KOMMUNISTISCHE
STREITPUNKTE
- Zirkularblätter - Nr. 5 - 10.02.2000 -
Onlineversion Heiner Karuscheit Gesellschaft und ProgrammBemerkungen zu einer Programmdebatte
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Die Kommunistischen
Streitpunkte haben dazu aufgefordert, sich in eine
Debatte zur Erneuerung der kommunistischen Programmatik
zu begeben, um eine angemessene Grundlage revolutionärer
Praxis zu schaffen. Der Zielsetzung nach bedeutet dies
nicht mehr und nicht weniger, als einen Weg zur Macht für
die Arbeiterklasse zu entwickeln. Dieser Weg kann sich
nur aus der bestehenden Gesellschaft heraus ergeben. Daß in der Gesellschaft nach wie vor die Klassen von Kapital und Arbeit existieren, besagt wenig. Weder die Bourgeoisie von heute ist mit der von früher zu vergleichen noch die Arbeiterklasse. Und nicht nur die beiden antagonistischen Klassen der bürgerlichen Ordnung haben ihr Gesicht gewandelt, darüber hinaus hat auch der Niedergang des alten Kleinbürgertums und der Aufstieg neuer Mittelschichten der Gesellschaft einen anderen Charakter verliehen. Ihn zu begreifen, muß daher m.E. am Ausgang der Bemühungen stehen, eine programmatische Selbstverständigung der Kommunisten herbeizuführen. Der Niedergang des alten KleinbürgertumsIm Kommunistischen Manifest schrieben Marx und Engels: Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen. Mit den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus erwartete die ganze Sozialdemokratie den baldigen Übergang der nichtkapitalistischen Mittelstände in das Proletariat und als Folge den unausweichlichen Sieg der dann zahlenmäßig überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft über die kleine Minderheit der Ausbeuter. Tatsächlich schwoll das Proletariat auch zahlenmäßig an, aber das Kleinbürgertum ging nur äußerst langsam zurück. Die Volkszählung von 1907 in Deutschland enthüllte, daß die Zahl der selbständigen Betriebsstätten sogar zugenommen hatte, wenn auch nur leicht in unerklärlichem Gegensatz zu den theoretisch festgestellten ökonomischen Gesetzen. Bis zum 2.Weltkrieg änderte sich an den Klassenverhältnissen wenig. Außer Bourgeoisie und Proletariat existierten nicht allein die junkerlichen Großgrundbesitzer, deren eigenständige, nichtbürgerliche Stellung die Marxisten beharrlich negierten, sondern neben ihnen die kleinbürgerlichen Klassen auf dem Land und in der Stadt, die wie ein gewaltiger Block aus der Geschichte in die Neuzeit ragten. Sie waren weit davon entfernt, sich auf den Standpunkt des Proletariats zu stellen und ihre gegenwärtigen Interessen zugunsten eines sozialistischen Zukunftsstaats aufzugeben, wie im Manifest erhofft, sondern kämpften mit wütendem Beharrungsvermögen gegen die Trennung von den eigenen Produktionsmitteln. Nachdem der 1.Weltkrieg die alte Ordnung zerbrochen hatte, speisten sie die faschistischen Massenbewegungen der Zwischenkriegszeit in Europa. Sie wollten das Rad der Geschichte in der Tat zurückdrehen - allerdings nicht zurück in die feudale Unfreiheit vor der bürgerlichen Revolution, sondern mit Hilfe des Staats in Richtung einer kleinbürgerlich-egalitären Utopie ohne Adelsmacht, in welcher Bourgeoisie und Proletariat auf die Plätze verwiesen waren und die kapitalistische Produktionsweise in unüberwindliche Schranken gebannt blieb, so daß sie die Produktions- und Lebensweise der kleinen Warenproduzenten nicht angreifen konnte. Ein überholtes RevolutionsprogrammDie Revolutionsetappe, die der erste Weltkrieg in Gang setzte, wurde durch das Zusammengehen von Arbeitern und Bauern in Rußland begründet, das die Oktoberrevolution erst möglich machte. Was Rußland vorexercierte, galt unter anderen Bedingungen auch für die entwickelteren Länder: auf sich allein gestellt, war jede Revolution alleine des Proletariats gegen den Rest der Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Es gab keinen Weg zur Macht ohne Gewinnung der Millionenmassen der kleinen Warenproduzenten, und deshalb mußte das sogenannte Arbeiter-Bauern-Bündnis zum Dreh- und Angelpunkt jedes Revolutionsprogramms werden. Unabhängig von den gefundenen konkreten Antworten bedeutete es seinem klassengeschichtlichen Wesen nach