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KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 6 - 10.10.2000 - Onlineversion Klaus Hermann Zur Kritik und Theorie des Realsozialismus |
(1) Der Staatskapitalismus sowjetischen Typs hat Bankrott gemacht. Das Faktum als solches bedeutet, daß sich dadurch Bedingungen und Perspektiven einer Befreiung von der Herrschaft des Kapitals grundlegend ändern. Die Gesellschaften sowjetischen Typs haben sich als unfähig erwiesen, die verstaatlichten Produktionsmittel in vergesellschaftete zu transformieren. Haben sie dazu historisch die Chance gehabt? Wie dem auch sei, die Erwartung sei's in die Transformations- oder bloße Überlebensfähigkeit des "real existierenden Sozialismus" wurde allgemein geteilt. Ratifiziert wird die Transformationsunfähigkeit erst durch die Tatsachen; durch die Kapitulation vor dem Privatkapitalismus, auf die die Kapitalistenklasse seit der Oktoberrevolution hingearbeitet hat, um davon selbst schließlich überrascht zu werden. Eine Alternative zum Privatkapitalismus war diese Art von Staatskapitalismus nie, auch wenn ihm Transformationspotentiale nicht schlechterdings abzusprechen waren. Wer dieses vom Privatkapitalismus abweichende Akkumulationsmodell für Sozialismus gehalten hat, sollte in einen Revisionsprozeß seiner Irrtümer eintreten.
Der Staatskapitalismus Lenin'schen Typs war ein Zwitterwesen. Einer rhapsodischen Bemerkung bei Mattick entnehme ich, daß es offenbar schon frühzeitig Kritik von links an Lenins Imperialismus-Theorie gegeben hat. Zu den Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem "autoritären Staat" stellen - und hallt der "autoritäre Staat" nicht noch in dem Topos von der "verwalteten Welt" (Adorno) nach? - gehört die nach der transformatorischen Rolle, die Lenins Imperialismus-Theorie für begriffliche Distinktionen solcher Art womöglich gespielt hat. In denselben Zusammenhang - und von kaum minderem Aktualitätsbezug - gehörte eine neuerliche Rezeption der Faschismus-Theorie.- Mattick argumentiert mit der Werttheorie wie nur ein Virtuose sein Instrument beherrscht. Unbeirrt von politischen Ideologien erkennt er in dem Antagonismus von Privat und Staatskapitalismus den Hauptinhalt der Epoche, die die seine und bis eben die unsere gewesen ist. Das macht ihn zum authentischen Zeitzeugen. Und nicht nur das. (Vgl. Paul Mattick, Marx und Keynes, 1971 und ders., Kritik der Neomarxisten, 1974)
Die Theorie des Staatskapitalismus ist älter als der Imperialismus der Kriegs- und Vorkriegsära; der Begriff steht - fast nach Art eines Weber'schen Idealtypus - für den Versuch, der Finalität des Prozesses der Kapitalkonzentration und -zentralisation einen Vorstellungsinhalt zu geben. Nur mit solcher Idee im Kopf konnte die Kriegs- und Rüstungswirtschaft, insbesondere in ihrer deutschen Variante, zum Faszinosum werden, nicht nur für Lenin, ebenso für die Sozialdemokratie. Erwiesen hatte sich freilich nur die administrative Kompetenz und Funktionsfähigkeit des bürgerlichen Staates. Staatskapitalismus oder organisierter Kapitalismus ist ein Paradox, weil der Kapitalismus auf Tauschwertverhältnissen basiert, die nicht zugleich als gegeben und außer Wirkung gesetzt gedacht werden können, wie es der Begriff lanciert. Das steht zwar so nicht wortwörtlich bei Mattick, ergibt sich aber zwingend aus der Hauptlinie seiner Argumentation. Und ebenso, was hinter dem Paradoxon als ungelöstes Rätsel steckt.
Der Staat ist in der bürgerlichen Ära Nationalstaat, auch wo er multinational ist; Beispiel die Schweiz. Akkumulation ist gleichbedeutend mit Expansion und Zuschlag einer größeren Profitmasse zu einem gegebenen Kapital. Im Verhältnis zum Staat erscheint das als Widerspruch von zu überwindender und gesetzter Schranke. Zentralisation rüttelt mächtig an der Schranke; alternativ zu risikoreicher Ausweitung der Profitproduktion hat sich das Kapital noch allemal für Besitzstandssicherung entschieden. Periodische Unterbrechungen des Akkumulationsprozesses, brachliegende Kapazitäten, Vernichtung fungierenden Kapitals, Massenarbeitslosigkeit, Krise und Krieg liegen in der Logik dieses Prozesses. Die Akkumulationstheorie legt den Schluß auf die innere Unmöglichkeit eines Staatskapitalismus nahe. Ein Konsequenzschluß, der bei Mattick ausgespart bleibt, war doch immerhin eine Art von Staatskapitalismus durch Lenin und die Bolschewiki Realität geworden. Sein Urteil changiert deshalb zwischen Prophezeiungen, daß es damit kein gutes Ende nehmen könne, und Mutmaßungen über das Beharrungsvermögen eines Systems, das in seinem Herrschaftsbereich Verfügungsmacht über die gesellschaftlichen Ressourcen gewonnen hatte und insoweit Unabhängigkeit vom Profitmotiv.
Unter Entwicklungstheoretikern der unterschiedlichen politischen couleur hat der Staatskapitalismus bzw. -sozialismus bisher als Paradigma abweichender sozialökonomischer Entwicklung gegolten. Der dabei in Anspruch genommene Entwicklungsbegriff gab sich freilich so affirmativ wie es Akkumulationsbegriff und ursprüngliche Akkumulation bei Marx nicht sind. Der Staat habe durch seine Verfügungsmacht über das Eigentum, sagt man, das Geschäft der ursprünglichen Akkumulation besorgt. Rückläufige Akkumulationsraten hatten für das Modell keine theoretische Relevanz. Daß von einem bestimmten Punkt der Konzentration und Zentralisation des Kapitals an das höher akkumulierte Kapital in den imperialistischen Metropolen den niedriger akkumulierten und ganz allgemein dem Rest der Welt die Entwicklungsbedingungen aufherrscht, wurde zum Industrialisierungsproblem verkürzt. Darunter verschwinden die hausgemachten Probleme der Kapitalakkumulation ebenso wie den rückständigen Ländern ein Standard vorgegaukelt wird, zu dessen Realisierung die Voraussetzungen fehlen und der obendrein in sich brüchig ist.
Gemessen an den einzigen Maßstäben, die es dafür gibt, den westeuropäischen, ist die ursprüngliche Akkumulation in der Sowjetunion nur rudimentär geglückt, im ganzen mißlungen. Die Disparitäten zwischen Industrie und Landwirtschaft haben sich zu keinem Zeitpunkt ausgeglichen, sondern bis zum Ende perpetuiert und kumuliert. Entscheidend dafür dürfte nicht die als Trauma fortwirkende Zwangskollektivierung sein (in der DDR z.B. gibt es kein solches Trauma), sondern unschlichtbare Zielkonflikte. Kaum weniger schwer wiegen Disparitäten zwischen Industrialisierung und Infrastruktur. In den westeuropäisch geprägten Gesellschaften werden Aufwendungen für die Infrastruktur in aller Regel durch Steueraufkommen finanziert. Das Akkumulationsinteresse privater Kapitale und die Höhe der Kapitalbildung sind die ausschlaggebenden Faktoren für das Niveau der Infrastruktur.- Schließlich können auch auf dem industriellen Sektor im engeren Sinne die Aufgaben einer ursprünglichen Akkumulation für endgültig gelöst nur dann gelten, wenn sich der Kapitalbildungsprozeß so verstetigt hat, daß sich der Ersatz von Anlageinvestitionen im großen und ganzen im selben Rhythmus vollzieht, wie der Verschleiß ihres physischen Substrats.
Die Transformation des Staatskapitalismus in eine Art von Protosozialismus - Bahro verwendet diesen Begriff in seiner "Alternative" - ist mißglückt, weil rationale Planung der Ressourcen und Mitwettbewerb auf den vom Wertgesetz regulierten Märkten einander ausschließende Zielbestimmungen sind. Obwohl es im Staatskapitalismus keine wirkliche Akkumulation von Kapital gibt, sollte das Mehrprodukt in investiver Verwendung so funktionieren, als ob es Kapital wäre. Ohne Wertproduktion sollten sich die Produktivkräfte nach Art, Umfang und Richtung gerade so entwickeln, wie sie es zur Steigerung von relativem Mehrwert unter den Bedingungen privater Kapitalkonkurrenz tun. Was der Staatskapitalismus akkumuliert, erscheint nur in seiner Außenbeziehung als Kapital, da am Sozialprodukt keine Eigentumstitel von Privateigentümern haften. Die eigentliche Tragödie am Zusammenbruch des östlichen Staatskapitalismus besteht darin, daß der Privatkapitalismus keine andere Alternative zuzulassen scheint als eben diese: den Staatskapitalismus.
Rationale Planung oder planvolle Durchstrukturierung kennzeichnet jede öffentliche Verwaltung und jeden privatkapitalistischen Konzern. Nur dort, wo sie am nötigsten wäre - auf gesamtgesellschaftlicher Ebene - soll sie nicht möglich sein. Das ist vollkommen absurd. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen ihres Funktionierens gehört allerdings, daß ihre Zielvorgaben und Effizienskriterien an den Bedürfnissen festgemacht sind, für die sie da ist, und nirgendwo sonst. Daß die Staatswirtschaften sowjetischen Typs am Zentralismus ihrer Planung gescheitert seien, ist ein Ammenmärchen; sie sind gescheitert an Außensteuerung und Ideologisierung, an aufgezwungener Defensive und Machtallüren, an ihren prioritären Produktionsvorgaben für Potemkinsche Dörfer, Rüstungsgüter, Weltraumschrott und Propaganda. Für die Linke eine Chance zur Selbstbesinnung ist der Bankrott des östlichen Staatskapitalismus für die herrschende Klasse nicht weniger Chance - und das wird begriffen -, nämlich mit dem Wort Sozialismus zusammen jeden Gedanken an eine mögliche Alternative, am besten Denken selbst auszutilgen, weil anders die Fortdauer des Mangels und erbarmungswürdiger Not nicht für bloß ephemer und eigentlich nichtexistent hinwegzudeklarieren ist.
