Nr.2/1998
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Massenspontaneitaet versus Parteidisziplin

Rosa Luxemburg duerfte die am meisten verkannte und vereinnahmte Person in
der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sein. Das "grosse I" koennen
wir uns im Begriff "Arbeiterbewegung" tatsaechlich sparen, denn ein
erheblicher Teil der vielfachen Fehlinterpretationen von Luxemburg ist
gerade der Tatsache geschuldet, dass in dieser maennerdominierten Bewegung
eine authentische Frau und Revolutionaerin nicht den ihr angemessenen
Platz haben sollte. Das steht im uebrigen nicht im Widerspruch zu dem
interessanten Vorgang, dass linke Maenner zu dieser grossen
Revolutionaerin durchweg ein intimes Verhaeltnis haben und diese posthum
ausschliesslich mit Vornamen ansprechen, was bei keinem einzigen Mann,
z.B. Karl Liebknecht, Leo Trotzki, Wladimir Iljitsch Lenin, und wohl auch
bei keiner anderen Frau, z.B. Clara Zetkin, der Fall ist.


Eine klassische falsche Frontstellung, die aufgemacht und in der Rosa
Luxemburg vereinnahmt wird, ist die zwischen "Massenspontaneitaet" --
wofuer Luxemburg vor allem eingetreten sei -- und "Parteidisziplin",
wogegen sich Luxemburg aufgelehnt und was sie als Gegensatz zu
Massenspontaneitaet begriffen habe. Der Rowohlt-Verlag hat auf dem
Hoehepunkt der APO sogar ein Buch herausgebracht mit Luxemburg-Texten und
dem Titel Schriften zur Theorie der Spontaneitaet. Dabei ist es schlicht
falsch, dass Luxemburg eine solche "Theorie" entwickelt habe.

Die Frontstellung "Massenspontaneitaet vs. Parteidisziplin" ist an ihren
beiden Polen fragwuerdig. Es ging Luxemburg zum einen um die Betonung der
entscheidenden Bedeutung von Massenaktionen. Zum anderen wandte sie sich
zwar gegen eine zentralistisch definierte Parteidisziplin; gleichzeitig
betonte sie jedoch die Notwendigkeit einer revolutionaeren Organisation --
und zwar als logisches Pendant zu Massenaktionen.

Zunaechst sollten wir uns verdeutlichen, zu welcher Zeit Luxemburg Anfang
des 20.Jahrhunderts ihre politischen Positionen hinsichtlich der Bedeutung
von Massenaktionen entwickelte.

Es gab ueberall in den industrialisierten Laendern grosse
sozialdemokratische und revolutionaere Organisationen. Diese hatten
wirklichen Masseneinfluss und orientierten ihre Anhaengerschaft auf eine
revolutionaere Veraenderung. Dies war gewissermassen vorgegeben und muss
zum Verstaendnis von Luxemburgs Positionen bei ihren Leserinnen und Lesern
als bekannt vorausgesetzt werden.

Anfang des 20.Jahrhunderts, als viele sozialdemokratische Fuehrer einen
graduellen Marsch in den Sozialismus vorgaukelten, ihr Programm in
"Minimal"- und "Maximal"-Programm aufteilten -- wobei das letztere auf
Sonntagsreden begrenzt blieb -- legte Luxemburg den Akzent auf die Massen
und ihre selbstaendigen Aktionen. Zumindest ein Teil der Wirklichkeit
Anfang des Jahrhunderts bestaetigte die Richtigkeit dieser Orientierung.

1902 gab es den grossen belgischen Generalstreik, 1905 kam es zur
Russischen Revolution -- mit der Bildung von Raeten und bei noch gering
verankerten revolutionaeren Parteien; 1910 entwickelte die deutsche SPD
die Kampagne zum preussischen Wahlrecht; vor dem I.Weltkrieg gab es auf
internationaler Ebene breite Demonstrationen fuer Frieden; 1914 kippte die
Stimmung und die Massen zogen gegeneinander, unter nationalen Fahnen, in
den Krieg; 1917 fand die -- siegreiche -- Oktoberrevolution in Russland
statt, gepraegt von einer fast ideal zu nennenden Mischung von
Massenaktionen und organisierendem Eingreifen der (bolschewistischen)
Partei; 1918 kam es in Deutschland zur Novemberrevolution, eine in
erheblichem Mass durch spontane Massenaktionen getragene Revolte mit nur
schwachen, aber gezielt eingreifenden Kraeften einer organisierenden
Partei (Spartakusbund, KPD, Obleute).