das Zusammengehen einer Klasse der bürgerlichen Moderne des Proletariats mit den alten vorkapitalistischen "Mittelständen" des Kommunistischen Manifest. In dieser Konstellation fielen Sieg und möglicher Untergang in eins: dasselbe Bündnis, ohne das der Weg zur Macht versperrt blieb, war das entscheidende Hindernis beim Aufbau des Sozialismus. Die Nagelprobe auf dieses Revolutionsproblem lieferte nicht zuletzt Deutschland. Als die 2.Parteikonferenz der SED im Juli 1952 den Übergang von der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zum Aufbau des Sozialismus beschloß, kündigte sie den Klassenkompromiß mit den bürgerlichen Kräften, vor allem aber das Bündnis mit dem Kleinbürgertum auf, das nunmehr durch eine Vielzahl ökonomischer und politischer Maßnahmen bekämpft wurde. Die Reaktion der Bauern und Kleingewerbetreibenden war hinhaltender Widerstand oder die Flucht in den Westen und brachte den Staat binnen kurzem an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Um ihn zu verhindern und den beschlossenen Aufbau des Sozialismus trotzdem fortzuführen, mußten die Arbeitsnormen für die in der Industrie Beschäftigten erhöht werden. Die Antwort der Arbeiterschaft war der 17.Juni 1953. Die Prognose des Kommunistischen Manifest realisierte sich endgültig erst in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Die bis dahin nur gemächlich steigende agrarische Produktivität hat in den Jahrzehnten nach dem 2.Weltkrieg als "grüne Revolution" alle ländlichen Verhältnisse mitsamt den daran geknüpften altehrwürdigen Vorstellungen umgewälzt. Wo früher Millionen von Bauern den eigenen Acker bestellten, sind es im heutigen Deutschland einige Hunderttausend, und diese haben die selbstgenügsamen Relikte ihrer Vorgänger abgestreift. Ihre Produktion wie Reproduktion vermittelt sich über den kapitalistischen Markt. Das Dorf der Gegenwart hat keine Ähnlichkeit mit dem Dorf der Vorkriegszeit, und ebenso geht es dem städtischen Kleinhandel und Handwerk. Die alten Mittelstände, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen, gibt es nicht länger. Der kleine Warenproduzent von heute, auch der sich vermehrende "Scheinselbständige", dessen Lebenslage häufig subproletarisch ist, steht nicht neben der kapitalistischen Produktionsweise, deren Auswirkungen er bekämpft, er ist ohne Wenn und Aber in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß des Kapitals integriert. Das Verhältnis der künftigen proletarischen Macht zu diesen Schichten muß geklärt werden, aber es hat keine Schlüsselfunktion für das Revolutionsprogramm mehr. Aufstieg neuer MittelschichtenIn derselben Zeit haben sich neue Mittelschichten rapide vermehrt, die keine eigenen Produktionsmittel besitzen, sondern Lohnabhängige entweder des Kapitals oder des Staats sind, sich aber vom eigentlichen Proletariat u.a. durch ihre Produktionsferne absetzen (die Unterscheidung im einzelnen ist schwierig). Bedingt durch die wachsende Produktivkraft der Arbeit steigt ihre Zahl weiter an, während die Zahl derjenigen, die den materiellen Reichtum der Gesellschaft an erster Stelle produzieren, sinkt. Die KAZ Nr.291 vom Februar 1999 enthält den jüngsten Versuch einer marxistischen Klassenanalyse, die den Auffassungen sehr vieler Marxisten entsprechen dürfte, obwohl genauer gesagt: weil sie den tiefgreifenden Wandel des 20.Jahrhunderts vollständig negiert. Sie beschreibt eine von Anfang bis Ende immergleiche Gesellschaft und mündet darin, die neuen Mittelschichten zusammen mit den verbliebenen kleinen Warenproduzenten als Kleinbürgertum in Westdeutschland auszugeben. Damit wird der ganze Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise durch einen Federstrich ausgelöscht. Dieses Denken kommt nicht weiter als dahin, die verlorenen Klassenschlachten des soeben vergangenen Jahrhunderts auf dem Papier noch einmal zu verlieren. Nur in einem rein negativen Sinn können beide Gruppierungen gemeinsam als kleinbürgerlich bezeichnet werden, nämlich insofern sie weder zur Bourgeoisie noch zum Proletariat gehören. Bedingt durch eine unterschiedliche Stellung zu den Produktionsmitteln, unterscheiden sich die neuen ansonsten grundlegend von den alten