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  KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 1 - 16.09.1998 - Onlineversion

Ansgar Knolle-Grothusen

Die Marxsche Methode der politischen Ökonomie und die Bedeutung von Abstraktionen

im allgemeinen und konkretisiert am Marxschen Arbeitsbegriff und den Kategorien von konkreter und abstrakter Arbeit*

Ich möchte Euch zu Beginn meiner Ausführungen mit einigen Auffassungen zu meinem Thema bekannt machen, mit denen ich mich auseinandersetzen will:

"Marxens wissenschaftliche Revolution besteht nicht in Krisenprognostik oder Bastelanleitungen zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, sondern in der ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ .... also einem destruierenden Verfahren. Dadurch hat Marx die Kategorien und Voraussetzungen der bürgerlichen Ökonomie zerstört und so ein ganz neues wissenschaftliches Feld erschlossen. Gegenüber dieser Pioniertat sind die Einzelanalysen, die Marx innerhalb dieses neuen Feldes versucht hat, weniger wichtig; daß sie zuweilen fehlerhaft sind, ist Verschmerzbar. … Aber Marx hat nicht immer konsequent mit den traditionellen Kategorien gebrochen, zum Beispiel ist seine Werttheorie noch durch Reste der bürgerlichen Nationalökonomie verunreinigt. Marx’ Prämisse ist unstrittig: Wertmaßstab ist die in den jeweiligen Waren kristallisierte abstrakte Arbeit. Der Dissens beginnt da, wo Marx und Engels diese Arbeitsquanta physiologisch-naturalistisch bestimmen, etwa als die verausgabte Menge von "Nerv, Muskel, Hirn". Dies geht davon aus, daß der Warenwert schon vor dem Austauschprozeß quantifiziert ist. Tatsächlich werden aber, wie Marx an anderer Stelle beweist, die Waren erst beim Austausch aufeinander bezogen und wertmäßig fixiert, und zwar durch das Geld. Die abstrakte Arbeitszeit ist demnach kein physiologisch bestimmbarer Begriff, sondern eine gesellschaftliche Determinante; gemessen wird sie nicht in Kalorien, sondern in Geld; Prüfstand ist der Akt des Tausches." (Elsässer in: Wagenknecht/Elsässer, Vorwärts und vergessen? Hamburg 1996, S. 63)

"Arbeit scheint auf den ersten Blick immer konkret zu sein, eine bestimmte Tätigkeit, und das Abstraktum ‚Arbeit‘ nur der Allgemeinbegriff davon; Aber in warenproduzierenden Systemen wird ‚Arbeit‘ schlechthin, ohne jeden bestimmten Inhalt, zur unmittelbaren materiellen Gewalt als Realabstraktion. Das Abstraktum, die Kopfgeburt, tritt dem Kopf in Gestalt des Geldes als buchstäbliche äußere Realität entgegen … Der epigonale Marxismus verfehlt die Kritik der abstrakten Arbeit völlig. Er hielt Arbeit in ihrem vorgefundenen Dasein für das ontologische ‚Gute‘, das nur äußerlich vom Kapital vergewaltigt worden sei, und las den Begriff der abstrakten Arbeit gedankenlos als positive Definition." (R. Kurz, Der Kollaps der Modernisierung, S. 273, zitiert nach: ND vom 11./12.6.94, S. 10)

"Durch die qualitative Gleichsetzung allen Reichtums als Wert gilt im Kapitalismus jede konkrete Arbeit, d.h. von Individuen zur Produktion von Gebrauchswerten verrichtete menschliche Tätigkeit, nur als abstrakte, als notwendige gesellschaftliche Arbeit.... Der Widerspruch, daß sich konkrete Arbeit in abstrakte, daß sich Gebrauchswert in Wert zu verwandeln hat, nimmt auf beiden Polen (der relativen Wertform und der Äquivalentform, AKG) unterschiedliche Formen an. Zur Herstellung der in relativer Wertform befindlichen Ware wurde konkrete Arbeit geleistet. Indem sich diese Arbeit in dem Produkt einer anderen konkreten Arbeit darstellt, erscheint sie als ihr Gegenteil, als abstrakte." (Andreas: Vom Tauschwert, Materialsammlung 7.3 des OKF Hamburg)