(2) "Linke" Marktapologie, auf den Kern reduziert, nimmt für sich ein Rationalitätsargument in Anspruch, das sich etwa so nachkonstruieren läßt: verausgabte Arbeitszeit bedarf, um als gesellschaftlich bestimmt zu gelten (gesellschaftlich notwendige Arbeit) einer Definitionsmacht, die sie zu tatsächlich existierenden (gesellschaftlichen) Bedürfnissen in Beziehung setzt. Zu leisten sei die Vermittlung zwischen diversifizierten Produktions- und Bedürfnisstrukturen durch einen Mechanismus von angemessener Elastizität. In einem sowjetischen Beitrag von 1987 (deutsch in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Berlin, 41 (1988) 4, S. 350 - 363; J.W. Schischkow: Das historische Schicksal der Warenproduktion) finde ich folgende Argumentation in direkter Anknüpfung an eine Bemerkung von Marx (3. Band des "Kapital", MEW 25, 859).
Marx: Es "bleibt, nach Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, aber mit Beibehaltung gesellschaftlicher Produktion, die Wertbestimmung vorherrschend in dem Sinn, daß die Regelung der Arbeitszeit und die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter die verschiednen Produktionsgruppen, endlich die Buchführung hierüber, wesentlicher denn je wird." Was aber heißt - fragt Schischkow - Wertbestimmung vom Standpunkt der Gesamtarbeitszeit und der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf die verschiedenen Produktionsgruppen? Und fährt fort: "In demselben Band seines Hauptwerks wies Marx nach, daß der Wert einer Ware nicht durch die Arbeitszeit bestimmt wird, die unmittelbar zu ihrer Produktion aufgewandt wurde, sondern durch die zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Und dieses gesellschaftliche Maß des Aufwands wird allein auf dem Markt bestimmt, in der 'Konkurrenz' von Produkten einer Arbeit, die von verschiedenen Individuen (oder Arbeitskollektiven) unter verschiedenen - besten, mittleren oder schlechtesten - technisch-ökonomischen Bedingungen aufgewandt wurde." Kleine Ungenauigkeiten im Ausdruck und schon verschwindet ein Ausbeutungsverhältnis im "Aufwand".
"Der Markt ist in der gegenwärtigen historischen Entwicklungsetappe" - so liest sich das Resumee - "...unersetzbar, weil er über die Preise der Waren und der Produktionsfaktoren den Wirtschaftssubjekten rechtzeitige und relativ genaue Information liefert über die sich quantitativ und qualitativ unablässig ändernden Bedürfnisse der Gesellschaft an konkreten Waren und Leistungen sowie über den ebenso veränderlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand für deren Produktion. Der Marktmechanismus gleicht einem hochleistungsfähigen Computer..." Und: "Die Fortschritte der Informatik, der computergestützten Leitungssysteme und der Informationsverarbeitung mit modernsten Computern lassen hoffen, daß es der Menschheit mit der Zeit gelingen wird, den naturhistorisch entstandenen Marktmechanismus durch die elektronische Rechentechnik zu ersetzen."
Dieser sowjetische Autor kommt zum Kern der Sache; er knüpft an eine Problemformulierung an, die er bei Marx gefunden hat, und formuliert dazu eine Antwort in affirmativ gewendeten Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie. Das geschieht unter Vertauschung dessen, was man technische und politische Problemlösungskompetenz nennen kann. Eine Gesellschaft, ihrer selbst mächtig, wird mit natürlichen und menschlichen Ressourcen und Potenzen so pfleglich als möglich umgehen, weshalb Wertbestimmung "in dem Sinn" wesentlicher denn je wird. Was sich unser Autor so blauäugig vom Siegeszug des Computers erhofft - technische Problemlösungskompetenz -, hatte für Marx mit Sicherheit seinen Ort im vernünftigen Diskurs der Assoziierten.
Wie kann eine soziale Revolution mit nicht mehr nur kapitalistisch geprägten Sozialbeziehungen in einer kapitalistischen Umwelt und bei fortdauernder Weltmarkthegemonie des Kapitals bestehen? Diese Frage hat sich für Marx und Engels nicht gestellt. Sie haben verschiedentlich die frühsozialistische Utopie kritisiert, wonach sich Arbeitsprodukte nach Maßgabe der inkorporierten Arbeitsquanten unmittelbar würden austauschen können. Schischkow nimmt im Anschluß an das Marx-Zitat auf einen diesbezüglichen Passus Bezug, Engels' Kritik an Rodbertus im Vorwort zur deutschen Erstausgabe von "Das Elend der Philosophie" von 1885 (MEW 21,184).
"Indem die Konkurrenz innerhalb einer Gesellschaft austauschender Warenproduzenten das Wertgesetz der Warenproduktion zur Geltung bringt, setzt sie eben dadurch die unter den Umständen einzig mögliche Organisation und Ordnung der gesellschaftlichen Produktion durch. (Hervorhebungen von mir) Nur vermittelst der Entwertung oder Überwertung der Produkte werden die einzelnen Warenproduzenten mit der Nase darauf gestoßen, was und wieviel davon die Gesellschaft braucht oder nicht braucht. Gerade diesen einzigen Regulator aber will die von Rodbertus mitvertretene Utopie abschaffen." In den folgenden Sätzen könnte sich das bei ungebrochener kapitalistischer Weltmarktdominanz gescheiterte System administrativer Planung abporträtiert finden: "Und wenn wir fragen, welche Garantie wir haben, daß von jedem Produkt die nötige Quantität und nicht mehr produziert wird, daß wir nicht an Korn und Fleisch Hunger leiden, während wir im Rübenzucker ersticken und im Kartoffelschnaps ersaufen, daß wir nicht Hosen genug haben, um unsere Blöße zu bedecken, während die Hosenknöpfe millionenweise umherwimmeln - so zeigt uns Rodbertus triumphierend seine famose Rechnung, wonach für jedes Pfund Zucker, für jedes unverkaufte Faß Schnaps, für jeden unannähbaren Hosenknopf der richtige Schein ausgestellt worden ist, eine Rechnung, die genau 'aufgeht', nach der 'alle Ansprüche befriedigt werden und die Liquidation richtig vermittelt' ist. Und wer's nicht glaubt, der wende sich an den Regierungs-Hauptkassen-Rentamtskalkulator in Pommern ( - Rodbertus war pommerscher Rittergutsbesitzer - ), der die Rechnung revidiert und richtig befunden und der als noch nie im Kassendefekt ertappt durchaus glaubwürdig ist."
Schließlich zum selben Zusammenhang Marx in "Zur Kritik der Politischen Ökonomie": "Jede Ware ist unmittelbar Geld. Dies war Grays Theorie, abgeleitet aus seiner unvollständigen und daher falschen Analyse der Ware. Die 'organische' Konstruktion von 'Arbeitsgeld' und 'Nationalbank' und 'Warendocks' ist nur ein Traumgebild, worin das Dogma als weltbeherrschendes Gesetz vorgegaukelt wird. Das Dogma, daß die Ware unmittelbar Geld oder die in ihr enthaltene Sonderarbeit des Privatindividuums unmittelbar gesellschaftliche Arbeit ist, wird natürlich nicht dadurch wahr, daß eine Bank an es glaubt und ihm gemäß operiert. Der Bankrott würde in solchem Falle vielmehr die Rolle der praktischen Kritik übernehmen." (MEW 13, 68)
Marx und Engels ist es nicht in den Sinn gekommen, einen von politischer Willensbildung abstrahierenden idealen oder Regulationsmechanismus an sich alternativ zum bestehenden, ökonomisch vermittelten Herrschaftsverhältnis zu entwerfen. Von der famosen Computerwelt technokratischer Omnipotenz gilt, was für eine Vielzahl technischer Inventionen Gültigkeit hat: ob sie zu Mitteln der Befreiung oder fortdauernder und subtilerer Beherrschung ausschlagen, ist ihnen nicht an die Stirn geschrieben, sondern hängt einzig vom politischen Willen resp. den politischen Machtverhältnissen ab.
"Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte...(Es sei) überhaupt fehlerhaft, von der sogenannten Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent (Hervorh. von mir; die Marxschen im Text lasse ich beiseite) auf sie zu legen. Die jedesmalige Verteilung der Konsumtionsmittel ist nur eine Folge der Verteilung der Produktionsbedingungen; letztere Verteilung aber ist ein Charakter der Produktionsweise selbst." (Aus "Kritik des Gothaer Programms", MEW 19,19ff.)
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Koexistenz von krassem Mangel und Not neben Überfluß und Verschwendung erzeugt das Phantom einer sich ins schlecht Unendliche verlängernden Bedürftigkeit. Was im Konkurrenzkampf der Weltgesellschaft - und nur in diesem Sinne ist sie es - erobert oder verfehlt wird, sind die materiellen, physischen Substrate, von denen die Lebenschance ihrer Mitglieder abhängt, weshalb Bedürftigkeit vor allem oder ausschließlich als unersättliche Notdurft nach warenförmigen Produkten oder materiellen Gütern erscheint. Daß ausgerechnet Marx für die Kapital induzierte Explosion von Produktion und Bedürfnis als Kronzeuge vereinnahmt - oder gelegentlich auch auf die Anklagebank gesetzt wird -, als hätte er Produktion oder Konsum - die Ameisengesellschaft oder das Schlaraffenland - zum Credo erhoben, macht keinen Sinn. "Linke" Marktapologie hält sich an die kapitalistisch verunstalteten Bedürfnisse als Indikator für das, wovon bei Marx gelegentlich als von reichen oder entwickelten Bedürfnissen die Rede ist.
(3) Gibt es einen Zusammenhang zwischen der relativen Stabilität des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten - eine Phase, die jetzt endgültig zu Ende gegangen ist - und der Existenz von staatskapitalistischen bzw. staatssozialistischen Gesellschaften? Grenzmarkierte Märkte - grenzmarkiert wie auch immer - wirken als Schranken für die Kapitalexpansion. Dagegen, daß die Expansionsschranke nicht zur Akkumulationsschranke wird, hilft nur die Ausdehnung des "Binnen"marktes. Ein Lohnniveau in ungefährer Äquivalenz zum Wert der Ware Arbeitskraft schafft kaufkräftige Nachfrage, was zwar einerseits auf die Profitrate drückt, andererseits durch Ausdehnung der Produktion und des Kleinkapitalismus eine größere Mehrwertmasse verfügbar macht, die in die Profitratenbewegung eingeht. Die Meinung, daß die bloße Existenz des Staatssozialismus dem Kapital sozialstaatliche Konzessionen abgenötigt habe, ist so kaum die halbe Wahrheit.