Mittelschichten. Ihr wirtschaftliches Interesse, die politische Einstellung und nicht zuletzt das kulturelle Verhalten sind denkbar anders. Auf dem Boden der neuen Mittelschichten ist die Partei der Grünen entstanden, während der Rückgang der Selbständigen letztlich verantwortlich für den Todeskampf der FDP ist. Wenn heute die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung tritt, so ist der Schlüssel dafür das Verhältnis zu den neuen Mittelschichten. Damit stehen wir vor der Aufgabe, ein Programm für den Zusammenschluß der lohnabhängigen Klassen bzw. Schichten gegen die Bourgeoisie zu entwickeln. Der Rückzug der NationAndere Fragen richten sich auf die "Nation" und den "Staat. Im Kommunistischen Manifest hieß es, daß "die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse" verschwinden. Tatsächlich stand die Bildung des deutschen und italienischen Nationalstaats noch bevor, als dies geschrieben wurde, und waren die kommenden hundert Jahre von der kriegerischen Austragung der Gegensätze zwischen den europäischen Nationen geprägt. Die Triebkraft dieser Gegensätze war die territoriale Frage. Der Widerhall, den die Parole von den Deutschen als einem Volk ohne Raum fand, fußte auf dem tradierten Denken einer Agrargesellschaft, welche die Masse der Lebensmittel in direkte Beziehung zur Größe des Territoriums setzte. Um eine steigende Bevölkerungszahl zu ernähren, brauchten die Deutschen nach dieser Vorstellung mehr Raum. Wiederum hat erst das sprunghafte Nachkriegswachstum der Agrarproduktivität die Quellen dieses Lebensraum-Denkens zum Versiegen gebracht. Heute wird auf einer geschrumpften landwirtschaftlichen Nutzfläche ein Vielfaches an Lebensmitteln erzeugt und ist in Europa nicht die Sicherstellung der Ernährung, sondern der Umgang mit der Überproduktion das Problem der Agrarpolitik. Soweit das Lebensraum-Denken neben der agrarischen eine industrielle Seite hatte, spiegelte sich darin eine bestimmte Industrialisierungsphase, die die Schwerindustrie im Zentrum hatte und in der nach Territorialherrschaft über eigene Rohstofflager verlangt wurde. In der Nachkriegszeit hat die Schwerindustrie ihre beherrschende Stellung verloren. Die heutige deutsche Bourgeoisie strebt nicht nach Territorialgewalt über eigene Rohstoffquellen, sondern kauft die Rohstoffe auf dem Weltmarkt, wie dies der Entwicklung des Kapitals angemessen ist. Auf dieser Grundlage ist die Anerkennung der deutschen Territorialverluste im Westen (Elsaß-Lothringen) und im Osten (Oder-Neiße-Grenze) endgültig geworden. Territoriale Streitigkeiten und die darauf gegründeten nationalen Gegensätze gehören im entwickelten Teil Europas der Vergangenheit an. Heute aber auch erst heute und nur in diesem Teil Europas ist die Voraussage des Kommunistischen Manifest Realität geworden, daß die Rolle der Nation mit der Entwicklung der Bourgeoisie, des Weltmarkts und industriell geprägter Lebensverhältnisse schwindet was nicht heißt, daß sie verschwindet. Derselben Zeitspanne hat es im übrigen bedurft, bis auch Ehe, Familie und Religion den von Marx und Engels vorausgesagten Niedergang erfahren haben, der erst seit drei Jahrzehnten im Massenumfang zu konstatieren ist. Vor einem Zerfall der Gesellschaft?Während die Wirkungskraft der "Nation" nachläßt, machen sich Erscheinungen eines beginnenden Zerfalls der Gesellschaft bemerkbar. In den großstädtischen Ballungsräumen haben sich ethnische Ghettos etabliert, die mit der Bildung von "Parallelgesellschaften" einhergehen. Während ein Teil der ausländischen Bevölkerung sich allmählich der deutschen Umgebung assimiliert, antworten andere Teile mit der Verfestigung der Abgrenzung. Für die Kommunisten besteht das Problem, daß die Segmentierung der Arbeiterklasse dem gemeinsamen Klassenkampf gegen die Bourgeoisie im Wege steht. Ein erheblicher Teil der Linken plädiert in diesem Kontext für eine "multikulturelle Gesellschaft". Aber was für eine Gesellschaft soll das sein? Welcher Zusammenhang besteht mit der Nation und mit den Klassen? Soll die geforderte Gesellschaft europäisch sein oder deutsch-türkisch-asiatisch-afrikanisch? Ist sie noch als bürgerliche oder erst als sozialistische