"Zu seinen Sätzen zehn bis vierzehn, widerspreche ich vor allem, daß abstrakte Arbeit das Gegenteil von konkreter Arbeit ist, denn jede Abstraktion entspringt aus konkreten Dingen. ... Was existiert zuerst, die Idee (die abstrakte Widerspiegelung) von der Realität, oder die Realität? Und wie kann das eine das Gegenteil vom anderen sein, wenn die abstrakte Widerspiegelung der Realität ohne Realität nicht möglich ist? Wir halten also fest, daß die konkrete Arbeit in der Realität existiert, also greifbar ist, während die abstrakte Arbeit die Widerspiegelung eines Durchschnittswertes, einer Summe von konkreten Arbeiten der Menschen, durch das menschliche Gehirn ist." Jürgen: Zum Beitrag von Andreas vom Tauschwert, Materialsammlung 7. 3 des OKF Hamburg)

Allen vier hier zitierten Textpassagen ist anzumerken, daß sie erstens die Marxsche Methode nicht voll erfaßt haben und daß sie zweitens den Marxschen Arbeitsbegriff nicht verstanden haben, nicht erfassen, was konkrete, was abstrakte Arbeit meint und noch nicht unterscheiden können zwischen abstrakter Arbeit und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit.

Deshalb will ich mich hier mit diesen beiden Themenkomplexen befassen.

I. Zur Methode:

Jürgens Antwort auf Andreas ist zu entnehmen, daß er den Begriff konkret den unabhängig vom Bewußtsein ablaufenden realen Prozessen vorbehalten möchte, während der Platz für Abstraktionen die Widerspiegelung im Bewußtsein ist. Das ist zu einfach und in dieser Einfachheit falsch. Bei unserem Gegenstand kommt es darauf an, die objektiven gesellschaftlichen Prozesse und Gesetzmäßigkeiten im Bewußtsein zu rekonstruieren und das heißt gerade: von den einfachsten abstrakten Bestimmungen ausgehend sich emporzuarbeiten zum Verständnis des organischen Ganzen, zur konkreten Totalität, zum Gedankenkonkretum. Hören wir hierzu Marx selbst:
"Es scheint das Richtige zu sein mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch. Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Die Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn. Z.B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital z.B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen. Der erste Weg ist der, den die Ökonomie in ihrer Entstehung geschichtlich genommen hat. Die Ökonomen des 17. Jahrhunderts z.B. fangen immer mit dem lebendigen Ganzen, der Bevölkerung, der Nation, Staat, mehreren Staaten etc. an; sie enden aber immer damit, daß sie durch Analyse einige bestimmende, abstrakte, allgemeine Beziehungen wie Teilung der Arbeit, Geld, Wert etc. herausfinden. Sobald diese einzelnen Momente mehr oder weniger fixiert und abstrahiert waren, begannen die ökonomischen Systeme, die von dem Einfachen, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert aufstiegen bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt. Das letztere ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode. Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist. Im ersten Wege wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Wege des Denkens. Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden, und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst. Zum Beispiel die einfachste ökonomische Kategorie, sage z.B. Tauschwert, unterstellt Bevölkerung, Bevölkerung produzierend in bestimmten Verhältnissen; auch gewisse Sorte von Familien- oder Gemeinde- oder Staatswesen etc. Er kann nie existieren außer als abstrakte, einseitige Beziehung eines schon gegebenen konkreten lebendigen Ganzen. Als Kategorie führt dagegen der Tauschwert ein antediluvianisches Dasein. Für das Bewußtsein daher – und das philosophische Bewußtsein ist so bestimmt –, dem das begreifende Denken der wirkliche Mensch und daher die begriffene Welt als solche erst das Wirkliche ist, erscheint daher die Bewegung der Kategorien als der wirkliche Produktionsakt – der leider nur einen Anstoß von außen erhält –, dessen Resultat die Welt ist; und dies ist – dies ist aber wieder eine Tautologie – soweit richtig, als die konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenkonkretum, in fact ein Produkt des Denkens, des Begreifens ist, keineswegs aber des außer oder über der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich selbst gebärenden Begriffs, sondern der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe. Das Ganze, wie es im Kopf als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von künstlerischer, religiöser, praktisch-geistiger Aneignung dieser Welt. Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbstständigkeit bestehn; solange der Kopf sich nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode muß daher das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben." (Marx, Grundrisse S.21f, Einleitung)

Daß mit dieser Methode viele Schwierigkeiten haben, ist nicht neu. Im Nachwort zur 2.Auflage des Kapital konstatiert Marx: "Die im Kapital angewandte Methode ist wenig verstanden worden, wie schon die einander widersprechenden Auffassungen derselben beweisen", und er sieht sich genötigt, hier einige Erläuterungen zu seiner Methode zu geben, indem er eine Rezension ausführlich zitiert:

