Nr.2/1998
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Mehr Lohn oder kuerzere Arbeitszeit?
Die italienische Regierung will die 35-Stunden-Woche nicht

Um die Zustimmung von Rifondazione Comunista zum Sparhaushalt zu bekommen,
versprach der italienische Ministerpraesident Romano Prodi im Herbst 1997,
im Januar 1998 ein Gesetz zur Einfuehrung der 35-Stunden-Woche vorzulegen.
Ist Rifondazione damit ihrem Ziel naeher gekommen, die Regierung zu einer
aktiven Beschaeftigungspolitik zu zwingen?

Seit der Bildung der von ihr tolerierten Regierung Prodi im Fruehjahr 1996
hat die Partei der kommunistischen Erneuerung (Rifondazione) mehrere
Anstrengungen unternommen, politische Massnahmen gegen die
Massenerwerbslosigkeit auf die Tagesordnung zu setzen -- ohne greifbare
Ergebnisse. Zunaechst gelang es ihr, Prodi die Zustimmung zu einer
nationalen Beschaeftigungskonferenz abzuringen, doch fand diese niemals
statt. Dann setzte sie die zeitlich befristete Einstellung von 100.000
Jugendlichen in Sueditalien durch, stimmte dafuer aber einem Gesetz zu,
das Gelegenheitsarbeit zulaesst und das sie anfangs heftig verurteilt
hatte. Waehrend der Regierungskrise im letzten Oktober schliesslich konnte
sie, unter Berufung auf die Initiative der Regierung Jospin (mit ihrem
Plan fuer eine gesetzliche Arbeitszeitverkuerzung), Prodi dazu bewegen,
fuer Januar 1998 einen Gesetzesentwurf zur 35-Stunden-Woche in Aussicht zu
stellen, der im Jahr 2001 in Kraft treten soll.

Diese Uebereinkunft zwischen Prodi und Rifondazione ist in der regierungs-
und unternehmerfreundlichen Presse auf heftige Kritik gestossen. Das Ziel
des gesamten buergerlichen Lagers ist zu verhindern, dass das Abkommen in
die Praxis umgesetzt wird. Die Kapitalseite kann sich dabei u.a. auf die
Ablehnung einer gesetzliche Verkuerzung der Arbeitszeit durch das Europa-
Parlament und auf eine Erklaerung desselben Parlaments, die die
verschiedenen Laender ermuntert, "die Flexibilitaet der Arbeit und der
Arbeitszeit durch nichtgesetzliche und nichtvertragliche Prozesse im
sozialen Dialog auf betrieblicher Ebene" zu foerdern. Die haertesten
Angriffe gegen das Vorhaben kommen vom Unternehmerverband Confindustria,
der eine wahre Phalanx konvertierter Altgewerkschafter, Journalisten,
Universitaetsprofessoren und skrupelloser Intellektueller auffaehrt, die
frueher auf der Seite der Arbeiter standen.

Pferdefuesse

Das Abkommen lautet im Kern: "Den Absichtserklaerungen zwischen Italien
und Frankreich fuer eine gemeinsame europaeische Beschaeftigungspolitik
Rechnung tragend bemueht sich die Regierung, im Januar 1998 einen
Gesetzesentwurf vorzulegen, der eine Verkuerzung der gesetzlichen
Arbeitszeit ab 1.Januar 2001 auf woechentlich 35 Stunden vorsieht. Diese
Verkuerzung wird auf Unternehmen angewendet, die mehr als 15 Beschaeftigte
haben."

Nach einer Studie des Arbeitsministeriums sind 6 bis 7ÊMillionen Menschen
von diesem Gesetz betroffen, wenn man den oeffentlichen Dienst und alle
Bereiche beiseite laesst, in denen bereits weniger als 35 Stunden
gearbeitet wird.

Das Abkommen legt nicht fest, ob die Arbeitszeitverkuerzung mit
Lohneinbussen einhergehen soll. Es verweist auf die Situation in
Frankreich, aber es bleibt vage. Schwerwiegender ist, dass andere
Massnahmen der Regierung in die entgegengesetzte Richtung, also in
Richtung auf mehr Arbeitszeitflexibilitaet verweisen.