Luxemburg aeusserte vor diesem Hintergrund der realen Klassenkaempfe,
Revolten und Revolutionen, dass die Massen "nicht aus Broschueren und
Flugblaettern, sondern bloss aus der lebendigen politischen Schule, aus
dem Kampf und in dem Kampf, in dem fortschreitenden Verlauf der
Revolution" lernen.

Sie ging in ihrer Analyse von vergleichbaren Ueberlegungen aus, wie sie
von Marx in seinen "Pariser Manuskripten" und spaeter im "Kapital"
formuliert worden waren: Die arbeitende Klasse ist zunaechst einmal
atomisiert, zersplittert, individualisiert, entfremdet -- ist "Klasse an
sich" und damit nicht revolutionaer. In Massenaktionen allerdings kann
punktuell die "Klasse fuer sich" aufscheinen -- in diesen Aktionen koennen
Massen die ihnen von den herrschenden Verhaeltnissen aufgezwungene
Verdummung und Manipulation sprengen und emanzipatives Bewusstsein
entwickeln.

Luxemburg plaedierte dafuer, die Massen durchaus kritisch zu sehen und all
ihre reaktionaeren, aus dem beschriebenen Alltag entspringenden Tendenzen
zu bekaempfen. Gleichzeitig gibt es bei ihr nicht die Spur jener
Massenverachtung, die heute oft gerade in der radikalen Linken gepflegt
wird. Dabei haette Rosa Luxemburg ausreichend Anlass fuer eine
vergleichbare Haltung gehabt -- der massenhafte Gang des europaeischen
Proletariats in den jeweils nationalen Krieg gegen die eigenen
Klassenbrueder und -schwestern, den dieses 1914--1918 praktizierte, war
ernuechternd und haette Anlass sein koennen, Massenaktionen mit
fortschrittlichem Inhalt ganz abzuschreiben.

Juergen Elsaesser hat zu Beginn der Podiumsveranstaltung am 11.Januar 1997
just dies gesagt: Auf die Massen zu setzen, sei nur bis August 1914
gerechtfertigt gewesen. Danach, so Elsaesser, sei jedes Setzen auf die
Massen ungerechtfertigt, wenn nicht reaktionaer gewesen.

Wer so argumentiert, darf sich nicht auf Luxemburg berufen. Sie war es,
die nach der schrecklichen Erfahrung des Kriegsbeginns 1914 weiter auf die
Massen setzte, die jede kleine Regung in dieser Masse --
Arbeitsverweigerung in der Ruestungsproduktion, Kriegsdienstverweigerung,
Friedensdemonstrationen -- als Hoffnungsschimmer aufnahm und die im
November 1918 recht behalten sollte, als massenhaft dasselbe Proletariat
dem Kriegswahn ein Ende setzte.

Im Dezember 1918, auf der Gruendungsversammlung der Kommunistischen Partei
Deutschlands (Spartakusbund), appellierte Luxemburg, dass die Massen erst
darin geschult werden muessten, "dass der Arbeiter- und Soldatenrat der
Hebel der Staatsmaschine nach allen Richtungen hin sein soll, dass er jede
Gewalt uebernehmen muss und sie alle in dasselbe Fahrwasser der
sozialistischen Umwaelzung leiten muss. Davon sind auch noch diejenigen
Arbeitermassen, die schon in den Arbeiter- und Soldatenraeten organisiert
sind, meilenweit entfernt ... Aber das ist nicht ein Mangel, sondern das
ist gerade das Normale. Die Masse muss, indem sie Macht ausuebt, lernen,
Macht auszuueben. Es gibt kein anderes Mittel, es ihr beizubringen. Wir
sind naemlich zum Glueck ueber die Zeiten hinaus, wo es hiess, das
Proletariat sozialistisch schulen ... Die proletarischen Massen
sozialistisch schulen, das heisst: ihnen Vortraege halten und Flugblaetter
und Broschueren verbreiten. Nein, die sozialistische Proletarierschule
braucht das alles nicht. Sie werden geschult, indem sie zur Tat greifen."

Massenaktion war in Luxemburgs Denken strategische Voraussetzung fuer die
revolutionaere Veraenderung der Gesellschaft. Norman Geras formulierte
dazu in seinem Buch ueber Luxemburg: "Die Schaffung eines revolutionaeren
Bewusstseins in den breitesten Massen hat zur unabdingbaren Voraussetzung,
dass diese Massen an Kaempfen von ausserordentlicher Reichweite und
Kampfbereitschaft teilnehmen. Die Massen lernen in der Aktion."