"‚Für Marx ist nur eins wichtig: dies Gesetz der Phänomene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäftigt. Und ihm ist nicht nur das Gesetz wichtig, das sie beherrscht, soweit sie eine fertige Form haben und in einem Zusammenhang stehn, wie er in einer gegebnen Zeitperiode beobachtet wird. Für ihn ist noch vor allem wichtig das Gesetz ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d.h. der Übergang aus einer Form in die andre, aus einer Ordnung des Zusammenhangs in eine andre. Sobald er einmal dies Gesetz entdeckt hat, untersucht er im Detail die Folgen, worin es sich im gesellschaftlichen Leben kundgibt ... Demzufolge bemüht sich Marx nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und soviel als möglich untadelhaft die Tatsachen zu konstatieren, die ihm zu Ausgangs- und Stützpunkten dienen. Hierzu ist vollständig hinreichend, wenn er mit der Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Notwendigkeit einer andren Ordnung nachweist, worin die erste unvermeidlich übergehen muß, ganz gleichgültig, ob die Menschen das glauben oder nicht glauben, ob sie sich dessen bewußt oder nicht bewußt sind. Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen ... Wenn das bewußte Element in der Kulturgeschichte eine so untergeordnete Rolle spielt, dann versteht es sich von selbst, daß die Kritik, deren Gegenstand die Kultur selbst ist, weniger als irgend etwas andres, irgendeine Form oder irgendein Resultat des Bewußtseins zur Grundlage haben kann. Das heißt, nicht die Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr zum Ausgangspunkt dienen. Die Kritik wird sich beschränken auf die Vergleichung und Konfrontierung einer Tatsache, nicht mit der Idee, sondern mit der andren Tatsache. Für sie ist es nur wichtig, daß beide Tatsachen möglichst genau untersucht werden und wirklich die eine gegenüber der andren verschiedne Entwicklungsmomente bilden, vor allem aber wichtig, daß nicht minder genau die Serie der Ordnungen erforscht wird, die Aufeinanderfolge und Verbindung worin die Entwicklungsstufen erscheinen. Aber, wird man sagen, die allgemeinen Gesetze des ökonomischen Lebens sind ein und dieselben; ganz gleichgültig, ob man sie auf Gegenwart oder Vergangenheit anwendet. Grade das leugnet Marx. Nach ihm existieren solche abstrakte Gesetze nicht …Nach seiner Meinung besitzt im Gegenteil jede historische Periode ihre eignen Gesetze … Sobald das Leben eine gegebene Entwicklungsperiode überlebt hat, aus einem gegebnen Stadium in ein andres übertritt, beginnt es auch durch andre Gesetze gelenkt zu werden. Mit einem Wort, das ökonomische Leben bietet uns eine der Entwicklungsgeschichte auf andren Gebieten der Biologie analoge Erscheinung … Die alten Ökonomen verkannten die Natur ökonomischer Gesetze, als sie dieselben mit den Gesetzen der Physik und Chemie verglichen … Eine tiefere Analyse der Erscheinungen bewies, daß soziale Organismen sich voneinander ebenso gründlich unterscheiden als Pflanzen- und Tierorganismen … Ja, eine und dieselbe Erscheinung unterliegt ganz und gar verschiednen Gesetzen infolge des verschiednen Gesamtbaus jener Organismen, der Abweichung ihrer einzelnen Organe, des Unterschieds der Bedingungen, worin sie funktionieren usw. Marx leugnet z.B., daß das Bevölkerungsgesetz dasselbe ist zu allen Zeiten und an allen Orten. Er versichert im Gegenteil, daß jede Entwicklungsstufe ihr eignes Bevölkerungsgesetz hat … Mit der verschiednen Entwicklung der Produktivkraft ändern sich die Verhältnisse und die sie regelnden Gesetze. Indem sich Marx das Ziel stellt, von diesem Gesichtspunkt aus die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu erforschen und zu erklären, formuliert er nur streng wissenschaftlich das Ziel, welches jede genaue Untersuchung des ökonomischen Lebens habe muß … Der wissenschaftliche Wert solcher Forschung liegt in der Aufklärung der besondren Gesetze, welche Entstehung, Existenz, Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus und seinen Ersatz durch einen andren, höheren regeln. Und diesen Wert hat in der Tat das Buch von Marx.‘ Indem der Herr Verfasser das, was er meine wirkliche Methode nennt, so treffend und, soweit meine persönliche Anwendung derselben in Betracht kommt, so wohlwollend schildert, was andres hat er geschildert als die dialektische Methode? Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun. Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle." (MEW 23, S. 25 ff)