Um das Scheitern der Perestroika als eines sozialistisch intendierten Umbau- und Erneuerungsversuchs zu verstehen, wird man bei der Stagnation der sowjetischen Landwirtschaft als eines Schlüsselproblems ansetzen müssen. In der DDR hat die Landwirtschaft auf genossenschaftlicher Basis geleistet, was unter gegebenen Bedingungen volkswirtschaftlich von ihr erwartet wurde. Verglichen mit ihrer landwirtschaftlichen Anbau- und Nutzungsfläche verfügt(e) die SU über ein gewaltiges Areal; großflächige Bebauung hätte das Land zu einem der ersten Nahrungsmittelexporteure der Welt machen müssen. Mentalitätsgründe scheiden bei Verursachungserwägungen zur Erklärung imputierter Stagnation als völlig unzulänglich aus. Wie stand es um die Infrastruktur für Lagerung, Transport und Distribution landwirtschaftlicher Produkte? An welchen Investitionsvorentscheidungen hatte die Landwirtschaft als besonders schwere Hypothek zu tragen? Warum kommen Produktionsfragen des Primärsektors während der Perestroika nicht unter akkumulationstheoretischen Prämissen zur Diskussion, um stattdessen unter Versorgungsfragen - Engpässe in der Lebensmittelversorgung - abgehandelt zu werden? Die Vermutung liegt nahe, daß sich der Ausgleich bornierter Ressortinteressen für theoretische Verallgemeinerung gehalten hat.
Der Zusammenbruch der RGW-Staaten sei, so will es die öffentliche Meinung, nicht Ergebnis sozialökonomischer Konstellationen und politischer Kräfteverhältnisse, sondern der Funktionsuntüchtigkeit der Planwirtschaft geschuldet. Von solchem Verdikt über die Planwirtschaft unterscheiden sich auch Stellungnahmen der PDS und aus Gruppierungen westdeutscher Sozialisten nur graduell, nicht prinzipiell. Der langjährige Planungschef der DDR, Gerhard Schürer, beschließt ein Interview mit den Worten: "Das persönliche, das private Eigentum...ist den Menschen verständlich, es schafft Innovationskraft, Risikobereitschaft und Verantwortlichkeit. Das klingt, von einem Sozialisten ausgesprochen, schlimm. Aber die Erfahrungen drängen zu solchen Schlußfolgerungen." ("ohnmacht. DDR-Funktionäre sagen aus", Bln. '92, 188)
Ich bin entsetzt über die Leichtfertigkeit, mit der über Planungserfahrungen der DDR, der Sowjetunion und der anderen RGW- Staaten hinweggegangen wird, ohne daß es eine Diskussion über Funktionsstärken und -schwächen, exogen bzw. endogen wirkenden Faktoren usw. auch nur ansatzweise gegeben hätte. Man könnte die Materie künftigen Historikern zu differenzierterer Betrachtung überlassen, wenn die Alternative vom Markt und dessen sogenannten Selbstregulierungskräften nicht so fatal wäre. Der Markt ist keine unabhängige Variable; in der letzten, längsten Prosperitätsphase in der Geschichte des Kapitalismus, die jetzt zu Ende gegangen ist, hat er Produktion und Konsumtion unter verheerenden Neben- und Folgewirkungen für die Umwelt und das ökologische Gleichgewicht des Planeten zusammengebracht; in einer Depressionsphase stehen unausgelastete Kapazitäten, Vernichtung produktiver Ressourcen und eine Nachfrage ohne Kaufkraft einander gegenüber. Es ist kaum ein Menschenalter her, daß Nichtmarxisten, bürgerliche Gelehrte ihrer Überzeugung beredt Ausdruck verliehen haben - wirtschaftliche Gesamtplanung, Planwirtschaft, werde dem Markt und der Marktanarchie überlegen sein, wie immer sich die Beziehungen im einzelnen gestalten mögen. Ich kann auch unter diesem Aspekt nicht unwidersprochen hinnehmen, daß alles, was in 70 bzw. 40 Jahren an Planideen vorgetragen, an Planungsmechanismen entwickelt und erprobt worden ist, Makulatur sein soll.
Die für unsere Epoche charakteristische Unternehmensform, der nationale und multinationale Konzern, ist ein planwirtschaftliches Reich im Kleinen; nur daß ihre Manager eben nicht im Allgemeininteresse, sondern in dem der Kapitaleigner walten. Was ist von Planideen und Planungsmechanismen für die Zukunft zu lernen, die unter Verhältnissen entwickelt worden sind, die nicht mehr unmittelbar privatkapitalistischen Verwertungszwängen unterworfen waren (mittelbar schon noch durch den kapitalistischen Weltmarkt)? Nicht an der Dummheit von Planbürokraten ist ja die Planwirtschaft der DDR letztlich gescheitert, sondern an politischen Vorgaben, an Machtbeziehungen (Ost - West) und Herrschaftsverhältnissen (Stalinismus). Der Sozialismus - so könnte man zugespitzt sagen - ist nicht an der Planwirtschaft gescheitert, sondern die Planwirtschaft am "Sozialismus", nämlich an Bedingungen, die mit rationaler Planung zuletzt unvereinbar sind.
Politische Ökonomie, der zentrale Gegenstand der Marxschen Kritik, wurde im Sowjetmarxismus positiv besetzt oder affirmativ umgebogen, weil Sozialismus als "Verwaltung der Sachen" mißlang bzw. nur durch Vertagung auf der Tagesordnung zu halten war. Entgegen meinen Erwartungen hat die "Wende" keine Rückbesinnung auf die "Kritik der politischen Ökonomie" eingeleitet. Die Westlinke ist vielmehr zuhauf davondesertiert, wobei sie sich einen Begriff von Gramsci - den der "Zivilgesellschaft" - als goldene Brücke zurechtgelegt hat.
Für Marx und Engels waren Sozialismus und Planwirtschaft dasselbe, und sie haben nie einen Zweifel daran gelassen, was sie darunter verstehen: Sachwaltung über den Produktionsprozeß gemäß Bedarf und Bedürfnissen, "Verwaltung von Sachen". Die Hauptschriften von Marx tragen im Titel bzw. Untertitel "Kritik der politischen Ökonomie", womit ja ausgedrückt werden soll, daß der Kapitalismus, dem die Kritik gilt, ein ökonomisch vermitteltes Herrschaftsverhältnis ist, rein-ökonomisch dem Schein oder Augenschein nach, politisch in Wahrheit. Eine von Herrschaftsverhältnissen befreite Ökonomie steht für Marx nicht mehr unter politischen Vorgaben oder Zwängen, sondern dient als Sachwaltung den ihre vernünftigen Zwecke verfolgenden Gesellschaftsmitgliedern. Die Erfindung einer "politischen Ökonomie des Sozialismus", wie das in der Sowjetunion, der DDR usw. der Fall gewesen ist, schlägt dem Sinn und Buchstaben der Schriften von Marx und Engels krass ins Gesicht. Sozialismus ist die Selbstbestimmung der Gesellschaftsmitglieder über ihren eigenen Lebensprozeß und beendet die Herrschaft der politischen Ökonomie, gerade so wie der Kapitalismus das unmittelbare Herrschaftsverhältnis des Feudalismus gebrochen hat.
Die Überlegenheit des Kapitalismus über die Ökonomien der RGW- Staaten hat nicht auf irgendwelchen Wunderwirkungen des Marktes oder der sogenannten Marktkräfte beruht, sondern auf dem Akkumulationsvorsprung des europäischen und nordamerikanischen Kapitals, wofür die Grundlagen schon im 19. Jahrhundert und im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts gelegt worden sind. Das wird auch belegt durch die Armutsentwicklung in den Ländern der Dritten Welt, die aus dem kapitalistischen Weltmarkt in ihrer Mehrzahl niemals ausgebrochen sind. Gescheitert sind alle Versuche nachholender Industrialisierung mit staatskapitalistischen Methoden. Beweis für die Überlegenheit des "Marktes" über die sozialistische Planwirtschaft im wohlverstandenen Marxschen Sinne ist es nicht.
Daß sich die russischen Kommunisten, die Sowjetunion und schließlich die RGW-Staaten auf ein Konkurrenzverhältnis zum Weltkapital eingelassen haben - wobei man darüber streiten kann, ob es dazu überhaupt eine Alternative gab -, war ihr Verderben. Staats- und Systemschutzbedürfnisse mußten von dem Augenblick an, wo sie Eigenleben gewannen, Selbstzweck wurden, nicht nur das demokratische Leben, sondern auch die Ökonomie strangulieren.
Marktverhältnisse bringen nicht - wie es die kapitalistische Propaganda den Menschen einreden will - gesellschaftlichen Bedarf/individuelle Bedürfnisse (wozu noch immer vorrangig anständige Ernährung, menschenwürdiges Wohnen usw. gehören) und produktive Potenzen zusammen, sondern zahlungsfähige Nachfrage und dafür produzierte Waren, auch wenn es sich dabei um kalkulierten Schwachsinn handelt, der nur die Müllberge vermehrt, die Umwelt schädigt und das globale ökologische Gleichgewicht zerstört. Daß der Sozialismus durch Marktelemente angereichert werden müsse - wie das heute so heißt -, weil anders der Produktion nicht die richtigen Signale zukommen würden, ist ein Scheinproblem, worin sich nur spiegelt, daß es bis heute nicht gelungen ist, die Dominanz des Weltkapitals nachhaltig zu brechen.
Eine alternative Wirtschaft kann nur eine sozialistische Planwirtschaft sein, in der alle Abläufe von der Produktionszielbestimmung bis zur Güterverteilung demokratischen Vorgaben und demokratischer Kontrolle unterliegen durch dafür geeignete Repräsentativorgane der Gesellschaftsmitglieder im ganzen, wie z.B. Wirtschaftsparlamente oder Räte. Daß man beim Stichwort Güterverteilung Mangelverwaltung assoziiert, ist dem staatskapitalistischen Fiasko der RGW-Ökonomie geschuldet; man denke nur an die Nahrungsmittelüberschüsse in den westlichen Industriestaaten bei großenteils subventionierter Landwirtschaft und daß es gerade die Marktmechanismen sind, die die Schere zwischen Satten und Übersatten auf der einen Seite, Hunger und Elend auf der anderen immer weiter öffnen.