Die erste Massnahme betrifft die Umsetzung der Richtlinie der
Europaeischen Union ueber die 40-Stunden-Woche. Hierzu gibt es eine
Uebereinkunft zwischen der Regierung, dem Unternehmerverband und den
Gewerkschaftsverbaenden, die eine Anpassung Italiens an die Richtlinien
der EU bedeutet und dem Vorstoss von Rifondazione das Wasser abgraebt: Sie
sieht vor, ein Dekret von 1923 zu ersetzen, das die Hoechstarbeitszeit
bislang auf 48 Stunden festsetzte. An die Stelle dieser Regelung soll ein
Gesetz treten, das die 40-Stunden-Woche einfuehrt, wie es die europaeische
Richtlinie fordert.

Aber die 40 Stunden sind keine Hoechstarbeitszeit mehr. Von nun an sollen
die darueber hinaus gearbeiteten Zeiten nicht mehr als Ueberstunden
angerechnet werden. Die 40 Stunden sollen als "ein ueber mehrere Wochen
gerechneter Mittelwert gelten; die fuer den Durchschnitt genommene Periode
soll dabei auf keinen Fall laenger als ein Jahr sein." Das bedeutet
gegenueber dem Gesetz von 1923 (aus der Zeit Mussolinis!) eine reale
Verschlechterung, weil eine woechentliche Hoechstarbeitszeit nicht mehr
fixiert ist.

Die zweite Massnahme betrifft das Gesetz ueber die Gelegenheitsarbeit.
Laut Arbeitsministerium muessten ihm zufolge 200.000 Menschen neu
eingestellt werden. Das Ministerium hat aber auch klargestellt, dass unter
den neu Eingestellten nur sehr wenige Arbeitslose sein werden. Die meisten
werden Beschaeftigte sein, die heute selbstaendig oder Schwarzarbeiter
sind. Damit riskiert das Gesetz, dass es als Massnahme gegen die
Arbeitslosigkeit wirkungslos wird.

Die Initiative von Rifondazione fuer 100.000 Neueinstellungen von
Jugendlichen im Sueden scheint mehr Erfolg zu haben. Bisher haben
Unternehmen und Gemeindeverwaltungen Einstellungswuensche geaeussert, die
insgesamt 165.000 junge Menschen betreffen. Aber man hat den Eindruck,
dass die Unternehmer, besonders kleine Unternehmer, dabei das Ziel
verfolgen, von der oeffentlichen Hand Arbeitskraefte zu bekommen, die sie
nichts kosten. Das Gesetz sieht fuer die Jugendlichen ein Praktikum von 20
Wochenstunden mit einer Laufzeit von zehn bis zwoelf Monaten vor, bei dem
sie 800.000 Lire (ca. 800 DM) pro Monat verdienen. Die Arbeitgeber, die am
Ende des Praktikums Beschaeftigte aus diesem Programm einstellen, erhalten
Steuervorteile.

Uebrigens haben die Unternehmer in den kuerzlich erneuerten
Tarifvertraegen eine Klausel durchsetzen koennen, die eine Neuverhandlung
dieser Regelung fuer den Fall der gesetzlichen Einfuehrung der 35-Stunden-
Woche vorsieht. In der Papierindustrie gab es einen achtstuendigen Streik
gegen diese Anmassung.

Die Gewerkschaften

Die Regierung ist sehr bemueht, die Unternehmer zu beruhigen und das mit
Rifondazione erzielte Abkommen herunterzukochen. Arbeitsminister Treu
sicherte den Unternehmern zu, er sei von der angestrebten Loesung nicht
ueberzeugt und es gebe "genuegend Zeit, ueber den Gesetzesentwurf zu
diskutieren, und drei Jahre, um darueber zu verhandeln".
Wirtschaftsminister Ciampi bezeichnete die Verkuerzung der Arbeitszeit
umstandslos als "wirtschaftliche Dummheit".

Aber auch die Gewerkschaftsverbaende haben duchweg eine negative Haltung
eingenommen. Ihr Einverstaendnis haben bisher nur die
Metallarbeitergewerkschaft in der CISL und in der CGIL (FIM und FIOM)
erklaert sowie die Stroemungen in der CGIL, die Rifondazione nahe stehen.
Aber die beiden Dachverbaende CISL und UIL verhehlen ihre Ablehnung nicht,
und die CGIL wirbt, genauso wie die PDS, fuer ein Rahmengesetz, das einer
sozialpartnerschaftlichen Regelung den Vorzug gibt. Die
Gewerkschaftsvorstaende moegen es nicht, dass Rifondazione mit ihrer
Stellung als die Kraft, von der das Ueberleben der Regierung abhaengt,
eigene Initiativen auf dem Feld der Beschaeftigungspolitik einbringt, die
die Politik der Klassenzusammenarbeit in Frage stellen und die
Gewerkschaften links ueberholen. Seit der Zeit der Regierung Ciampi
verfolgen sie verstaerkt eine Linie der "objektiven Konvergenz zwischen
Unternehmern und Gewerkschaften".

