbstausbeutung aufgefaßt werden - sein Interesse ist auf das Leben, nicht auf die Arbeit gerichtet.“13


Das die verschiedenen Erfahrungshintergründe der unterschiedlichen Klassensegmente auch unterschiedliche Formen von Kämpfen und Bewußtsein, ja unterschiedliche, manchmal entgegengesetzte Ziele hervorgebracht haben, wird so vielleicht etwas klarer.

Der wichtigste Grund, sich einen umfassenderen Blick auf die Geschichte proletarischer Lebensäußerungen und Widerstandsformen anzueignen, ist vor allem der Notwendigkeit geschuldet, Klassenkampf und Klassenbewußtsein, sofern sie nicht als rein soziologische Größen, sondern auch als Orientierungspunkte für eine widerständige politische Praxis gesehen werden, von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten, als der Marxismus des fordistischen Zeitalters dies konnte. Die Arbeitergeschichtsschreibung und politische Wertung der Linken des gerade untergegangen kapitalistischen Entwicklungsstadiums waren zu sehr fixiert auf Erscheinungs- und Bewußtseinsformen der Arbeiterklasse jenes Stadiums, sie vergaßen oftmals, daß sich proletarische Regungen und Kämpfe nicht geschichtslos aus den puren ökonomischen Prozessen heraus entwickelten, sondern eine Vorgeschichte in den Kämpfen der sozialen Unterklassen des ausgehenden Feudalismus und ihres Übergangs zu kapitalistischen Produktionsweisen hatten und eine kulturelle Dimension haben, die wesentlich vielschichtiger ist, als das, was in gängigen Darstellungen mit dem Begriff „Arbeiterkultur“ identifiziert wird. Sie haben, in bisweilen blindem Geschichtsoptimismus, nur zu oft über die historische Mission der Arbeiterklasse orakelt und dabei den vorwärtsweisenden Charakter der proletarischen Klassenkämpfe so einseitig überbetont, daß die Anlässe, Kampfformen und Bewußtseinslagen der realen Klasse, die oftmals eher rückwärtsgewandt sich an verlorengegangenen Rechten, Standards und moralischen Anforderungen orientierten und gerade dort besonders kämpferisch waren, ausgeblendet wurden. Sie haben die Spaltungslinien innerhalb der Klassen, die Fragementierungen, die immer da waren und meistens stärker als ein wie auch immer geartetes einheitliches „Klasseninteresse“ übersehen, was heute dazu führt, daß etliche von ihnen den Wald vor lauter Bäumen, d.h. im Gewimmel der verschiedenen fragmentierten Lebenslagen, Arbeitsverhältnisse, Sonderinteressen, kulturellen Aufsplitterungen und Individualisierungsprozesse die Lohnarbeiterklasse als solche nicht mehr erkennen können.


4. Elementares Klassenbewußtsein und wissenschaftlicher Komunismus

Die Zusammensetzung der Lohnarbeiterklasse verändert sich also aufgrund von Wandlungen der Produktionsstrukturen des Kapitals, im Rahmen von Qualifizierungs- und Dequalifizierungsprozessen, technologischen Veränderungen usw. Operaistische Klassentheoretiker haben, was noch zu diskutieren sein wird, darauf hingewiesen, daß Veränderungen der Klassenstruktur und Umwälzungen der Produktionsweise durch das Kapital auch als „technologischer Angriff“ der Kapitalistenklasse zu analysieren sind, die gezwungen ist, durch neue Produktionsformen und Arbeitsbeziehungen die Reproduktion des Kapitalverhältnisses zu sichern, die durch proletarische Kämpfe auf der vormals bestehenden Ebene bedroht war (inwiefern dieses Konzept vom Klassenkampf als Motor jeglicher Geschichte auch nur wieder ein subjektivistischer Reflex auf die in Ökonomismus erstarrte nachkautskyanische und -leninsche Orthodoxie war, müßte an anderer Stelle erörtert werden, hier ist zunächst nur der Impuls interessant, den der Operaismus gegeben hat, um jenen Aspekt wieder auf die Tagesordnung zu setzen, der anderenorts oft nur verschämt am Rande als „subjektiver Faktor“ auftaucht). Die innere Struktur der Lohnarbeiterklasse gleicht einem Flickenteppich und das Gesamtinteresse der Lohnarbeiterklasse auf Aufhebung des Kapitalverhältnisses und Überwindung der Warenproduktion, damit nicht nur Sprengung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation als solcher sondern speziell auch Überwindung ihres eigenen prekären Status als Lohnarbeiterklasse, wird in der Regel überlagert durch die Widersprüche innerhalb der eigenen Klasse, das Konkurrenzverhältnis, in das die einzelnen LohnarbeiterInnen zueinander gesetzt sind und die verschiedenen Handlungsformen der Klassensegmente. In verschiedenen Phasen der Entwicklung der Arbeiterbewegung spielten die klasseninternen Auseinandersetzungen zwischen qualifizierten Facharbeitern und ungelernten Massenarbeitern ohne nennenswerte gewerkschaftliche Interessenvertretung eine nicht unwichtige Rolle, u.a. weil diese verschiedenen Klassensegmente eben unterschiedliche Bewußtseins- und Organisationsformen entwickelten, unterschiedlich politisch eingebunden waren und in ihren Kampfformen zeitweilig kaum miteinander vermittelbar waren. Beispiele hierfür gäbe es viele, an dieser Stelle dürfte es genügen, an den Ford-Streik von 1973 zu erinnern, der als „wilder“ Arbeitskampf in erster Linie von den „ausländischen“ Massenarbeitern geführt wurde und von einer breiten Koalition aus Werkschutz, Staatsapparat und IG-Metall mit Unterstützung durch die Mehrheit der „deutschen“ Facharbeiter mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde.