Die konstitutive Unfähigkeit des Kapitalismus, in der Sprache der Apologie also der Marktwirtschaft oder des Marktes, die Allokation der Ressourcen auf eine nicht-destruktive Weise zu bewerkstelligen, hält den Sozialismus auf der Tagesordnung, solange überhaupt noch an Alternativen gedacht werden kann. Der Begriff Allokation ist bezogen auf die Kombination der Produktionsfaktoren (natürliche und menschliche Ressourcen, lebendige und vergegenständlichte Arbeit) unter dem Gesichtspunkt optimaler Produktionsergebnisse. In diesem Sinne ist er ein Terminus technicus. Als solcher verfügt er weder über Definitionsmacht für besagtes Optimum noch für die Verhältnisse oder Umstände (Produktionsverhältnisse), unter denen sich gedachte Faktoren optimal kombinieren. Im affirmativen Gebrauch des Terminus in der aktuellen Literatur ist ein faktisch gegebener Standard kapitalistischer Warenproduktion als Kriterium für das Optimum unterstellt und damit zugleich kapitalistische Kombination der Produktionsfaktoren. Ich sehe keine prinzipiellen Schwierigkeiten, mit diesem Begriff ein optimales Beziehungsverhältnis zwischen definierten gesellschaftlichen Zielen und produktiven Ressourcen auszudrücken. Allokation hieße dann: Kombination der Produktionsfaktoren zum Zwecke optimaler Realisierung gesellschaftlicher Vorgaben (Demokratische Planwirtschaft). Als Terminus technicus ist Allokation nicht festgelegt, vielmehr neutral gegenüber der Entscheidung für einfache oder erweiterte Reproduktion bzw. wohin sich die Reproduktion erweitern soll.
Aus dem Systemvergleich läßt sich keine oberste Bezugsgröße "Effizienz" ableiten. Effizienz ist keine platonische Idee, sondern unterliegt gesellschaftlicher Definitionsmacht, der von Interessen und Bedürfnissen. Die auf genossenschaftlicher Basis produzierende Landwirtschaft der DDR ist in einem bestimmten Sinne effizient gewesen, die der Sowjetunion war es nicht. Beheimatet ist der Effizienzbegriff in der bürgerlich-kapitalistischen Betriebswirtschaft. Die lineare Gerichtetheit von Effizienz, eines Bewirkens, macht den Begriff überhaupt problematisch, da der Stoffwechselprozeß zwischen Mensch und Natur Rückkopplung einschließt. Dem Zusammenhang von "Effizienz" und apologetisierter wissenschaftlich-technischer Revolution wäre genauer nachzugehen.
Inzwischen ist der Begriff einer höheren formalen Rationalität in die Diskussion eingebracht worden mit Bezug auf Max Weber. Zu Unrecht. § 9 von "Wirtschaft und Gesellschaft" (1.Halbband, 1. Teil, Kap. II) beginnt mit einer Definition: Als formale Rationalität eines Wirtschaftens soll hier das Maß der ihm möglichen und von ihm wirklich angewendeten Rechnung bezeichnet werden." Dazu führt § 13 aus: "Die formale 'Rationalität' der Geldrechnung ist also an sehr spezifische materiale Bedingungen geknüpft... 1. den Marktkampf... Geldpreise sind Kampf- und Kompromißprodukte, also Erzeugnisse von Machtkonstellationen. 'Geld' ist keine harmlose 'Anweisung auf unbestimmte Nutzleistungen', welche man ohne grundsätzliche Ausschaltung des durch Kampf von Menschen mit Menschen geprägten Charakters der Preise beliebig umgestalten könnte, sondern primär: Kampfmittel und Kampfpreis, Rechnungsmittel aber nur in der Form des quantitativen Schätzungsausdrucks von Interessenkampfchancen... Aber unter allen Umständen gilt: daß die formale Rationalität erst in Verbindung mit der Art der Einkommensverteilung etwas über die Art der materiellen Versorgung besagt." (Hervorh. vom Verf.) Formale Rationalität - und anders kann ich Weber nicht verstehen - ist Rechenhaftigkeit; ein Bescheid, von dem ich meine, daß er vernünftig ist.
(4) An der Konzeptionslosigkeit von Perestroika ist die Demokratisierung des Staatssozialismus gescheitert. Wo im entscheidenden historischen Augenblick sozialistische Demokraten gefordert gewesen wären, ist das Gesetz des Handelns Kopflosen zugefallen. Wie sie der Zufall einer nach bürokratischen Kriterien bestimmten Auslese nach oben geschwemmt hatte. Daß sie der Konterrevolution die Tür öffnen würden, hat die Konterrevolution nicht weniger überrascht als die Zeitgenossenschaft überhaupt. Zugleich unterscheidet sich das Wendegeschehen vom klassischen Erscheinungsbild der Konterrevolution dadurch, daß es sich unabhängig vom Bewußtsein von Beteiligten und Betroffenen vollzog, gerade so, als ob die Geschichte wirklich, wie von Marx einmal glossiert, eine "aparte Person" wäre. Die ökonomistische Interpretation greift zu kurz; Gorbatschow hat sich bis zum Schluß als Vollzugsbeamter der Geschichte gedünkt; so ist es Generationen von Parteibuch- Kommunisten, insbesondere seit und durch Stalin, eingeimpft worden.
Beim Studium von Dokumenten zur KPD- und Komintern-Geschichte stößt man auf ein Tableau historischer Möglichkeiten und verpaßter Chancen. Was von den regierenden kommunistischen Parteien bis zum Schluß nicht als ein Jungbrunnen erkannt worden ist, um sich an Haupt und Gliedern zu regenerieren. Warum hat Gorbatschows Lieblingsausrede vom "Leben", das es richten werde, solchen Anklang gefunden? Die Akkumulationsdynamik des Kapitals ist dieses blinde Fenster und Sozialismus in jedem denkbaren Sinne der Gegensatz dazu; der Versuch, der Verfallenheit an zweite (soziale) Natur gesellschaftliche Subjektivität, Selbstbestimmung entgegenzusetzen. Warum hat Gorbatschow wechselweise die Rolle des Prahlhans und des Bankrotteurs spielen können? Schließlich gab es ja jene (kurze) Periode, in der er die militärische und diplomatische Deeskalation, die weltweit und zurecht begrüßt wurde, mit der Stärke des Sozialismus begründet hat.
Nach meiner Überzeugung ist die "Wende" ein Beispiel für Kontingenz in der Geschichte. Gar nicht so unähnlich der Katastrophe Stalin. Dessen Untaten waren keiner Zwangsläufigkeit aus dem Handlungsnotstand der Bolschewiki zu Ende der zwanziger Jahre geschuldet; und ebensowenig gibt es einen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen Kapitulation und sogenannten Defiziten, an denen es zu keinem Zeitpunkt gemangelt hat, streng genommen seit der Oktoberrevolution. Noch die Redewendung von den kapitalistischen Siegern ist ideologisch, weil es keine Besiegten gegeben hat, dafür aber Überläufer en masse. Solange Gesellschaft staatlich organisiert ist, gibt es keine Veranlassung, von der Auffassung zurückzutreten, daß die Verstaatlichung der grundlegenden Produktionsmittel, -voraussetzungen und Infrastruktur ein unvermeidlicher Zwischenschritt zu ihrer Vergesellschaftung ist.
(5) Für Preobrashenski ("Die Neue Ökonomik", 1926, deutsch Berlin 1971) ist das Ringen um den Sozialismus ein Kampf mit dem Wertgesetz. Sozialistisch war nicht nur nach dem Verständnis der Bolschewiki der verstaatlichte Sektor, umbrandet vom inneren Markt der NEP-Periode und dem kapitalistischen Weltmarkt. Die antagonistische Koexistenz der beiden Sektoren ist gesetzmäßig mit einem Ungleichgewicht verbunden, das nach der einen oder anderen Seite zur Auflösung tendiert: von seiten des Marktes spontan, während es für die Gegenseite der Bewußtheit über Art und Umfang der notwendigen Regulationen, der Theorie, bedarf. Hier hat der Begriff der Gesetzmäßigkeit, wie ihn Preobrashenski gebraucht, seinen Ort, nicht zu verwechseln mit dem ontologisierten Gesetzesbegriff von Diamat. Allenfalls könnte man sagen, daß der etwas laxe Umgang mit dem Gesetzesbegriff und der zu großzügige Gebrauch, den Preobrashenski davon macht, der Dogmatisierung Vorschub geleistet habe. In welchem Sinne er davon Gebrauch macht, sagt er selbst auf S.75 in einer Anmerkung: "Selbst wenn es wahr wäre, daß der Begriff 'Gesetz' verschwindet, wo eine bewußte Leitung der Produktion besteht, könnten wir ruhig weiter von Gesetz sprechen, wenn auch nur, weil das Bewußtsein und die Voraussicht bei uns noch recht bescheiden entwickelt sind."
Das von Preobrashenski ins Zentrum gerückte Gesetz der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation formuliert er als Tendenzgesetz. "Wir nennen das Gesetz der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation die Gesamtsumme der bewußten und halbbewußten Tendenzen in der Staatswirtschaft, die auf die Erweiterung und Stärkung der kollektiven Organisation der Arbeit in der Sowjetwirtschaft gerichtet sind und die dem Sowjetstaat auf der Grundlage der Notwendigkeit diktiert werden: 1) bestimmte Proportionen in der Distribution der Produktivkräfte, die sich auf der Basis des Kampfes gegen das Wertgesetz im In- und Ausland bilden,...zu erreichen; 2) bestimmte Proportionen der Akkumulation an materiellen Hilfsmitteln für die erweiterte Reproduktion (zu erreichen)...bei drohender wirtschaftlicher Disproportionierung..., bei Nichterfüllung der in den folgenden Jahren notwendigen Proportionen für die erweiterte sozialistische Reproduktion und eine Schwächung des ganzen Systems in seinem Kampf mit der Waren-kapitalistischen Produktion im In- und Ausland." (187; im Text gesperrt; der schlechte Stil ist der Übersetzung geschuldet, von der die Herausgeber sagen, daß sie sich so eng wie möglich an das russische Original halte.)
Preobrashenskis Schrift hat die Probleme, vor denen die junge Sowjetunion in den zwanziger Jahren stand, sowohl unter den seinerzeit aktuellen wie den strategischen und perspektivischen Gesichtspunkten benannt. Darin liegt ihre herausragende Bedeutung. Eine ganz andere Frage ist, daß schon zum Zeitpunkt der Publikation keine Chance mehr bestand, mit den von ihm aufgeworfenen theoretischen Fragen politisch zu intervenieren.
(6) Die Tragödie der bolschewistischen Partei und dadurch der SU bestand darin, daß sie, wo nicht auf den Kopf, so doch auf die Autorität eines Einzelnen, Lenins, gestellt war. So daß seine engsten Mitarbeiter, die Mitglieder des Politbüros, sein Ausscheiden aus der politischen Arbeit als Vakanz empfanden, auf die sie mit gegenseitigem Mißtrauen reagierten. Es war sicher eine der größten Ungeschicklichkeiten Trotzkis, auf persönliche Kränkungen und politisch in die Defensive gedrängt mit einem Angriff auf Sinowjew und Kamenew zu antworten ("Die Lehren des Oktober", Herbst '24).