Dies ist nun wirklich etwas völlig anderes, als Elsässers Marx unterstelltes destruierendes Verfahren, die angebliche Zerstörung der Kategorien der bürgerlichen politischen Ökonomie. Marx hat die Kategorien der politischen Ökonomie nicht zerstört, sondern einer Kritik unterzogen, hat sie sich angeeignet und in seinem Werk aufgehoben, im Sinne von bewahrt, relativiert, vergenauert. Und die Einzelheiten seiner Analyse sind keineswegs nebensächlich, will man die Gesellschaft als Gedankenkonkretum reproduzieren.

Nehmen wir zur Frage des abstrakten und konkreten ein unverfängliches Beispiel, das Abstraktum "Tisch". In der Realität, in unserem täglichen Leben, haben wir es erstmal nicht mit dem Abstraktum "Tisch", sondern mit einer großen Anzahl verschiedenartigster Tische zu tun, Tische, an denen wir zum Essen sitzen, an denen wir schreiben, auf denen Bücher liegen, Computer stehen, oder Tapeten eingekleistert werden. Bei jedem einzelnen Tisch, den wir sinnlich konkret wahrnehmen, handelt es sich um einen konkreten Tisch: mein Tapeziertisch, dein Schreibtisch, Großmutters Küchentisch usw. Alle diese Gegenstände fassen wir gedanklich in Gruppen zusammen, indem wir von bestimmten konkreten Eigenarten dieser Gegenstände absehen, indem wir abstrahieren. Je nachdem, wovon wir abstrahieren, verbleibt den Gegenständen ein größeres oder kleineres Maß an gemeinsamen Eigenschaften, bekommen wir unterschiedliche Abstraktionen: auf eine Weise bekommen wir den Küchentisch, den Schreibtisch, den Tapeziertisch usw., in anderer Weise abstrahiert können wir zum Holztisch, Glastisch usw., oder zu Gruppierungen wie alten, neuen, runden und eckigen, großen und kleinen, deinen und meinen Tischen kommen. Wenn wir nun von all den hier noch vorhandenen Unterscheidungen absehen und nur das allen Tischen Gemeinsame festhalten, erhalten wir das Abstraktum Tisch.

Dieses Abstraktum erscheint zuerst als reines Gedankenprodukt. Doch gerade in dieser Abstraktion tritt die wesentliche Eigenschaft aller konkreten Tische offen zutage, die jeden Tisch erst zum Tisch macht: ein hergestellter Gegenstand zu sein, mit einer ebenen Fläche in einer bestimmten Höhe über dem Fußboden, auf der Gegenstände plaziert und Tätigkeiten durchgeführt werden können. Wenn ein Gegenstand diese Eigenschaft nicht aufweist, ist’s kein Tisch, und wenn einem Tisch diese Eigenschaft genommen wird, ist er mal ein Tisch gewesen. Verständige gedankliche Abstraktionen reflektieren also real vorhandene Wesensmerkmale der sinnlich wahrgenommenen Realität, machen die tatsächlichen Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Dinge erst begreifbar. Diese Realität, die verständigen Abstraktionen zugrunde liegt, ermöglicht es uns, die Abstraktion Tisch nicht nur als Gedankenprodukt zu begreifen, sondern sie auch in den realen Tischen wiederzufinden. Jeder Tisch ist zugleich konkreter und abstrakter Tisch; konkreter Tisch in seiner Einmaligkeit, mit seinen speziellen Ecken und Kanten, abstrakter Tisch im Hinblick auf seine reale Gleichartigkeit mit allen anderen Tischen.

Nun zur Arbeit:

Im 5. Kapitel des "Kapital" betrachtet Marx die Arbeit als Produktion von Gebrauchswerten zunächst unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form: Wie Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit zu tun. Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eignen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt ist in urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt." (MEW 23, S. 192f, kursive Hervorhebungen nach der Auflage von 1867) "Der Arbeitsprozeß wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam. Wir hatten daher nicht nötig, den Arbeiter im Verhältnis zu andren Arbeitern darzustellen. Der Mensch und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der andren Seite genügten." (MEW 23, S. 198f)

Wie jeder Tisch konkreter Tisch und gleichzeitig Tisch abstrakt ist, so ist auch die menschliche Arbeit immer zugleich konkrete und abstrakte Arbeit. Marx untersucht nun den Zusammenhang, der zwischen diesen beiden Momenten der Arbeit in einer bestimmten – der kapitalistischen – Form der gesellschaftlichen Produktion, und dem durch die Arbeit erzeugten Produkt entsteht.