Wer aber vertritt nun das oben genannte Gesamtinteresse der Lohnarbeiterklasse? Der imaginäre Gesamtkapitalist ist der bürgerliche Staat, der als Staat der herrschenden Klasse die sozialen Auseinandersetzungen bis zu einem gewissen Grad regulieren und integrieren kann und den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ihren Ausdruck verleiht. Sein Charakter war historisch auch von der Funktion geprägt, eben jenes Gesamtinteresse an der Reproduktion der Verwertungsbedingungen des Kapitals auch gegen die Einzelkapitale durchzusetzen, deren despotische und destruktive Exzesse von Überausbeutung und gnadenloser Konkurrenz ansonsten der kapitalistischen Ökonomie innerhalb von weniger als zwei Generationen die Grundlagen entzogen hätten. Aber welche Instanz ist in der Lage, über die teils ökonomistischen, zersplitterten, teils auch (etwa bei gegen ihren sozialen Abstieg kämpfenden Facharbeitersegmenten) chauvinistischen und rassistischen Einzelinteressen hinaus und im Zweifelsfall auch gegen sie die gemeinsamen Interessen des Proletariats als Klasse zum Ausdruck zu bringen? Wenn man Marx und Engels im Kommunistischen Manifest folgen mag, so ist es die Kommunistische Partei, die das elementare Klassenbewußtsein aufnimmt und aufhebt, die auch den wissenschaftlichen Kommunismus in seiner reinen Gestalt als Theorie aufhebt und aus der Verschmelzung von beidem einen revolutionären Ansatz von Theorie und Praxis schafft, der niemals widerspruchslos und konfliktfrei sein kann, weil Widersprüche nun einmal nicht miteinander versöhnbar sondern allenfalls dialektisch aufhebbar sind. Der Idealtypus vom Proletariat als einheitlich kämpfender Klasse, der im Vulgärmarxismus für bare Münze genommen und kurzerhand zum höchst imaginären „revolutionären Subjekt“ als quasi überhistorischem Träger des gesellschaftlichen Fortschritts erklärt wurde, übersetzt sich nicht eins zu eins in die Realität der Klassenkämpfe, er ist Ausdruck des Bestrebens, eben jenes Gesamtinteresse der Klasse auf Überwindung des Konkurrenzverhältnisses, der kapitalistischen Warenproduktion, der Klassengesellschaft überhaupt, ins Spiel zu bringen, eine Konstruktion, aber eine notwendige. Sie verstellt zunächst nicht den Blick auf die Realität, sondern umreißt eine Aufgabenstellung der Kommunisten. Das Proletariat als Klasse hat nie als solches einheitlich gekämpft und der Prozeß der politischen Konstituierung des Proletariats als Klasse umfaßte auch nie mehr als eine Minderheit der LohnarbeiterInnen. Wie auch mit der Kommunistischen Partei bei Marx nicht eine historisch-konkrete, auf die „wissenschaftliche Weltanschauung“ eingeschworene homogene Organisation - weder von Arbeiterfunktionären, noch von Berufsrevolutionären - gemeint ist, sondern ein - auch wieder idealtypisch konstruiertes - imaginäres „Kraftzentrum“ der Klasse, das, wenn überhaupt, in sehr unterschiedlichen historisch-konkreten Formen als reale Organisationsstruktur entsteht und nicht daran erkennbar ist, daß es eine bestimmte politische Form aufweist oder bestimmte Phrasen verwendet. Die erste Organisation, die in diesem Sinne historische Kommunistische Partei war, war der Bund der Kommunisten, in dem neben der Strömung um Marx und Engels noch recht viele Überbleibsel seiner Vorläuferorganisation, des Bundes der Gerechten, fortexistierten, in dem sich auch „wahre Sozialisten“ wie Moses Heß, utopische und „Arbeiterkommunisten“ tummelten und wo davon, daß der „wissenschaftliche Sozialismus“ die einheitliche Grundlage der Organisation gewesen sei, wie etwa viele DDR-Historiker behaupteten, kaum eine Rede sein konnte. Eine ausschließlich auf den Marxschen und Engelsschen Theorien basierende Organisation wäre zu dieser Zeit auch nur als kleiner Intellektuellenzirkel mit Einfluß auf bestimmte Brüsseler und Berliner Salons, aber kaum mit nennenswerter Resonanz innerhalb der eigentlichen elementaren Arbeiterbewegung denkbar gewesen. Was es aber gab, waren bestimmte Übereinkünfte über die Organisationsform, eine von Marx und Engels maßgeblich geprägte Zielbestimmung und Aufgabenstellung des Bundes.