Luxemburg selbst argumentierte zu einem frueheren Zeitpunkt, dass "jeder
wirklich grosse Klassenkampf auf der Unterstuetzung und Mitwirkung der
breitesten Massen beruhen muss. Eine Strategie des Klassenkampfes, die
nicht mit dieser Mitwirkung rechnete, die bloss auf die huebsch
ausgefuehrten Maersche des kasernierten kleinen Teils des Proletariats
zugeschnitten waere, ist im voraus zum klaeglichen Fiasko verurteilt ...
Bei den deutschen aufgeklaerten Arbeitern ist das von der Sozialdemokratie
gepflanzte Klassenbewusstsein ein theoretisches, latentes ... In der
Revolution, wo die Masse selbst auf dem politischen Schauplatz erscheint,
wird das Klassenbewusstsein ein praktisches, aktives. Dem russischen
Proletariat hat deshalb ein Jahr der Revolution jene 'Schulung' gegeben,
welche dem deutschen Proletariat 30 Jahre parlamentarischen und
gewerkschaftlichen Kampfes nicht kuenstlich geben koennen."

Das muss mensch sich auf der Zunge zergehen lassen; in Zeiten, wo die
Sozialdemokratie noch nicht den Weg der Konterrevolution beschritt,
spricht Luxemburg in Bezug auf die traditionellen sozialdemokratischen und
gewerkschaftlichen Mobilisierungen von "huebsch ausgefuehrten Maerschen
des kasernierten kleinen Teils des Proletariats".

Auch der erstgenannte Pol in dieser Frontstellung ist schwerlich mit
Luxemburgs Theorie und Praxis vereinbar. Richtig ist, dass sich Luxemburg
gegen einen Kadavergehorsam in der revolutionaeren Partei wandte. Richtig
ist, dass sie gegen die Parteibuerokratisierung Front machte. Sie sprach
sich wiederholt gegen eine "polizeiliche Auffassung der Revolution" aus,
wo die Massen auf Kommando von oben den Umsturz und den Austausch einer
Elite durch eine andere bewirkten.

Gleichzeitig betonte sie jedoch die Notwendigkeit der Organisierung, der
Organisation bzw. Partei, ja, der Fuehrung der Massen durch eine lebendige
Partei, die zwischen Massenaktion und politisch-strategischer Orientierung
gewissermassen die "Vermittlung" darstellen wuerde.

"Die Aeusserungen des Massenwillens im politischen Kampfe lassen sich
naemlich nicht kuenstlich auf die Dauer auf einer und derselben Hoehe
erhalten, in eine und dieselbe Form einkapseln. Sie muessen sich steigern,
sich zuspitzen, neue, wirksamere Formen annehmen. Die einmal entfachte
Massenaktion muss vorwaertskommen. Und gebricht es der leitenden Partei im
gegebenen Moment an Entschlossenheit, der Masse die noetige Parole zu
geben, dann bemaechtigt sich ihrer unvermeidlich eine gewisse
Enttaeuschung, der Elan verschwindet, und die Aktion bricht in sich
zusammen", schrieb Rosa Luxemburg.

Nach Beginn des Ersten Weltkriegs sah sie dieses dialektische Verhaeltnis
noch enger gefasst. 1918 erkannte sie die wesentliche Schwierigkeit im
Kampf fuer eine sozialistische Loesung "im Proletariat selbst, in seiner
Unreife, vielmehr in der Unreife seiner Fuehrer, der sozialistischen
Parteien."

Luxemburgs Positionen muessen im Zusammenhang mit ihrer -- von Friedrich
Engels uebernommenen -- Analyse gesehen werden, es gehe um "Sozialismus
oder Barbarei". Sie betonte unermuedlich und in Widerspruch zur
sozialdemokratischen Fuehrung, dass es kein Hinueberwachsen in einen
Sozialismus geben werde, dass es der bewussten, revolutionaeren
Massenaktion beduerfe, um die Barbarei zu vermeiden und den Sozialismus zu
ermoeglichen -- und dass die Hauptverantwortung der Sozialdemokratie darin
liege, hier treibendes Moment zu sein, in Massenaktionen mit der
revolutionaeren, emanzipativen Zielsetzung einzugreifen, die richtige
"Parole" zu geben.

Die Losung "Sozialismus oder Barbarei" ist heute mehr denn je gueltig,
wobei wir fuer jede Debatte ueber die Begrifflichkeit "sozialistisch"
offen sein sollten. Mehr noch als vor und im Ersten Weltkrieg weist die
Logik des Kapitals, der Konkurrenz und des Marktes in die Richtung
Barbarei. Wenn Mitte Februar 1997 vermeldet wird, die NATO gebe derzeit
rund dreimal mehr fuer Ruestung aus als alle ihre potentiellen Gegner
(Russland, Weissrussland, die Ukraine, China, Kuba...) zusammengenommen,
dann gilt, was 1980/82 galt: "Nach Ruestung kommt Krieg". Der Golfkrieg II
1990/91 war nur ein Vorspiel und die Bundeswehr vor Ort auf dem Balkan ist
nur die Generalprobe. Auch hier diese brisante Ruestungsspirale, die auch
im Zentrum der Luxemburgischen Warnungen und Theorien zur Jahrhundertwende
stand.