Skepsis an der Basis

Doch die Haltung der abhaengig Beschaeftigten zur 35-Stunden-Woche
interessiert uns mehr. Wir leben nicht in einer Periode, die vergleichbar
waere mit der nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution, noch
mit den 60er Jahren, als in zahlreichen Laendern die 40-Stunden-Woche
durchgesetzt wurde. Richtiger ist die Analogie mit den fruehen 30er Jahren
in den USA, als die Fuehrung der US-amerikanischen Gewerkschaften
angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit die Losung einer generellen
Verkuerzung der Arbeitszeit ausgab.

Anfang der 20er und Ende der 60er Jahre wurde die Arbeitszeitverkuerzung
spontan, wenn nicht von der gesamten Arbeiterklasse, so doch von sehr
breiten Schichten unterstuetzt. Im ersten Fall war der Achtstundentag,
fuer den die Arbeiterbewegung ein halbes Jahrhundert lang gekaempft hatte,
das Minimalziel, das im Windschatten der Revolutionen und Umwaelzungen von
1918/19 endlich durchgesetzt werden konnte. Im zweiten Fall waren es die
Arbeiter am Fliessband und in den Bereichen mit den schwersten
Taetigkeiten, die eine Arbeitszeitverkuerzung als lebensnotwendig
betrachteten.

Heute befinden wir uns in einer Situation, die der der grossen
Weltwirtschaftskrise vergleichbar ist. Der Ruf nach Arbeitszeitverkuerzung
entsteht hier nicht spontan, und sei es deshalb, weil die hohe
Arbeitslosigkeit eine Erosion der Realloehne mit sich bringt. Der
italienischen Nationalbank zufolge ist das Nettoeinkommen der Familien
1993 um 5,2 Prozent gefallen, 1994 um 0,3 Prozent; 1995 und 1996 ist es
nur geringfuegig wieder gestiegen. Unter solchen Bedingungen ist es
normal, dass die diejenigen, die Arbeit haben, vor allem das Beduerfnis
haben, ihr Gehalt zu erhoehen.

Unter einem anderen Aspekt wird dies durch eine Untersuchung bestaetigt,
die vom Bildungsinstitut ISFOL durchgefuehrt wurde: Danach liegt die
mittlere Wochenarbeitszeit fuer die Gesamtheit der Arbeiter,
einschliesslich derer in Teilzeit (7%), bei fast 40 Stunden (39,9); fuer
mehr als ein Fuenftel von ihnen bei 52,8 Stunden. Dies zeigt, dass die
Beschaeftigten massiv zu Ueberstunden Zuflucht nehmen, um die Erosion der
Realloehne aufzufangen.

In vereinzelten Faellen, dort, wo die Bedingungen es erlauben, haben sich
Unternehmer und Gewerkschaften auch ohne die Verabschiedung eines Gesetzes
ueber eine Verkuerzung der Arbeitszeit auf weniger als 40 Stunden
verstaendigt. Aber das betrifft nur eine absolut begrenzte Anzahl von
Beschaeftigten, die ueberdies dafuer zahlreiche Flexibilisierungsklauseln
in Kauf nehmen mussten. Die Folge ist, dass auch diese Beschaeftigten
unter dem Strich nicht ueber mehr Zeit verfuegen, und dass es keinerlei
Anstieg der Beschaeftigung gibt.

Das Risiko ist also gross, dass der Ruf nach der 35-Stunden-Woche ein
propagandistischer bleibt, wenn es nicht gelingt, unter den
Erwerbstaetigen, den Studierenden und Erwerbslosen eine breite und
organisierte Kampagne ueber die Notwendigkeit der Arbeitszeitverkuerzung
zur Bekaempfung der Massenarbeitslosigkeit zu fuehren und diese mit klaren
Auflagen hinsichtlich des Lohnausgleichs wie auch der Neueinstellungen zu
versehen. Gibt es keine Massenbewegung, die eine gesetzliche Regelung
kritisch begleitet und konkretisiert, ist das Risiko gross, dass diese
versandet.

Gianni Rigacci