Einer unserer höchsten Zwecke in der gegenwärtigen Situation ist es, Strukturen zu entwickeln, in denen es, auch aus der Defensive heraus, möglich ist, einen Beitrag zum ideologischen Klassenkampf zu leisten. Das bedeutet auch, uns auf den gegenwärtigen Stand kapitalistischer Vergesellschaftung zu stellen, uns als Bestandteil und Objekt der Prolatarisierungstendenzen zu begreifen, alte, unbrauchbare und entleerte Formen proletarischer Bewußtseinsäußerungen abzustreifen und nach neuen, zeitgemäßen Formen zu suchen, in denen sich elementares Klassenbewußtsein artikulieren kann. Und selbstverständlich heißt dies auch, auf der Ebene, die uns zur Zeit ermöglicht ist, sofern wir uns als KommunistInnen im Marxschen Sinne verstehen, theoretisch wie auch in verschiedenen Praxisformen das Gesamtinteresse des Proletariats zu formulieren und damit einen Beitrag zur Überwindung seiner Zersplitterung, Ohnmacht und Orientierungslosigkeit zu leisten. Dies kann wohl als ein wesentlicher Bestandteil dessen verstanden werden, was Marx als revolutionären Parteibildungsprozeß des Proletariats fern jeglicher Satungsdiskussion, konkreten Parteiform oder bürgerlichem Parteienstatus verstand.