Trotzkis Essay von ca. 60 Druckseiten ist ein revolutionstheoretischer Rekapitulationsversuch am Beispiel der Widerstände, mit denen es Lenin 1917 innerhalb der bolschewistischen Partei und ihres engsten Führungskreises zu tun hatte. Aktueller Bezugspunkt ist der gescheiterte deutsche Oktober 1923. Seiner Einschätzung nach war eine ausgesprochen günstige revolutionäre Situation verpaßt worden. Auf eine bestimmtere Lageeinschätzung läßt er sich nicht ein. Es gibt auch keine direkten Schuldzuweisungen an die Komintern, also die Adresse Sinowjews. Es sei denn, man rechnet der Kominternführung unmittelbar die Verantwortlichkeit für die deutsche Parteiführung zu. Über diese urteilt Trozki ohne Namensnennung - gemeint sind Brandler und Thalheimer - vernichtend.
Für den unbefangenen Leser laufen die Darlegungen Trotzkis auf die Pointe hinaus, daß sich Revolutionen nicht von selbst machen, sondern der Führung bedürfen, die sich durch theoretische und strategische Klarheit, realistische Lageeinschätzung, ein Höchstmaß an Umsicht und blitzschnelles Reaktionsvermögen auszeichnet. Die Auseinandersetzung um die Rolle insbesondere Kamenews und Sinowjews in Opposition zu Lenin während der verschiedenen Phasen der Revolution vom Februar bis zum Oktober führt er durchaus in Leninschem Geist, will sagen: in einer Art und Weise, wie bolschewistische Fraktionsauseinandersetzungen auch von Lenin geführt worden sind. Dabei war das Ziel ja immer, durch Argumente zu überzeugen. Was man Lenins Nachsicht genannt hat, war, daß es für ihn in der Politik nicht die Kategorie des persönlichen Gekränktseins gab. Trotzki mußte um die kleinen Eitelkeiten und Verletzbarkeiten seiner Politbürokollegen wissen und ebenso darum, daß es ihm zwar vielleicht nicht an Leninschem Geist, aber an dessen Autorität gebrach. So machte er es seinen Gegnern leicht, ihn der persönlichen Machtambitionen zu bezichtigen. Dem letzten Willen Lenins, Stalin als Generalsekretär abzulösen, nicht mit Respekt verschafft zu haben, gehört auch auf das historische und persönliche Schuldkonto Trotzkis.
(7) Der Sowjetmarxismus war ein schlechter Sachwalter des wissenschaftlichen Sozialismus, weil er Theorie auf die Rolle einer Legitimationsinstanz für auf wie immer zustande gekommene pragmatische politische Entscheidungen eines Politbüros oder Generalsekretärs zurechtgestutzt hat. Daß materialistische Dialektik und historischer Materialismus trotz solchen Mißbrauchs nichts an analytischer Kraft verloren haben, wäre heute außer in der Kapitalismus-Analyse vor allem auch durch die der Übergangsgesellschaft zu bewähren, eines Problems, zu dessen Lösung sich der sogenannte Realsozialismus so schlecht verstanden hat. Die Meinung Stalins, die Mitte der 20er Jahre eine willige Gefolgschaft fand, daß der "Glaube" - der Glaube an den Sozialismus - das wichtigste sei, hat sich vor der Geschichte gründlich blamiert.
Zum Bild sowjetischer Politik und der der Komintern nach dem Ausscheiden Lenins aus der politischen Arbeit gehören verschleppte Entscheidungen, überstürzte Beschlüsse und bestürzende Fehlleistungen und zwar sowohl für die Periode, die der persönlichen terroristischen Diktatur Stalins voranging, wie für die, die ihr folgte. Die zentristische Fraktion der bolschewistischen Partei, die Mitte der 20er Jahre in Stalin ihren prominenten Sprecher gefunden hatte, hat zuerst die Industrialisierung verschleppt und hintertrieben, um dann in Panik zu geraten und mit der Zwangskollektivierung die strategische Grundlinie der Partei - das Bündnis zwischen Arbeiterschaft und Bauern - auf das gröblichste zu verletzen. Spekulativ und müßig ist nur die Frage, was resultiert hätte, wenn gegebene Handlungsspielräume anders genutzt worden wären, als sie dann tatsächlich ausgefüllt worden sind. Nicht spekulativ und müßig ist die Erinnerung daran, daß die Ausfüllung von Handlungsspielräumen fehlbar ist und sich eine revolutionäre Partei zuallerletzt darauf hinausreden kann, daß sie nur vorgegebene Handlungszwänge exekutiere. Warum die Kollektivierung der Landwirtschaft zu keinem Zeitpunkt gebracht hat, was man sich letzlich davon erwarten durfte, gehört auf den Prüfstand. Daß die Produktionsgenossenschaft auf dem Lande als Organisationsform ökonomisch erfolgreich sein kann, hat die DDR bewiesen.
Ohne Bruch mit dem Wertgesetz und solange es über den kapitalistisch dominierten Weltmarkt in die nachrevolutionäre Gesellschaft hineinregiert, kann von Sozialismus im Vollsinne keine Rede sein. Das war Lenin, Trotzki und anderen prominenten Bolschewiki bei der Wende von 1921, dem Übergang zur "Neuen Ökonomischen Politik" bewußt. Um aus diesem kalkulierten strategischen Rückzug herauszukommen, war an die Entwicklung des Genossenschaftswesens durch freiwilligen Zusammenschluß und eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität, vor allem natürlich auch der industriellen, gedacht, die den unter kapitalistischen Verhältnissen erreichten Standard in überschaubaren Zeiträumen überflügeln sollte. Beide Zielvorgaben stehen in einem Komplementärverhältnis zueinander, weil Sozialismus ebenso solidarische Genossenschaftlichkeit zur Voraussetzung hat wie ein den durchschnittlichen Bedürfnissen angemessenes Niveau der Bedürfnisbefriedigung. Daß das Problembewußtsein für die komplexen Erfordernisse beim Aufbau des Sozialismus verloren ging, ist Stalin und seinen Gefolgsleuten anzulasten. Wo schließlich schon das Denken in Alternativen unter Kuratel gestellt war, konnte es keine Verständigung über Handlungsoptionen im Ergebnis innerparteilicher Diskussions- und Kommunikationsprozesse mehr geben.
Für Marx hatte der Wert als ökonomische Kategorie - nicht zu verwechseln mit dem buchhalterischen Gebrauch des Begriffs im Sozialismus ausgedient. In der Sowjetunion der Fünfjahrespläne war der Preis immer beides zugleich: Rechengröße und vom Preisbildungsprozeß auf dem kapitalistischen Weltmarkt abhängige Variable. Stalin hat in seiner letzten Schrift über "Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR" von 1952 dieses Geheimnis ausgeplaudert und damit selbst noch dem offenherzigen Revisionismus in ökonomischen Grundfragen die Bahn gebrochen: "Manchmal wird gefragt, ob bei uns, bei unserem sozialistischen System, das Wertgesetz besteht und wirkt. Ja, es besteht und wirkt... Allerdings hat das Wertgesetz in unserer sozialistischen Produktion keine regulierende Bedeutung, aber immerhin wirkt es auf die Produktion ein, und das darf man bei der Leitung der Produktion nicht außer acht lassen." Der Sowjetmarxismus steht für eine weltgeschichtliche Tragödie, die nicht zum Identifikationsobjekt taugt.
(8) Im politischen Kampfvokabular der Gegenwart gibt es kaum einen dunkelmännerischen Begriff als den des Stalinismus. Einschließlich des Geredes von den Poststalinisten, die der ausposaunte Cheftheoretiker der PDS, André Brie, inzwischen ausgemacht haben will. Wahr daran ist nur, daß es eine törichte Idealisierung der mit dem Namen Stalin verbundenen Periode gibt als Reaktion auf die Exzesse des Gegenwartskapitalismus und der verbreiteten Unbereitschaft, sich der Marxschen Erkenntnismittel zu bedienen. Unbestreitbar ist auch, daß die beschämende Instrumentalisierung des Stalinismus zu tages- und fraktionspolitischen Zwecken zu Trotzreaktionen geführt und falsche Solidarisierungen ausgelöst hat. Sachlich wäre es eher geboten, gegen diejenigen zu polemisieren, die, statt über den Stalinismus aufzuklären, Aufklärung durch solche Instrumentalisierung hintertreiben.
Der Stalinismus ist tot; mausetot. Das Geflecht seiner historischen Entstehungsbedingungen ist unwiederholbar. Dazu gehörten eine erfolgreiche Revolution und mißglückte Revolutionen mit nachfolgenden Konterrevolutionen in West- und Mitteleuropa; und ebenso daß der Generalsekretär der russischen Partei in der kritischen nachrevolutionären Phase nicht weniger geschickt als Organisator wie als Demagoge war, um sich eine eigene Hausmacht im Partei- und Staatapparat zu organisieren. Stalins demagogisches Glanzstück ist gewesen, den "Sozialismus in einem Land" zum großen Knüppel im Fraktionskampf zu schmieden, aus dem Sozialismus eine Glaubensfrage zu machen.
Von Stalinscher Rabulistik abgesehen, formuliert der Sozialismus in einem Land ein Problem, das durch die Oktoberrevolution auf die Tagesordnung gesetzt worden ist und von dem Marx und Engels nur deshalb nichts gewußt haben, weil sie die Zuspitzung des Klassenantagonismus in den kapitalistischen Metropolen erwartet haben. Es ist das Problem der sozialen Revolution in einem oder einigen Ländern der Peripherie bei ungebrochener kapitalistischer Weltmarktdominanz. Den Knoten, der sich daraus unausweichlich schürzt, zu zerhauen, war die Stalinsche "Lösungs"methode; ihn behutsam aufzulösen, hätte den Empfehlungen Lenins entsprochen.
Beim Nachleben stalinistischer Geschichtslegenden und Mythologien hat man es mit Zerfallsprodukten des Sowjetmarxismus zu tun; was andererseits auch für die schlechte reformsozialistische Utopie eines Marktsozialismus gilt. In beiden Fällen geht es nicht um die Bewältigung politischer Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben, sondern um Projektionen. Der Marktsozialist projiziert das in der Sowjetunion und ihrem Einflußbereich ungelöst gebliebene Problem Übergangsgesellschaft auf den Gegenwartskapitalismus. Der Sowjetnostalgiker projiziert revolutionäre Qualitäten auf das System, als ob es daran nicht gerade gravierend gemangelt habe. Beide spinnen an der Legende vom Sozialismus, der schon einmal verwirklicht war. Wo es immer nur - solange das Wertgesetz nicht weltweit außer Kraft gesetzt ist - um den Aufbau grundlegender Fundamente für die neue Gesellschaft gehen konnte. Die späte offizielle Formel vom real existierenden Sozialismus hat die Rolle eines verschleiernden halben Dementis gespielt.
