Nr.2/1998
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Flucht ist kein Verbrechen
Kanther kriminalisiert kurdische Fluechtlinge

Als um den Jahreswechsel mehr als 1500 vorwiegend kurdische Fluechtlinge
die Kuesten Italiens erreichten, verkuendete Praesident Oscar Scalfaro,
"wenn verfolgte Personen kommen, muessen die Tore weit aufgerissen
werden". Italienische Aussenpolitiker fordern seither eine internationale
Konferenz zur Loesung der Kurdistanfrage, und einzelne Buergermeister
schaffen bereits erste Fakten praktischer Hilfe.


So haben in einem kalabrischen Kleinstaedtchen an die hundert Fluechtlinge
begonnen, leerstehende Haeuser zu beziehen. Von den EinwohnerInnen
freundlich empfangen, gibt ihnen die Stadt Arbeit und die italienische
Tagespresse verkuendet stolz: "Hier entsteht das italienische Kurdistan."

Fast zwangslaeufig muss diese Aufnahmebereitschaft und die damit
einhergehende offene Kritik an den Verbrechen des tuerkischen Militaers
der unheiligen Allianz von Ankara und Bonn den Schaum vor den Mund
treiben.

Die Tuerkei warnt, den Fluechtlingen Asyl zu gewaehren. Ursache der Flucht
sei nicht Unterdrueckung, sondern der Wunsch nach besseren
Lebensverhaeltnissen. "Die Anerkennung als politische Fluechtlinge hat sie
ermutigt, auf illegalem Weg nach Europa zu reisen", erklaert
Aussenminister Cem. Im Gleichklang mit der Tuerkei luegt auch das deutsche
Innenministerium die kurdische Massenflucht zu einem "Phaenomen illegaler
Zuwanderung" um.

Mit Hilfe eines rhetorischen Bedrohungsszenarios, infolge dessen die
Bundesrepublik es nicht zulassen werde, "dass die naechste illegal-
verbrecherisch organisierte Wanderungsbewegung sich erneut in Deutschland"
niederlasse, diffamiert Innenminister Kanther die Beantragung von Asyl
durch kurdische Fluechtlinge als "betruegerisches Konzept von
Schlepperbanden". In der EU duerfe es keine "Transit-Gesinnung" mehr
geben; Italien muesse mit Konsequenzen rechnen, falls es kurdische
Fluechtlinge nicht mit allen Mitteln an der Weiterreise nach Deutschland
hindere, droht der Innenminister.

Unterdessen appelliert der griechische Aussenminister Pangalos an die
Regierungen der Europaeischen Union, der tuerkischen Kurdenpolitik
entschlossen entgegenzutreten, und ruft seine Amtskollegen dazu auf, "zum
Voelkermord an den Kurden und der brutalen Verletzung ihrer Menschenrechte
Stellung zu beziehen".

Als es darum ging, die Tuerkei nicht unter die Anwaerterstaaten fuer die
EU-Mitgliedschaft aufzunehmen, waren sich die europaeischen Regierungen in
dieser Frage noch weitgehend einig. Doch die Verlogenheit der
Menschenrechtsrhetorik erweist sich spaetestens in den Reaktionen aus
Bonn. Sobald die Opfer des Krieges europaeischen Boden erreichen, sind aus
dem Innenministerium nur noch rassistische Kampfparolen zu hoeren.
Fluechtlinge werden in der Kantherschen Logik zu organisierten
Verbrecherbanden.

Das wahre organisierte Verbrechen jedoch sitzt in den Regierungen in
Ankara und Bonn. Die Fortfuehrung des Krieges der Tuerkei in Kurdistan
wird durch die militaerische und oekonomische Unterstuetzung der
Bundesregierung erst moeglich.

"Die Verfolgung ethnischer Gruppen, die Zerstoerung der
Existenzbedingungen ganzer Bevoelkerungsgruppen wie der Kurden in der
Tuerkei fuehren zu Flucht und Migration. Dagegen helfen die weitere
Schliessung, die Technisierung und Militarisierung der Grenzen nicht -- so
perfekt sie die Staaten des Schengener Abkommens unter Federfuehrung der
deutschen Bundesregierung auch erdacht haben moegen. Im Gegenteil, die
Politik der Abschottung schafft erst die Maerkte fuer
Menschenhaendlerbanden, die dann als vermeintliche Verursacher von
Fluchtbewegungen mit Millionenaufwand bekaempft werden", erklaert die PDS-
Abgeordnete Ulla Jelpke.

Auf das Zusammenspiel zwischen der tuerkischen Regierung und diesen Banden
weist der Vizepraesident der Anti-Mafia-Kommission des italienischen
Parlaments. Die tuerkische Regierung unterdruecke die kurdische
Bevoelkerung, dulde das Fluchtgeschaeft der Mafia und decke gleichzeitig
den Drogenhandel. Diese Verbindungen sind im Detail bekannt. Die kurdische
Befreiungsfront ERNK hat dem italienischen Innenministerium eine Liste mit
rund 300 Personen uebergeben, die in den Menschenhandel verwickelt sein
sollen.

Regelmaessig versuchen die Schlepperbanden -- nach dem Abkassieren -- die
Fluechtlingsschiffe in der Adria zu versenken. Im vergangenen Jahr kamen
dabei mindestens 313 Fluechtlinge ums Leben. Rund 800 konnten vor dem
Ertrinken gerettet werden. "Die unmenschlichen Bedingungen, unter denen
Menschen hierher geschmuggelt werden, ergeben sich aus der Hoehe der
Festungsmauern", erlaeutert das Buero Jelpke die Rolle der Schlepperbanden
vor dem Hintergrund des Schengener Abkommens.

Doch statt die laengst ueberfaellige internationale Kurdistan-Konferenz
einzuberufen, bekaempft die EU unter deutscher Fuehrung in bewaehrter
Polizeistaatsmanier die Fluechtlinge selbst. Zu einer Konferenz der EU-
Polizeichefs wurde deren tuerkischer Kollege Bilican "eingeladen, nicht
vorgeladen", wie die Sueddeutsche Zeitung treffend kommentierte. Denn
Bilican, der bis vor kurzem Gouverneur im Kriegsgebiet war, ist nach
Angaben des tuerkischen Menschenrechtsvereins verantwortlich fuer
Folterungen an 200 politischen Haeftlingen, fuer 90 Ermordete und rund 50
Verschwundene. So verhandeln die EU-Vertreter mit den Verfolgern darueber,
wie man verhindern kann, dass die Verfolgten fliehen. Kooperativ bietet
Bilican an, diejenigen, die entkommen konnten, wieder zurueckzunehmen.

Die Tuerkei hat nun begonnen, Fluechtlinge mit Gewalt an der Ausreise zu
hindern. Razzien in tuerkischen Haefen haben zu Tausenden von Verhaftungen
gefuehrt. Ankara kann sich dabei auf Forderungen aus Bonn berufen. Denn
Innenminister Kanther ist dabei, die ohnehin kaum merklichen Unterschiede
zum Demokratieverstaendnis seines tuerkischen Amtskollegen Basesioglu
vollends einzuebnen.

Eine Beendigung des Krieges in Kurdistan erfordert nicht allein die
Absetzung der tuerkischen Machteliten, sie ist auch nicht ohne Abloesung
der deutschen Regierung zu haben.

Knut Rauchfuss