Hier kommt aber nun ein anderes Problem ins Spiel, das darauf verweist, wie ungeklärt die Basis der gegenwärtigen und zukünftigen politischen Praxis der Kommunisten eigentlich ist: Wenn, wie u.a. Hartmut Zwahr annimmt14, der Kern der ideologischen Konstituierung des Proletariats, mithin also auch die entscheidende Voraussetzung für das Wirken einer kommuistischen Partei, die Verschmelzung von Marxismus und elementarer Arbeiterbewegung ist, was, wie schon angedeutet in der gesellschaftlichen Totalität wohl eher idealtypisch als wörtlich zu verstehen, zumindest aber als Grundhypothese m.E. nach wie vor brauchbar ist, so muß wohl heute nüchtern festgestellt werden, daß zumindest in weiten Teilen Europas und insbesondere in der BRD diese „Verschmelzung“, die zeitweilig für bestimmte radikalisierte und aktivistische Minderheiten der Klasse durchaus mehr oder weniger Gültigkeit hatte, sich heute fast völlig wieder „entschmolzen“ hat. Die Teile der Arbeiterklasse allein schon, deren prägendes Bewußtseinselement ein aus „theoretisch“ reflektierten Alltagserfahrungen resultierendes elementares Klassenbewußtsein ist, sind hierzulande gegenwärtig marginal und jene Splitter davon, die um die Wiederaneignung des wissenschaftlichen Kommunismus bemüht sind, noch viel mehr. Das Bild der Arbeiterklasse in Deutschland ist also auch eines einer Klasse, die sich mitten im Prozess ihrer ökonomischen und sozialen Neukonstituierung befindet (und zwar im steten Fluß, ohne „Stunde Null“) und deren politische und ideologische Konstituierung, zumindest in Deutschland, weitgehend noch bevorsteht. Insofern ist auch völlig unklar, ob die sich als marxistisch und revolutionär verstehenden Organisationsreste der „alten“ Arbeiterbewegung, wie etwa die DKP, die größtenteils sowohl von der Alters- , aber auch und vor allem von der Sozialstruktur her bestimmte untergehende Teile der Arbeiterklasse der sechziger und siebziger Jahre repräsentiert, mit dem Überrollen dieser Segmente als -wenn auch marginalisierte- Klassenorganisationen verschwinden werden, oder aber im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte zu Elementen der politischen und ideologischen Neukonstituierung des Proletariats werden können. Dies wird vor allem davon abhängen, ob sie in der Lage sein werden, sich als Organisationen des wissenschaftlichen Kommunismus mit historisch lebendigem Bezug auf die Gesamtheit der Klassenerfahrungen (und nicht nur denen bestimmter Facharbeiterschichten und Generationen) in die Umwälzung der Produktion hineinstellen können und eine Rolle im Prozeß der Erarbeitung zeitgemäßer Kampfformen und Verarbeitung heutiger proletarischer Alltagserfahrungen spielen können.