Gesellschaft denkbar? Antworten auf diese Fragen sucht man vergeblich - es gibt sie nicht. Zu anderen Zeiten hat die nationale Frage und ihr Verhältnis zum Klassenkampf des Proletariats grundlegende Debatten unter den Marxisten hervorgerufen. Von ähnlichen Debatten ist im Hinblick auf die "multikulturelle Gesellschaft" nichts zu sehen. So selbstverständlich wie sie gefordert wird, so leer ist ihr Begriff. Parallel nehmen Umfang und Bedeutung privater Wachdienste zu, die den Staat in seinem Wesenskern als Gewaltapparat berühren. In Deutschland erst am Anfang, ist die Entwicklung in Ländern wie Frankreich, Großbritannien und insbesondere den USA weit vorangeschritten. Dort sind ganze Wohnviertel zu staatsfreien Zonen geworden, in denen entweder die Sicherheit der Reichen durch private Sicherheitsdienste garantiert wird oder die Vorstädte der Armen von ethnischen "gangs" beherrscht werden. Unter der Fahne der europäischen Einigung forcieren Teile des Kapitals eine Regionalisierung, die auf die weitere Zurückdrängung und partielle Auflösung des bisherigen Nationalstaats hinausläuft. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts vertrat Max Weber die Auffassung, daß Kapital und Staat auf Dauer miteinander inkompatibel seien. Angesichts des organisierten Kapitalismus seiner Zeit vermutete er noch, daß der Staat langfristig den Kapitalismus ersticken würde. Gegenwärtig ist eher das Gegenteil festzustellen. Sind diese Tendenzen vorübergehend oder reichen sie tiefer? Sind sie vorwärts gerichtet oder bloße Zeichen des Verfalls? Auch hierüber wäre eine gründliche Debatte wünschenswert. Krise der bürgerlichen HegemonieGleichzeitig beginnt der Sozialstaat zu wanken. In seiner gegebenen Form stützt er sich auf einen fundamentalen Klassenkompromiß, den der beherrschende Teil der Industrie in der Weimarer Republik noch verweigert hat. Heute von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden gemeinsam getragen, hat die Bundesrepublik ihre innere Gründung auf diesem "Gesellschaftsvertrag" zwischen Kapital und Arbeit vollzogen. Nunmehr nehmen innerhalb des Kapitals die Stimmen zu, die eine Aufkündigung der Sozialpartnerschaft fordern. Der Sozialstaat hat der parlamentarischen Herrschaft der Bourgeoisie über Jahrzehnte die notwendige Massenloyalität in allgemeinen, gleichen Wahlen gesichert. Was wird aus dem Parlamentarismus, wenn er seine Legitimationsbasis verliert? In den bürgerlichen Parteien spiegeln sich die gesellschaftlichen Veränderungen wider. Die parlamentarische Fortexistenz der FDP hängt an einem seidenen Faden. Diese Partei war als Nachfolgerin der Nationalliberalen nicht nur historisch die Partei der Bourgeoisie in Deutschland, sondern hat in den Nachkriegsjahrzehnten durch ihre Koalitionswechsel eine Herrschaftskontinuität über alle Regierungen hinweg gesichert. Welche Folgen hat es, wenn sie aus dem Bundestag verschwindet? Die Volksparteien SPD und Union sind, beginnend mit den 80er Jahren, in eine Krisenspirale geraten, weil die "sozialen und kulturellen Milieus" erodiert sind, auf die sich bis dahin stützen konnten. Nur vorübergehend durch die Auswirkungen der deutschen Einheit verdeckt, ist die Lockerung der Parteienbindung, die Schrumpfung ihrer Stammwählerschaft und die Zunahme der Nichtwähler seither zwar ungleichmäßig, aber insgesamt unaufhaltsam weitergegangen. In der SPD hat der Wandel in der Struktur der Lohnabhängigen zur Entdeckung einer "neuen Mitte" geführt. Für die Union versuchte Schäuble vor der letzten Bundestagswahl, Grundlagen für eine neue hegemoniale Politik zu entwickeln. Eckpunkte des von ihm in der FAZ vorgestellten politischen Programms waren die Begriffe der Solidarität und der Nation. In der anschließenden Debatte stellte u.a. Thomas E.Schmidt die vorgeschlagene Orientierung in Frage (FAZ 01.12.1998). Er konstatierte zunächst, daß die alten Leitbegriffe wie Christentum, Familie und Heimat schon lange nicht mehr ausreichend bindefähig seien, um die Massen dauerhaft bei den Unionsparteien zu halten. Mit dem Begriff der Solidarität, d.h. einer sozialen Ausgleichspolitik, seien zwar diejenigen zurückzugewinnen, die man unter der Regierung Kohl an die