Das Arbeitsprodukt liegt in der kapitalistischen Gesellschaft nicht in der Form des einfachen Gebrauchsgegenstandes vor, sondern als für den Austausch produzierter Gebrauchsgegenstand, als Ware, als Gebrauchsgegenstand für andere. Seinen unmittelbaren Gebrauchswert als Gebrauchsgegenstand hat es nicht für den Produzenten, sondern für den Verbraucher, zu dem es erst durch den Austausch gelangt. Für den Produzenten hat sein Produkt einen anderen, zusätzlichen Gebrauchswert, den Gebrauchswert, austauschbar zu sein, Mittel zu sein zur Erlangung von anderen Arbeitsprodukten, Träger von Tauschwert zu sein.

Gebrauchswert hat eine Ware durch ihre sinnlich-materiellen Eigenschaften, die sie für eine bestimmte Art des Gebrauchs geeignet machen und die durch die konkrete Form der sie erzeugenden Arbeit hervorgebracht werden; ein Tisch kann nicht als Kleidungsstück dienen und auch nicht durch Schneiderarbeit hergestellt werden. Und doch kann die Schneiderarbeit als warenproduzierende Arbeit zur Erlangung eines Tisches dienen. Denn eine bestimmte Menge von Kleidungsstücken läßt sich gegen einen Tisch tauschen.

Der Tauschwert erscheint hier als das quantitative Verhältnis, in dem unterschiedliche Gebrauchswerte gegeneinander ausgetauscht werden können. Dieses Verhältnis ändert sich zwar mit Ort und Zeit, ist aber dennoch offensichtlich nicht völlig willkürlich; Bedingungen, unter denen sich gegen ein Kaugummi ein Mercedes Benz eintauschen läßt, sind schwer vorstellbar. Also müssen alle Waren etwas Gemeinsames in größeren oder kleineren Anteilen enthalten, das die Grundlage ihres Austauschverhältnisses zu anderen Waren, ihres Tauschwertes, bildet. Dies Gemeinsame wird Wert genannt. Das Gemeinsame kann offensichtlich nicht der Gebrauchswert, ja überhaupt keine materielle Eigenschaft der Waren sein, da sich die Waren hierin ja gerade voneinander unterscheiden.

Um das Gemeinsame Dritte der Waren zu finden, müssen wir also von ihren Gebrauchswerteigenschaften, ja von allen ihren stofflichen Eigenschaften abstrahieren. Was bleibt, ist die gemeinsame Eigenschaft aller Waren, Arbeitsprodukt zu sein. Mit der Abstraktion von der sinnlich konkreten Beschaffenheit der Arbeitsprodukte, von ihrer bestimmten Nützlichkeit, müssen wir jedoch auch von den konkreten Formen der Arbeit abstrahieren, sie reduzieren auf gleiche menschliche Arbeit, auf abstrakt menschliche Arbeit, Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in welcher Form auch immer. Mathematisch ausgedrückt ist die warenproduzierende Arbeit eine gedoppelte Implikation:

  • Die konkrete Arbeit erzeugt den Gebrauchswert der Ware
  • Die abstrakte Arbeit erzeugt den Wert der Ware
  • Die abstrakte Arbeit ist ebenso wie der abstrakte Tisch keine bloße Gedankenabstraktion, sondern ist reales Moment menschlicher Arbeit, ist tatsächliche "produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw." (MEW 23, S. 58) von bestimmter Zeitdauer, nur unter Absehung von der konkreten Form der Arbeit als Tischler-, Schneiderarbeit o.ä..