5. Vergemeinschaftungsprozesse und kapitalistische Vergesellschaftung

Die skizzierten Veränderungsprozesse des modernen Kapitalismus beinhalten den Vorstoß zu einem bisher ungekannten Ausmaß an Vergesellschaftung der Produktion, die sich gerade in ihrer vermeintlichen Individualisierung und Privatisierung zeigt. Das Niederreißen der umzäunten Nischenräume die bisher außerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik lagen, das Eindringen des Kapitalverhältnisses in jeden Teilsektor der Gesellschaft und die Auflösung aller Reste vorkapitralistischer Produktion, die bisher noch immer in bestimmten Bereichen fortbestanden hatten, markiert einen Entwicklungsgang, der zu einem neuen Vergesellschaftungstyp führt. Noch nie in der Geschichte des Kapitalismus gab es einen Entwicklungsstand, auf dem in einem solchen Maße das Kapital die letzten Reserven mobilisierte, jede einzelne Lebensäußerung, jedes Erzeugnis menschlicher Tätigkeit der Gesellschaft seinen Verwertungsbedürfnissen unterordnete, die marktförmige Vergesellschaftung so total war wie heute. Ein Grund warum in diesem Zusammenhang gelegentlich von „Amerikanisierung“ die Rede ist, mag, neben einem gewissen Irrationalismus, auch die Tatsache sein, daß dieser Prozess in den USA erheblich fortgeschrittener ist als in Europa, was ja bereits in den vierziger Jahren so gegensätzliche Leute wie Brecht oder Adorno zu der gleichen, für sie deprimierenden, Schlußfolgerung veranlasste, daß die bisher von ihnen bisher praktizierten Formen von Kapitalismnuskritik durch Kenntlichmachung des Warencharakters, den im Kapitalismus jede kulturelle Äußerung und jedes außerhalb der Warenform gedachte Erzeugnis erhält, unter den Bedingungen des Exils in den USA unbrauchbar geworden seien, weil dieser Warencharakter, der im präfaschistischen Deutschland den Dingen noch eher verschämt anhaftete, hier ganz offen zu tage trat und von niemandem bestritten oder gar skandalisiert wurde. Was für den europäischen Emigranten vor knapp sechzig Jahren noch in diesem Ausmaß neu und erschreckend war, ist mittlerweile auch in Europa Normalzustand und wird noch weit übertroffen. War bisher die Gegensätzlichkeit zwischen kapitalistischen Wirtschaftsräumen und vorkapitalistischen Produktionsstrukturen, die Kapitalisierung bisher auf Subsistenzökonomien beruhender Gesellschaften und die innere Kolonialisierung bisher vormodern vergemeinschafteter15 Bevölkerungen des Trikont eine Triebfeder der Entwicklung, so entfällt dieses zunehmend. Erstmals in seiner Geschichte umspannt die Sphäre der entwickelten Warenproduktion und Geldzirkulation nicht nur den gesamten Erdball sondern ist auch die kapitalistische Produktionsweise nahezu die einzige noch übriggebliebene Form des Wirtschaftens. Unter anderem hat dies auch Folgen für die Bewußtseinsentwicklung des fragmentierten und sich im Prozeß der Neuzusammensetzung befindenden Proletariats. An Bedeutung gewinnen die Vergemeinschaftungsreflexe der Proletarisierten, die der Dialektik der kapitalistischen Vergesellschaftung entspringen. War die Verteidigung vormoderner Lebensgemeinschaften gegen die kapitalistische Modernisierung ein Kennzeichen der arbeitenden Klassen des Frühkapitalismnus, die Neubildung höchst komplexer und widersprüchlicher Gemeinschaftsstrukturen im Rahmen der auf Aufhebung der kapitalistischen Verwertungslogik drängenden und die Vergesellschaftung der Produktion auf eine neue Stufe stellen wollenden Arbeiterbewegung eine Begleiterscheinung des Kapitalismus der zweiten industriellen Revolution und des sich später entwickelnden Fordismus, so sind wir heute Zeugen und Beteiligte eines Zersetzungsprozesses jener Arbeiterbewegung, der als Reflex auf die für den Einzelnen und Vereinzelten immer schwerer zu bewältigenden Begleiterscheinungen des neuen heranwachsenden Vergesellschaftungsniveaus einen Typ auf warenförmig zugerichteter und bewußtloser, irrationaler und antiaufkläererischer Vergemeinschaftung hervorbringt. In einer Situation in der dem hochrationalisierten Vergesellschaftungstyp des Kapitals keine, auf dem Boden dieser Art Rationalität stehende Gegenkraft mehr gegenübersteht, die als gleichzeitig systemimmanente wie systemtranszendierende gesellschaftliche Opposition das Bewußtsein zumindest von Teilen der Lohnarbeiterklasse prägte und den aus der kalten Systemrationalität erwachsenden Vergemeinschaftungsdruck in gesellschaftliche Werte und Klassenidentitäten, in Solidarität und politisch rationalisierte Kollektivität umgeleitet hat, setzt sich die kapitalistische Rationalisierung und Verwertung aller Lebensäußerungen im Bewußtsein der Enteigneten um in abgründige Irrationalität, die bodenlos ist. Jener zynische Individualismus, der dem verinnerlichten Prinzip des „Jeder gegen Jeden“ entspringt, schlägt, eben weil er schlicht unerträglich ist, um in ein tiefes Vergemeinschaftungsbedürfnis, das der Rationalität des Kapitalverhältnisses durchaus nicht entgegengesetzt ist, oder die Potenz in sich bergen würde, es gar zu sprengen, wie Marcuse noch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an den Ausbruchsreflexen der an den Auswirkungen des fordistisch geprägten Vergesellschaftungstyps leidenden Jugend zu erkennen glaubte. Die Vergemeinschaftungsformen des postfordistisch formierten Bewußtseins sind in ihrer Uferlosigkeit genau reglementiert. Massenerlebnisse wie die „Love Parade“, Musik, Esoterikwelle, alles wird zum Religionsersatz und wird eingepaßt in die physische und vor allem psychische Reproduktion der Arbeitskraft. Was bei der Wiederkehr der Obsessionen verlorengeht, ist jede Fähigkeit zum Denken in gesellschaftlichen Strukturen und historischen Zusammenhängen, gedanklich fällt das Alltagsbewußtsein von immer mehr Menschen hinter die Grundpostulate der bürgerlichen Aufklärung zurück. Die Naturalisierung gesellschaftlicher Strukturen, das Entstehen immer neuer vergemeinschafteter Nischen an den Rändern und Weichzonen der Gesellschaft der hochrationalisierten Warenproduktion, ist ein Reflex, der der bürgerlichen Gesellschaft schon von je her innewohnte und von Zeit zu Zeit in krisenhaften Modernisierungsphasen rabiate Folgen zeitigt. Diese Prozesse wirken bis weit in die Reste der radikalen Linken hinein, wo scheinbar jeder politische Zusammenhang vor die Aufgabe gestellt ist, der fortwährenden Tendenz zur Vernischung, Vercliqung und irrationalen Identitätskonstruktion durch Vergemeinschaftung, „Sippen“bildung entgegenzuarbeiten. Wo es nur noch um Identität, ja Nestwärme geht, beginnen jene Mechanismen des Innen und Außen zu wirken, denn jede Gemeinschaft braucht einen kollektiven Feind, braucht vor allem auch neben den Gruppenbildenden die Auszuschließenden. Hier sind rationale Diskurse nicht mehr möglich, sind politische Bekundungen nur noch Folien die symbolisch der Identitätsbildung dienen. Aufgabe einer radikalen Linken, vor allem aber jener Teile der Linken die den Prozeß der revolutionären Parteibildung des Proletariats im Marxschen Sinne vorantreiben wollen, der Kommunisten also, ist es, all diese ideologischen Reflexe als letztendlich aus dem Kapitalverhältnis resultierende Fetischformen zu benennen, auf die neuen Vergesellschaftungsformen des Kapitals nicht regressiv und gemeinschaftsbildend zu reagieren, sondern im Bemühen um die Entwicklung der ökonomischen, politischen und ideologischen Formen des Klassenkampfes sich auf die Basis des neuen Vergesellschaftungstyps zu stellen. Hier werden sich die Kämpfe der Zukunft entfalten, hier, auf der Grundlage der vorgefundenen destruktiven Rationalität der totalen Vergesellschaftung der Produktion durch das Kapital, entstehen die Voraussetzungen für einen proletarischen Universalismus, der ohne die fetischisierten Reflexe auf die institutionellen Beziehungen der bürgerlichen Gesellschaft, also ohne Nation, Staat, Religion und Religionsersatz, Standort und Konkurrenz auskommt, und damit die Grenzen der im Kapitalismus möglichen Rationalität sprengt.