Das bisher ungelöste Problem der Übergangsgesellschaft ist wie man das Wertgesetz unter gleichzeitiger Anlegung enger Bandagen nutzt, um es perspektivisch außer Geltung zu setzen. Im Fall des hochkonzentrierten metropolitanen Kapitalismus hat man es mit einer Gesellschaft des potentiellen und realen Überflusses zu tun, der vernichtet, verschwendet und wegsubventioniert wird. Anpreisungen des Marktmechanismus und also des Wertgesetzes hier haben systemstabilisierende apologetische Funktion, die nicht auch noch von links bedient werden sollte.
Stalinismus ist eine lokalisierbare Erscheinung, die nur mittelbar mit Mentalitäten und Ideologien zu tun hat, dafür umso mehr mit realen Prozessen, Prozesse, die auf das engste mit der Person des Namenspatrons verknüpft sind, der die Ernennung einer Sekretärshierarchie von oben zur herrschenden Praxis in der Partei gemacht und diese der Kontrolle des polizeilichen Geheimdienstapparates unterworfen hat. Letzteres wurde nach dem Tod des Diktators abgemildert; mit der Praxis der Ernennungen wurde in den regierenden staatskommunistischen Parteien bis zum Schluß nicht gebrochen. Auch wenn sich darin nur noch organisiertes Mißtrauen ausgedrückt hat und nicht mehr totalitäre Mobilisierung.
Ohne Stalins Sieg über die Partei hätte es keinen Stalinismus gegeben. Verweltanschaulichter Sozialismus, Dogmatismus, Volontarismus, Subjektivismus, die sich in besonderer Weise in Stalins Politik fokussiert haben, sind allgemeineren Wesens, nicht deren exklusive Attribute. Stalinismus ist nicht auf Verbrechen reduzierbar, aber Terror war die funktionale Grundvariable des Stalin-Systems. Zum Parteiabsolutismus gemildert hat die terroristische Formierung der Gesellschaft die Zeit der persönlichen Herrschaft Stalins überdauert.
Als Herr über Parteiapparat und Geheimpolizei ist Stalin zum Schöpfer der monolithen Partei geworden, um sich schließlich zu deren Alleinherrscher aufzuwerfen. Beide Prozesse sind miteinander verknüpft, fallen aber auch zeitlich und sachlich auseinander, was sich später in der Ambivalenz der von Chruschtschow eingeleiteten Entstalinisierung reflektiert hat. Als Hegemon ist die Stalin-Fraktion aus den Fraktionskämpfen der zwanziger Jahre durch Polizei- und Versammlungsterror hervorgegangen. Der Kirow-Mord Ende 1934 markiert den Übergang zur Alleinherrschaft Stalins, dem die sogenannten Säuberungswellen folgten, denen auch die Mehrzahl der eigenen Gefolgsleute zum Opfer gefallen ist. Ideen, Theorien und Interpretationen sind in das Gebräu stalinistischer Legitimationsideologie eingeflossen, das Phänomen Stalinismus erklären sie nicht.
Nach Lenins Tod hat das Sekretariat mit dem Generalsekretär Stalin über die Parteitage und deren Zusammensetzung - und dadurch vermittelt auch über die der gewählten Führungsgremien - Regie geführt. Trotz verminderter Chancen für die oppositionellen Fraktionen, hat es Stalin einen erheblichen intellektuellen Mühe- und Kraftaufwand gekostet, diese in den Sitzungen von ZK (und ZKK) niederzuringen. Daß Links- und Rechtsopposition keine Alternativen gehabt hätten, wird auch durch die Plagiate widerlegt, die Stalin an ihnen begangen hat. Darauf, daß seine eigenen Fraktionsgenossen ihn loswerden wollten, die ihn zunächst als "eisernen Besen" geschätzt haben, deuten die ZK-Wahlen auf dem sogenannten Parteitag der Sieger von Anfang 1934 mit einem besseren Stimmenergebnis für Kirow als für Stalin. Intrige, Demagogie, Manipulation und Verrat bezeichnen den Ort, an dem die Wiege des Stalinismus steht. Davon zu unterscheiden sind die Probleme, vor denen die Oktoberrevolution nach den Revolutionsdesastern in Mitteleuropa gestellt war.
(9) Es war das klassenbewußte russische Proletariat, das gleich nach der Oktoberrevolution über die von Lenin propagierte Produktionskontrolle hinausgegangen ist und die Expropriateure expropriiert hat. Tatsächlich hat man es bei allen Vorgängen zwischen Februar und Oktober 1917 mit Klassenbewegungen zu tun, mit denen die kleine bolschewistische Partei kaum Schritt gehalten hat, was für Lenin ständig Anlaß für dringliche Interventionen gewesen ist. Daß es hier um ein dialektisches Wechselverhältnis von Massenbewegung und revolutionärer Avantgarde ging, ist schon von der gleichzeitigen bürgerlichen Weltöffentlichkeit nicht verstanden und absichtsvoll zu einem Komplott der Bolschewiki verdreht worden. Komplementär dazu verhält sich die Überbewertung der Rolle der Partei zu ungunsten von Spontaneität in der späteren Parteilegende. Die Partei Lenins in revolutionärer Aktion bestätigt nicht den Topos einer Partei speziell Leninschen Typs. Es gibt keinen Grund, der bürgerlichen Putschtheorie näherzutreten und den sozialistischen Charakter der Oktoberrevolution zu leugnen.
Wer nach Zeugnissen sucht, um die wieder virulent gewordene Putsch-Legende in bezug auf die Oktoberrevolution zu entkräften, bei Max Weber findet er eines der authentischsten. Im April 1917 analysiert er die russische Februarrevolution "Rußlands Übergang zur Scheindemokratie" ("Gesammelte Politische Schriften", 197 - 215), eine Analyse, die auf den Punkt genau der Lenins entspricht und die man, nimmt man ihre Implikationen beim Wort, ebenso als strategische Anleitung für die Oktoberrevolution lesen kann. Zu diesem Zeitpunkt ist Weber vermutlich nicht einmal der Name Lenins bekannt gewesen; jedenfalls finden die Bolschewiki keinerlei Erwähnung.
Die Unveränderbarkeit der Menschennatur, negative Anthropologie, gehört zum ältesten Versatzstück bürgerlicher Ideologie; der Aufstand der Erniedrigten gegen die Erniedrigung gilt danach als Flause, weil die Menschennatur von Natur aus niedrig, der Selbstbestimmung unfähig sein soll. In diesen Zusammenhang gehört das konservative Argument, wonach jede radikale Veränderung nur auf einen Austausch des Herrschaftspersonals, einen Wechsel der Herrschaftsordnung hinausliefe. Vom ausgehenden 18. Jahrhundert an bis an die Schwelle des zwanzigsten wurde dieses "Argument" gegen demokratische Republikaner bemüht wie heute gegen sozialistische Demokraten. Die Konstitutionsschwäche des bolschewistischen Ausbruchsversuchs hat ihr frühe und in der Substanz abschließende Kritik in Rosa Luxemburgs Schrift über "Die russische Revolution" gefunden.
Nach dem Aderlaß des Bürgerkriegs haben Lenin und Trotzki sich der Sünde des Substitutionalismus schuldig gemacht, die Partei für die Klasse substituiert. Hätten sie besser daran getan, der bürgerlichen Restauration - und einer blutigen konterrevolutionären Abrechnung - Tür und Tor zu öffnen? Stattdessen haben sie die Neue Ökonomische Politik initiiert, um den Interessen der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit Rechnung zu tragen, das aus der Revolution bekannte Bündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern erneuernd. Nicht die Formel vom Sozialismus in einem Land bezeichnet den Bruch mit Lenins Politik, sondern die Aufkündigung dieses Bündnisses durch die Zwangskollektivierung. Der Sozialismus in einem Land als Formel war vieldeutig genug, um auch eine auf Fortsetzung von NEP dringende Politik wie die Bucharins zu decken.
Der Kommunismus ist nur "als die Tat der herrschenden Völker" möglich, also dadurch, daß die Hochburgen des Kapitals geschleift werden. Ein Argument gegen die soziale Revolution von antikapitalistischem Zuschnitt und mit sozialistischer Zielsetzung an der Peripherie ist das aber nicht, weil es nicht den idealen Ort für die revolutionäre Explosion des global aufgehäuften Widerspruchspotential gibt. Lenin hat mit dem ökonomistischen Fatalismus der II. Internationale gebrochen und das bleibt ein Verdienst. Ich sehe keinen vernünftigen Grund, der Erwägung von H.H.Holz zu widersprechen: "Weil aber der Kapitalismus auch heute noch wie 1917/18 stark genug ist, um sich gegen revolutionäre Kräfte - durch ideologische Manipulation und durch repressive Gewalt - zu behaupten, besteht wieder wie 1917 die Möglichkeit, daß die Kette an einem schwachen Glied bricht, das heißt in einem Land mit unreifen Bedingungen, aber offenen, zugespitzten Widersprüchen." Unsinn wird daraus erst, wenn aus dem revolutionären Bruch in einem Land des peripheren Kapitalismus auf die Möglichkeit unmittelbaren Übergangs zum Sozialismus/Kommunismus geschlossen wird.
Man kann das Sozialistische an der Oktoberrevolution und dem "Realsozialismus" nicht auf das subjektive Moment von Intention und guten Willen reduzieren. Mit dem Industrialisierungsparadigma, das die bürgerliche Politik- und Sozialwissenschaft erfunden hat, ist den Phänomenen nicht beizukommen. Mißlungen ist schließlich nicht nur die sozialistische Demokratie, sondern auch die nachholende Industrialisierung. Was es davon gegeben hat, wird vom Weltkapital abgeräumt oder der Verrottung preisgegeben. Lenins berühmte und oft belächelte Formel, daß Sozialismus Sowjetmacht plus Elektrifizierung sei, hat den unauflöslichen Zusammenhang der Momente betont.
Sozialismus hat es nicht nur in den Köpfen gegeben, sondern auch als Bruchstücke oder Elemente in der Realität. Die gesellschaftlichen Fonds in staatlicher Verfügung sind nicht nur mißbräuchlichen, sondern auch sehr sinnvollen Verwendungen zugeführt worden. Es hat ein relativ hohes Maß an sozialer Gleichheit gegeben, trotz der Privilegien-Restauration, die auf die Stalin-Ära zurückgeht. Und daß das Schwerste vollbracht war - die Expropriation des Industrie- und Finanzkapitals -, gilt nur deshalb heute für gering, weil es wieder verspielt wurde. Aus der Summe von Bruchstücken und Elementen hat sich nicht Sozialismus addiert; immerhin war diese Summe aber groß genug, um die Kapitulation vor dem Weltkapital als Wahnsinnstat erscheinen zu lassen.