SPD verloren habe, aber keine zukunftsgerichteten neuen Mehrheiten zu erobern; allenfalls komme es zur Verwechselung mit der SPD. Das Schlagwort der Nation schließlich, so fuhr er fort, führt an die Ränder des politischen Spektrums und ist in Deutschland kaum mehrheitsfähig. Er wies darauf hin, daß sich hinter dem Begriff der Nation bei Schäuble auch kein ausformuliertes kulturell-politisches Programm verbirgt, das in die Gesellschaft eingepflanzt werden soll, so daß letztlich das Voluntative der Berufung auf patriotische Gefühle hervorsteche: Die Nation beschwört eher den Willen, es möchten überhaupt noch Bindekräfte in der Gesellschaft existieren, als daß aus ihr eine souveräne Versicherung des alten Loyalitätsgeflechts der Union spräche. Eigene, positive Antworten hatte der Kritiker nicht. Die Debatte in der Union spiegelt ebenso wie der Abstieg von FDP und SPD die Schwierigkeiten wider, mit denen die Bourgeoisie konfrontiert ist. Die sozialstaatliche Hegemonialbasis ihrer Herrschaft bröckelt im Zeichen des Neoliberalismus und der Globalisierung. Ihr mögliches Ziel ist "Europa", aber welche Perspektive für die Massen verbindet sich damit? Das Zeitalter der Nation war historisch verknüpft mit der Epoche der bürgerlichen Revolution, die sich auf französisch Liberté, égalité, fraternité buchstabierte: das bedeutete Freiheit von den persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen des Feudalismus und Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder durch Beseitigung der adeligen Vorrechte. Das anvisierte "Europa" dagegen kann nur ein Europa des Kapitals sein. Wenn die Bourgeoisie jedoch über die Ökonomie des Kapitals hinaus keine gesellschaftliche Perspektive mehr anzubieten hat was bleibt dann bei einer ökonomischen Krise? Klassenpolitik für unsere ZeitMöglicherweise ist der Zerfall der Gesellschaft notwendige Bedingung für die Herausbildung einer revolutionären Situation. Aber es reicht nicht, wenn die Bourgeoisie die Hegemonie über die Gesellschaft verliert; ihr Widerpart, das Proletariat, muß auch die Fähigkeit gewinnen, zum neuen Hegemon der Gesellschaft zu werden, um diese in eine andere Form zu überführen. Davon sind wir weit entfernt. Auf der einen Seite ist die Lohnabhängigkeit der Massen allgemein geworden, auf der anderen Seite steht ein schrumpfendes, ethnisch-kulturell gespaltenes Industrieproletariat. Zwar wächst seine Distanz zu den bürgerlichen Parteien, aber Anzeichen eines prinzipiellen Bruchs mit der bürgerlichen Gesellschaft gibt es nicht. Andere gesellschaftliche Kräfte haben mit "Europa" oder der "multikulturellen Gesellschaft" wie realitätstauglich auch immer ein Programm vor Augen, um das herum sie sich gruppieren können. Dagegen findet sich im Proletariat kein Ansatz einer Bewegung, die auf eine Beseitigung des Lohnsystems und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft zielt. Im Gegenteil ist seine politische Bewegung rückwärts gerichtet, auf die vermeintlich sicheren Verhältnisse der 60er Jahre hin, als der Lebensstandard kontinuierlich stieg und das Kapital keine Anstalten machte, den Klassenfrieden aufzukündigen. Darum wird der Staat angerufen, der das Kapital zur Beibehaltung der Sozialpartnerschaft zwingen soll, und die Nation, weil sie die "europäische" Untergrabung des Sozialstaats abwenden soll. Mit anderen Worten: gegenwärtig ist kein Teil der Gesellschaft so konservativ wie die Arbeiterklasse. Wann und in welchen Formen sie durch die Verhältnisse genötigt werden wird, revolutionär zu sein, ist völlig offen. Nur sollten die Kommunisten bis dahin tunlichst Antworten haben, die sich nicht beschränken auf eine Sammlung von Grundsätzen der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie oder auf das Revolutionsprogramm einer vergangenen Periode der Arbeiterbewegung, sondern im neuen Jahrhundert als Richtschnur des Handelns dienen können. Ob diese Antworten dann schon in Form eines fertigen Programms vorliegen oder nicht, ist unerheblich. Entscheidend ist, daß es uns gelingt, in der notwendigen Auseinandersetzung die Grundzüge der künftigen Klassenpolitik - sei es auch in kontroverser Form - herauszuarbeiten. Januar 2000 |