 

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1K.H. Roth: Die Wiederkehr der Proletarität und die Angst der Linken, in: Die Wiederkehr der Proletarität, Köln 1994

2MEW 23, S. 192f

3Bischoff u.a. 1982

4in PROKLA 117, S. 605

5ebd. S. 603f

6Ebd. S. 616f

7Diettrich 1999, S. 136

8PROKLA-Redaktion. S. 500

9„Statistiken über die Anteile des informellen Sektors an Gesamtbeschäftigung und Wirtschaftsleistung belegen zweit Tatsachen: Erstens war und ist die „Schattenwirtschaft“ nicht regional oder zeitlich begrenzt. Zum zweiten nimmt sie in den letzten Jahren weltweit zu. Auch in Deutschland ist der Anteil der „Schattenwirtschaft“ am Bruttoinlandsprodukt innerhalb der letzten 20 Jahre von 6% auf 15% angestiegen. Die Mehrheitv der informell Beschäftigten sind Frauen. Ihr Anteil liegt bei 60% und variiert erstaunlicherweise wenig zwischen Industrie- und sogenannten Entwicklungsländern.

9aThompson: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse S. 638f

10K.H. Roth: Die andere Arbeiterbewegung, München 1976, S. VIII f

11Ebd. S. IX

12Ebd. S. IX

13Freombeloff (Hrsg.) ...Und es begann die Zeit der Autonomie, Hamburg 1993, S. 36

14Hartmut Zwahr: Zur Konstitutierung des Proletariats als Klasse, Berlin/DDR 1978, S. 253

15Zum Begriff der Vergemeinschaftung siehe Max Weber: Wirrwarr und Gesellschaft. Dort heißt es in den „Soziologischen Grundbegriffen“ auf S. 21: „Vergemeinschaftung soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns - im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus - auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. (...) Vergemeinschaftung kann auf jeder Art von affektueller oder emotionaler oder aber traditionaler Grundlage ruhen.: eine pneumatische Brüdergemeinde, eine erotische Beziehung, ein Pietätsverhältnis, eine „nationale“ Gemeinschaft, eine kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe. Den Typus gibt am bequemsten die Famielengemeinschaft ab. Die große Mehrheit der beziehungen aber hat teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung.“ (Weber 1972) Was bei Weber zunächst nicht in einen historischen Kontext gepackt ist, müßte aus der Sicht der materialistischen Dialektik auf die Füße gestellt werden, um zur Charakterisierung gesellschaftlicher Prozesse und Herrschaftsbeziehungen brauchbar gemacht zu werden.