    Die abstrakte Arbeit hat zwei Bestimmungen, eine qualitative und eine quantitative:

    Qualitativ ist sie bestimmt als zweckgerichtete Verausgabung menschlicher Arbeitskraft unabhängig von der konkreten Form der Verausgabung und vom konkreten Zweck, sehr wohl also eine Bestimmung mit "physiologisch-naturalistischer" Grundlage. Da der Mensch ein gesellschaftliches Wesen, Verausgabung menschlicher Arbeitskraft eine Gesellschaft voraussetzende Angelegenheit ist, hat die Bestimmung der abstrakten Arbeit – ebenso wie die der konkreten Arbeit natürlich auch ein gesellschaftliches Moment. Bei der konkreten Arbeit liegt das gesellschaftliche Moment darin, daß die Ausdifferenzierung der Arbeit in verschiedenste konkrete Arbeiten mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erst richtig hervorgetrieben wird, ebenso wie ihre Reduktion auf einfachste mechanische Verrichtungen, auf eine bloß formelle Tätigkeit. Bei der abstrakten Arbeit liegt das gesellschaftliche Moment darin, daß die Arbeit des einen soviel gilt, wie die Arbeit des anderen, daß die Menschen einander formal gleichgestellt sind; dies ist nun tatsächlich eine Errungenschaft menschlicher Zivilisation, die nicht wieder hintergangen werden darf.

    Quantitativ ist die Arbeit, bestimmt durch die Zeit, die sie dauert. Damit ist auch die Wertgröße einer Ware bestimmt durch die unter gegebenen Bedingungen zu ihrer Herstellung im Durchschnitt notwendigen Arbeitszeit.

    Sarah Wagenknecht weist zurecht darauf hin, daß Elsässer in der eingangs zitierten Passage die qualitative und die quantitative Seite der Wertbestimmung der Ware durcheinanderschmeißt: "Jürgen Elsässer springt, wie ich finde, allzu sorglos mit den ökonomischen Kategorien um. Das beginnt bei der Nichtunterscheidung von Wertsubstanz und Wertgröße. Marx’ Prämisse ist keineswegs: ‚Wertmaßstab ist die in den jeweiligen Waren kristallisierte abstrakte Arbeit.‘ Die abstrakte Arbeit bildet die Wertsubstanz. Maßstab der Wertgröße ist die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit." Soweit so gut. Doch Wagenknecht weiter: "Eine spezifisch gesellschaftliche Kategorie ist die abstrakte Arbeit insofern, als die menschliche Arbeit eben erst unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen den Doppelcharakter von konkreter und abstrakter Arbeit annimmt, nämlich sofern sie für den Austausch produziert, d.h. sofern der Zusammenhang der arbeitsteiligen Produktion sich allein über den Austausch realisiert. Dies vorausgesetzt, entsteht der Wert jedoch keineswegs erst in der Zirkulations-, sondern bereits in der Produktionssphäre: eben durch die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, unabhängig von allen konkreten Bestimmungen dieser Arbeit." (Wagenknecht, ebenda S. 65)

    Den Doppelcharakter von konkreter und abstrakter Arbeit hat die Arbeit unter allen möglichen gesellschaftlichen Bedingungen, nicht nur sofern für den Austausch produziert wird. Was allerdings erst mit der Produktion für den Austausch auftritt, ist, daß die Arbeit, die der Warenproduzent leistet, eben nicht als das, was sie ist erscheint, nicht direkt als gleiche menschliche Arbeit, als Bestandteil der menschlichen Arbeit überhaupt, als gesellschaftliche Beziehung des Produzenten erscheint. Die gesellschaftliche Relevanz der Arbeit erweist sich erst im Nachhinein, erscheint als sachliche Eigenschaft des Produkts, wenn es auf dem Markt mit anderen Waren zusammentrifft, im Tauschwert, oder in den Wertformen – was das gleiche ist. Daß der Wert der Ware erst auf dem Markt im Wertverhältnis zu anderer Ware seinen Ausdruck bekommt, bedeutet keineswegs – wie Elsässer meint, daß der Wert erst hier entsteht. Das ist der gleiche Irrtum, wie wenn man meinen würde, die Schwere von einem Sack Reis entstünde erst auf der Wage.

    Letztlich laufen sowohl Elsässers Behauptung, die Waren würden erst beim Austausch wertmäßig fixiert, als auch Wagenknechts Meinung, erst mit der Warenproduktion nähme die Arbeit den Doppelcharakter von konkreter und abstrakter Arbeit an, auf das gleiche hinaus Eine arbeitsteilige gesellschaftliche Produktion, die keine Warenproduktion ist und dennoch eine Ökonomie der Zeit ermöglicht, wird undenkbar.

     


    * Referat gehalten auf dem OKF-Seminar "‚Das Kapital‘ – Ware und Geld" am 24./25.05.97 in Hamburg.

     

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