Was Luxemburg kaum wissen konnte, ist die Komplettierung der Gefahr einer
Barbarei durch die selbstmoerderische Entwicklung der kapitalistischen
Produktivkraefte und die Gefahren oekologischer Katastrophen.

In diesem Spektrum -- Massenelend im Sueden, neue Kriege in der Dritten
Welt, neue Sklaverei fuer Maquila-Frauen, Sextourismus, Muelltourismus,
Gentechnik, Atomtransporte usw. -- ist es mehr als gerechtfertigt,
Luxemburgs Worte, gesprochen inmitten des Ersten Weltkriegs, auch fuer
heute als zutreffend und prophetisch zu bezeichnen. "Geschaendet, entehrt,
im Blute watend, von Schmutz triefend -- so steht die buergerliche
Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur,
Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt -- als
reissende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch fuer Kultur
und Menschheit -- so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt",
schreibt Luxemburg in der Krise der Sozialdemokratie.

Natuerlich sind heute Massenaktionen geringer entwickelt als Anfang des
20.Jahrhunderts. Gleichzeitig werden solche weit weniger wahrgenommen und
analysiert.

Natuerlich waren es Massenaktionen, mit denen in der Bundesrepublik 1996
gegen die Kuerzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall demonstriert und
gestreikt wurde.

Natuerlich erlebten wir begeisternde Massenaktionen in Frankreich im
Dezember 1995 und im November 1996. Und wir erleben solche auch heute im
selben Land. Ausgangspunkt ist erneut kein revolutionaerer Anlass, sondern
der Angriff auf elementare Lebensbedingungen.

Interessant und wichtig ist dabei jedoch, dass diejenigen, die in diese
Massenkaempfe eintreten, sich -- wie Luxemburg fuer ihre Zeit analysierte
--, waehrend dieser Kaempfe radikalisierten, ihr Bewusstsein erweiterten.

Eine Debatte um "Parteidisziplin" oder nur um "revolutionaere
Organisierung" stellt sich heute kaum. Die PDS z.B. ist keine Partei im
Sinne Luxemburgs. Sie ist eher eine Vereinigung zur Pflege und teilweisen
Koordinierung unterschiedlicher, fortschrittlicher Gesinnungen.

Fuer die Gruenen gilt dies ohnehin, wobei hier rechte, reaktionaere
Gesinnungen hinzukommen und es nicht mehr lange waehren wird, bis die
Vision eines MdB Oswald Metzger von einer schwarz-gruenen Option umgesetzt
wird.

Vor diesem Hintergrund gewinnt auch das Verhaeltnis von parlamentarischen
Aktivitaeten und ausserparlamentarischer Aktion eine besondere Bedeutung.

Auch hier wird vielfach Luxemburg falsch vereinnahmt -- im Sinne einer
ultralinken Kritik des Parlamentarismus. Zwar warf Luxemburg dem
sozialdemokratischen Theoretiker des Reformismus, Eduard Bernstein, vor,
den "Huehnerstall des buergerlichen Parlaments fuer das berufene Organ zu
halten, wodurch die gewaltigste weltgeschichtliche Umwaelzung: die
Ueberfuehrung der Gesellschaft aus den kapitalistischen in sozialistische
Formen, vollzogen werden solle".

Gleichzeitig aber plaedierte sie vehement dafuer, in just diesem
"Huehnerstall" als Revolutionaere praesent und aktiv zu sein -- was die
zusammen mit ihr ermordeten Kampfgenossen Karl Liebknecht und Leo Jogiches
auch mit "revolutionaerer Professionalitaet" betrieben und gerade damit
die Reaktion zur Weissglut reizten.

Luxemburg untermauerte diese Dialektik des Spannungsverhaeltnisses
"parlamentarisches Engagegment" und "ausserparlamentarische Massenaktion"
so: "Bei dem ruhigen, 'normalen' Gang der buergerlichen Gesellschaft ...
wird der politsche Kampf nicht durch die Masse selbst in einer politischen
Aktion gefuehrt, sondern, den Formen des buergerlichen Staates
entsprechend, auf repraesentativem Weg É Sobald eine Periode
revolutionaerer Kaempfe eintritt, d.h. sobald die Masse auf dem Kampfplatz
erscheint, faellt die indirekte parlamentarische Form des politischen
Kampfes weg."

Winfried Wolf