(10) Von welcher Art von Sozialismus ist im Entwurf "Sozialismusvorstellungen der DKP" die Rede, wenn von diesem bzw. der sozialistischen Wirtschaft gesagt wird, daß Warenproduktion und Marktbeziehungen "noch unerläßlich" seien? Oder in anderer Wendung der Sozialismus als warenproduzierende Gesellschaft definiert wird: "Da der Sozialismus noch eine warenproduzierende Gesellschaft ist, darf das Wertgesetz nicht negiert werden."
Statt daß der Widerspruch dieser Vorstellungen zu denen von Marx und Engels thematisiert und produktiv gemacht würde, wird er einfach unterschlagen. Zur Erinnerung die bekannten Sätze von Marx aus der "Kritik des Gothaer Programms": "Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren... Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt." Im selben Sinne Engels im "Anti-Dührung" (MEW 20, 288f.), wo er sich drastisch über die Absurdität der Vorstellung mokiert, "die kapitalistische Produktionsform abschaffen", "eine Gesellschaft, in der die Produzenten endlich einmal ihr Produkt beherrschen, herstellen (zu wollen) durch konsequente Durchführung einer ökonomischen Kategorie" - gemeint ist der Wert -, "die der umfassendste Ausdruck der Knechtung der Produzenten durch ihr eignes Produkt ist".
Offenkundig ist unter Sozialismus im Entwurf der DKP der "Realsozialismus" zu verstehen, auf den posthume Rettungs- oder Verbesserungsvorschläge projiziert werden, um sie zur Nutzanwendung für andere Konstellationen unter den Bedingungen des hochkonzentrierten Kapitalismus der Gegenwart zu empfehlen. Die sich zur Thematisierung aufdrängende Frage, ob Erfahrungen mit dem Realsozialismus zur Revision der Sozialismusvorstellungen von Marx und Engels nötigen, wird nicht gestellt.
Sozialrevolutionäre Befreiungstat und Aufhebung des Wertgesetzes fallen für Marx und Engels begrifflich und zeitlich zusammen. Unterstellt ist darin, daß die Revolution an den zu einem gegebenen Zeitpunkt höchsten Stand kapitalistisch entwickelter Produktivkräfte anknüpft. Stattdessen hat die Oktoberrevolution das Problem der sozialen Revolution an der kapitalistischen Peripherie auf die Tagesordnung gesetzt und damit verknüpft die schwierige Aufgabe, dem Geltungsbereich des Wertgesetzes Terrain abzugewinnen und die Weltmarktdominanz des Kapitals sukzessive zu brechen. Daraus, daß der osteuropäische Realsozialismus diese Aufgabe nicht gelöst hat, folgt nicht, daß sie sich in gleicher Weise unter anderen Bedingungen, insbesondere solchen der kapitalistischen Metropolen, stellt.
Von einer vom Wertgesetz überformt gebliebenen Planwirtschaft her sind Rückschlüsse auf sozialistische Planung nur bedingt, auf deren regulative Prinzipien überhaupt nicht möglich. Die Planung in der Sowjetunion und den späteren RGW-Staaten war zu allen Zeiten vom Wertgesetz überformt, unabhängig davon, wie man über den Wert als ökonomische Kategorie gedacht hat und ob man es mit administrierten Preisen zu tun hatte oder nicht. Währungskonvertibilität, wie sie sich auch ohne offiziellen Segen durch Tauschrelationen auf den informellen Währungsmärkten herstellt, verweist auf den unauflöslichen Zusammenhang von Wert und Preis.
Die Vorstellung vom Reifen der Produktivkräfte für die sozialistische Transformation, die schon immer die Marxsche Revolutionstheorie versimpelt hat, ist völlig abwegig in Anbetracht des destruktiv entfesselten Kapitalismus der Gegenwart. Die ruinöse Konkurrenz um Produktivitätsgewinne treibt das vorzeitige Veralten von Produktionsanlagen und das der Produkte rapide voran mit der Folge vermehrter Müllberge, aus deren Abhub die am Rande der zivilisierten Barbarei Vegetierenden das Verwertbare klauben, grausige Parodie auf das kommunistische: Jedem nach seinen Bedürfnissen.
Zur schlimmsten Hypothek, die der Realsozialismus hinterlassen hat, gehört die Ideologie von der vermittelnden Funktion kleiner Warenproduktion für die ökonomische Effizienz. Ökonomisch effizient ist die kleine Warenproduktion vor allem für die Akkumulation, was im Kapitalismus durch Mehrwerttransfers bei der Ausgleichung der Profitraten von den kleinen zu den großen Kapitalen besorgt wird. Unter Bedingungen eines eingeschränkt fortgeltenden Wertgesetzes eignet sich der Staat als Mandatar der schon vergesellschafteten Produktionsmittel Anteile aus solchen Mehrwerttransfers unmittelbar an, um sie im Interesse letzterer und zur Erweiterung der gesellschaftlichen Fonds zu verwenden. Der Weg, auf dem das geschieht, sind Steuern und Abgaben, die den kleinen Warenproduzenten auferlegt werden. Da der Sektor der vergesellschafteten Produktion nicht mehr unter dem Zwang der Profitmaximierung steht, ist er nach deren Maß ineffizient - und muß es sein. In bezug auf diese Art von Transfers spricht man seit den ökonomischen Debatten der 20er Jahre in der Sowjetunion als von sozialistischer Akkumulation oder daß man das Wertgesetz für den sozialistischen Aufbau nutze. Was dem kleinen Warenproduzenten im einen Fall durch die Marktverhältnisse genommen wird - wie immer seine Kompensationen durch gesteigerte Ausbeutung und Selbstausbeutung aussehen mögen -, wird ihm im anderen durch Besteuerung genommen. Um das Kapitalverhältnis im Interesse der Kapitalmagnaten am Leben zu erhalten, betätigt sich der Staat heute als Subventionsagentur auch für die kleine Warenproduktion.
Der Begriff der Akkumulation, auch der "sozialistischen", verliert im Sozialismus seinen Sinn, weil kein Kapital oder irgendwelche Wertäquivalente dafür mehr aufgehäuft werden. Unter dem Primat von Bedarf und Bedürfnis streifen Produkt und Mehrprodukt die Wertform ab; oberstes Kriterium wird Nutzenoptimierung für die Gesellschaftsmitglieder. Diametral im Gegensatz dazu befindet sich die Vorstellung, Sozialismus damit zu beginnen, daß unterschiedliche Eigentumsformen um Anteile am Wertkuchen konkurrieren.
(11) Eine Publikations-, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Schriften von Marx gehörte ins Zentrum der noch gar nicht geschriebenen Geschichte des Sozialismus. Man muß sich das vorstellen: der wohl brisanteste Text von Marx, den Sozialwissenschaftlern in aller Welt heute bekannt unter dem Titel "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie", ist aus dem handschriftlichen Manuskript zeitgleich mit den großen Säuberungen der dreißiger Jahre in der Sowjetunion entziffert worden; Erstveröffentlichung Moskau 1939/40, im Dietz-Verlag, Berlin, zuerst 1953 und seither von den Marxisten/West immer wieder zitiert und kommentiert, von den Marxisten/Ost lange Zeit fast durchgängig ignoriert. Verdienstvolle Editionen wie die großen Marx/Engels und Lenin- Ausgaben gehören zur bleibenden Hinterlassenschaft des Realsozialismus.
Fast allen Erörterungen und Durchblicken zum Thema der "Reife", d.h. zur Frage nach den im Kapitalismus gelegenen Potenzen und Potentialen für den Übergang zum Kommunismus, eignet, daß sie die Schwelle von der Seite der objektiven Bedingungen heute sehr hoch ansetzen. Ob nun davon gesprochen wird, daß erst mit dem sogenannten Fordismus das Kapitalverhältnis zu sich selbst gekommen sei oder bestimmte technologische Standards, wie sie sich gerade durchgesetzt haben oder ihre Durchsetzungsgeschichte beginnen, den "Voraussetzungen des Kommunismus" als unerläßliche Bedingungen zugerechnet werden - immer gerät ein bestimmter, faktisch gegebener Stand, sei's kapitalistischer Durchdringung oder der Produktivkraftentwicklung, in den Rang eines Kriteriums für "Reife". Und fast immer steckt darin ein Urteil über das Vergangene, über vergangene Ausbrüche und Ausbruchsversuche aus dem kapitalistischen Kontinuum als zur Unzeit oder zu früh gekommenen. Demgegenüber ist auf den analytischen Gegenwartsbezug von Passagen in Marx' ökonomischen Manuskripten, und zwar gerade solcher, die heute gern als Zukunftsprognosen gelesen werden, hinzuweisen. "Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne." ("Grundrisse", Berlin 1953, 593) Man sollte sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Marx Zeitzeuge eines sich rapide entwickelnden Eisenbahnwesens und der Dampfschiffahrt war, zu deren Voraussetzungen Produktion auf großer Stufenleiter gehört. Die in jeder neuen Generation virulente Meinung, daß der Kapitalismus erst zu ihrer Lebenszeit so richtig loslege, ist trügerisch. Heute heißt die affirmative Phrase dazu "Modernisierung" und "Modernisierungsprozeß". Tatsächlich hat der Kapitalismus, seit er in der Welt ist, nicht aufgehört, sich zu modernisieren, wobei die Weltkriege spezielle Höhepunkte solcher Modernisierung markieren (Tanks und Flugapparate im ersten, Atomkraft und Computer im zweiten Weltkrieg). Und von der Seite der akkumulativen Potenzen gefaßt, sei daran erinnert, daß schon Lenin in seiner Imperialismus-Schrift davon gesprochen hat, daß England auf dem Weg sei, sich zur Rentnernation zu entwickeln.
Ohne Theorie des Realsozialismus wird der Verzauberung des Kapitalismus nicht Einhalt zu gebieten sein. Der Meinung, daß der Realsozialismus in mancher Hinsicht gegenüber den Eigentumsverhältnissen im Westen eine höhere, dem Kommunismus näher stehende Form des Eigentums verkörpert habe, kann man nur zustimmen. Und ebenso kann man gar nicht nachdrücklich genug betonen, daß das Urteil der Geschichte kein Gottesurteil ist, wie es ein deterministisches Geschichtsverständnis möchte, das Handlungsfreiheit und letztlich auch Verantwortlichkeit der geschichtlich agierenden Subjekte negiert. Es hat nicht kommen müssen, wie es gekommen ist. Und das gilt bis zum schmählichen Ende des Realsozialismus. Die Sowjetunion war keine durch Aushungerung zur Übergabe reife Festung. Unausweichlich war nur die Preisgabe einer Militärdoktrin, die sich darauf versteift hatte, rüstungspolitisch und militärstrategisch mit den USA gleichzuziehen. Großmannssucht kommt vor den Fall, indem sie sich in kopflose Panik verkehrt. Nach diesem Schema hat sich der Zerfall des europäischen Realsozialismus vollzogen.
Apologie und abstrakte Negation sind gleichermaßen einer realistischen Einschätzung des Realsozialismus abträglich. In verallgemeinertem Gebrauch gibt sich der Begriff selbst als ein Notbehelf zu erkennen, weil offen bleibt, worauf er sich bezieht: auf die Periode insgesamt, die mit der Oktoberrevolution begann, oder nur auf deren letzte Phase, der durch die Liquidation der Sowjetunion und der KPdSU der Schlußpunkt gesetzt wurde. Es gibt keinen alternativen oder konkurrierenden Allgemeinbegriff dafür. Staatssozialismus und Staatskapitalismus sind als Begriffe mit einem weiteren Bedeutungshorizont zu unspezifisch. Wenn man der Geschichte eine Nase drehen will mit einem "Ätsch, es war ja gar nicht so gemeint", dann spricht man wie in der PDS von einem Sozialismus-Versuch. Stalinismus ist als deskriptiver Begriff zu weit und als theoretischer zu unscharf. Am ehesten dürfte man es treffen, wenn man sich einmal auf das fragwürdige Geschäft von Definitionen einlassen will, Stalinismus als das Gesamtensemble von Herrschaftstechniken bei der Errichtung und Ausübung der persönlichen Diktatur Stalins zu definieren, von denen einige seine Herrschaft überdauert haben und bis zum bitteren Ende nicht oder nur halbherzig liquidiert wurden. So war die Machtkonzentration beim letzten Generalsekretär, um einsame Entscheidungen und Willkürentscheidungen zu treffen, nicht geringer als bei Stalin.
Im globalen Gesamtzusammenhang war der Zusammenbruch des Realsozialismus gleichbedeutend mit der Beseitigung der mächtigsten Schranke für die Kapitalexpansion, die ihr in diesem Jahrhundert und überhaupt erstanden war. Das hat trotz Überakkumulationskrise den Schein von Lebenskraft und Unüberwindlichkeit des Kapitalismus verstärkt mit fatalen Folgen für alle sozialrevolutionären Bewegungen. Zu diesen Folgen gehört auch die Rückverwandlung des Kommunismus in Utopie in den dominierenden linken "Diskursen". Statt eine neue Dynamik der Klasssenbewegung freizusetzen, schossen reformistische Illusionen ins Kraut wie niemals zuvor.
Skepsis ist angebracht, ob sich der Kommunismus aus dem unter dem Kapitalismus erreichten Vergesellschaftungsgrad umstandslos deduzieren läßt. Mit der Zentralisation des Kapitals wachsen die Unternehmensgrößen, was aber nur in einem vermittelten oder gar keinem Zusammenhang zu den Betriebsgrößen steht. Mit der sich noch immer beschleunigenden Mobilität des Kapitals hat sich der Zusammenhang zwischen produktiver Investition und Anlagebindung gelockert. Weltgesellschaftliche Vergesellschaftung der Arbeit setzte voraus, daß einige wenige Großkonzerne sich zu einem Weltkartell zusammenschließen, das die Weltproduktion konzentriert und beherrscht. Damit hörte das Kapital allerdings auf, als Kapital zu fungieren und würde sich in ein reines Herrschaftsverhältnis zur Abpressung von Mehrwert und Mehrproduktaneignung umbilden. Wenn Marx davon spricht, daß schon das Kapital das Geschäft der Vergesellschaftung besorgt, so ist hier an Potenzen zu denken, die, um entbunden zu werden, die Aufhebung des Kapitalverhältnisses nötig haben. Und nicht an einen Automatismus, als würde sich das Kapitalverhältnis von selbst auflösen.
Aktuell haben wir es damit zu tun, daß ein in seinen akkumulativen Potenzen geschwächtes Kapital den Profitratenfall durch gesteigerte Ausbeutung zu kompensieren und überzukompensieren sucht. Und das nicht ohne Erfolg. Der Steigerung von Masse und Rate des Mehrwerts dienen Auslagerungen von Produktion in Billiglohnländer und -regionen. Und ebenso Verkleinerung von Betriebsgrößen durch Auslagerung von Produktion in die Vorproduktion bei gleichzeitiger Unternehmensexpansion.
Daß im Kapitalverhältnis Produktion als Selbst- und Endzweck gesetzt ist, hat ebenfalls nicht den ihm häufig unterstellten einseitig affirmativen Sinn. Unmißverständlich und dem dialektischen Charakter des Sachverhalts Rechnung tragend äußert sich Marx in "Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses" (Frankfurt 1969, 63) zur "Produktion um der Produktion willen" so: "Es ist Produktion, die sich nicht an vorausbestimmende und vorausbestimmte Schranke der Bedürfnisse bindet... Dies ist die eine Seite, im Unterschied von früherer Produktionsweise; if you like, die positive Seite. Andrerseits die negative, oder der gegensätzliche Charakter: Produktion im Gegensatz zu, und unbekümmert um, den Produzenten. Der wirkliche Produzent als blosses Produktionsmittel, der sachliche Reichtum als Selbstzweck. Und die Entwicklung dieses sachlichen Reichtums daher im Gegensatz zu dem, und auf Kosten des, menschlichen Individuums." Inzwischen dürfen wir getrost hinzufügen: auf Kosten der, und im Gegensatz zu den, unhintergehbaren natürlichen Reproduktionsgrundlagen der Gattung. Wenn etwas die Vermutung gerechtfertigt erscheinen läßt, daß die Produktivkräfte seit langem den Produktionsverhältnissen entwachsen sind, dann ist es dies; oder daß Umwelt- und Naturzerstörung inzwischen zu Voraussetzungen einer der wenigen nicht fiktiven Wachstumsbranchen geworden ist und also für die Kontinuität von Kapitalverwertung.
Welche Rolle kommt der Arbeitszeitrechnung zu bei genossenschaftlicher Produktion assoziierter Produzenten? Da der Kommunismus keine oder noch keine Realität hat, geht es hier vor allem um einen etwas unheimlichen dogmengeschichtlichen Streit um die richtige Marx-Ausdeutung. Daß der Realsozialismus die Marxsche Unterscheidung einer niederen von einer höheren Phase des Kommunismus seinen Bedürfnissen entsprechend uminterpretiert hat, hat weder das Problem der Übergangsperiode erledigt - also einer Gesellschaft, die nicht mehr kapitalistisch, aber auch noch nicht kommunistisch und zwar auch nicht im Sinne jener niederen Phase -, noch die Schwierigkeiten der Textinterpretation oder was nun tatsächlich unter dem Tausch von Arbeitszeitäquivalenten zu denken sei. Eine Frage, die sich von selbst erledigen, also gegenstandslos würde im Fall unmittelbaren Übergangs zu jener höheren Phase des Kommunismus.
Die Schwierigkeiten mit dem Problem eines Austauschs von Arbeitszeitquanten werden ja nicht dadurch geringer, daß das Arbeitsergebnis nach der Voraussetzung von Marx auf den gesellschaftlichen Gesamtfonds bezogen ist, als dessen aliquoter Teil, der individuell abgegoltene Anteil daran aber nur auf den Konsumtionsfonds. Gesamtfonds und Konsumtionsfonds sind unterschiedliche Bezugsgrößen, so daß alles von ihrer richtigen Proportionierung abhängt, wenn gesellschaftliche und individuelle Bedürfnisse gleichermaßen bei gegebenem Produktionsstandard befriedigt werden sollen. Daß Marx sich um die Praktikabilität einer Rechnung mit Arbeitszeitquanten wenig Gedanken gemacht hat, davon kann man sich durch einen Vergleich der beiden berühmten Textstellen im Kapitel über den "Fetischcharakter" in "Kapital I" und in der Gothaer Programm-Kritik überzeugen. Ist die Formulierung in der Programm-Kritik nicht gänzlich gegen das Mißverständnis gefeit, als ginge es Marx hauptsächlich um die Zurechnung individueller Arbeitsanteile zum Konsumtionsfonds, so hebt die angezogene Passage des "Kapital" den hypothetischen Charakter eines Vergleichs mit der Warenproduktion hervor und drückt sich unter diesem Vorbehalt unmißverständlicher oder genauer aus: "Nur zur Parallele mit der Warenproduktion setzen wir voraus, der Anteil jedes Produzenten an den Lebensmitteln sei bestimmt durch seine Arbeitszeit. Die Arbeitszeit würde also eine doppelte Rolle spielen. Ihre gesellschaftlich planmäßige Verteilung regelt die richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiedenen Bedürfnissen. Andrerseits dient die Arbeitszeit zugleich als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts."
Ob gesellschaftlich verausgabte Arbeitszeitquanten, d.h. für den gesellschaftlichen Gesamtfonds, wovon der Konsumtionsfonds ein Teil, überhaupt individuell zurechenbar abgegolten werden können, sei dahingestellt. Wichtig ist, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß die richtige Proportionierung in der Verteilung der Ressourcen für Marx der übergeordnete Aspekt ist. Die Schwäche des Realsozialismus war nicht irgendwelchen Zurechenbarkeitsproblemen geschuldet, den Experimenten mit einer fiktiven Wertrechnung und dergleichen, sondern daß es zu keiner Zeit gelang, die Ressourcen proportional zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen zu verteilen. Das hatte in der Systemkonkurrenz und davon ausgehenden wirklichen oder vermeintlichen Erfordernissen in Verbindung mit Ressortborniertheiten seinen Grund. Daß der Arbeitszeitrechnung eine Schlüsselrolle im Kommunismus zukäme, läßt sich aus Marx nicht ohne Gewaltsamkeit herauslesen. Das "Was" der Produktion, der Gebrauchswert, sobald er nicht mehr dem Verwertungszweck nachgeordnet ist; der planvoll verantwortliche Umgang mit den stofflichen Ressourcen, um die Erde kommenden Generationen verbessert zu hinterlassen; und die Vermehrung disponibler Zeit sind für den Marxschen Kommunismus gleichwertige und einander zugeordnete Produktionsziele.
Klaus Hermann, 1990 - 98 |
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