Nr.1/1998
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Soziale Frage unterbewertet
Vorlaeufiges Resumee der palaestinensischen Linken

Peter Nowak sprach mit NASSAR IBRAHIM, dem Chefredakteur von "Al
Hadaf", der Zeitschrift der Volksfront zur Befreiung Palaestinas
(PFLP). Nassar Ibrahim lebt zur Zeit in Damaskus.


Frage: Ihre Organisation hat in den 70er und 80er Jahren eine grosse
Rolle im palaestinensischen Widerstand gespielt. Warum hoert man zur
Zeit so wenig von ihr?


Nasser Ibrahim: Die palaestinensische Linke ist zur Zeit in einer sehr
schwierigen Situation. Einerseits sind wir auch von der weltweiten
Krise der Linken nach 1989 stark betroffen. Der Zerfall der
Sowjetunion hat sich sogar besonders negativ auf uns ausgewirkt, weil
wir lange Zeit fremde Revolutionsmodelle umstandslos auf die
palaestinensische Situation uebertragen wollten. Jetzt bezahlen wir
den Preis fuer die unkritische Herangehensweise. Hinzu kommen noch
innenpolitische Gruende fuer unsere Krise. Im Mittelpunkt stand fuer
uns immer der Kampf des palaestinensischen Volkes gegen die
israelische Besatzungspolitik und fuer die nationale Befreiung. Wir
haben das palaestinensische Volk als Einheit behandelt und dabei die
Widersprueche innerhalb der palaestinensischen Gesellschaft viel zu
wenig beachtet. Die soziale Frage hat kaum eine Rolle gespielt. Seit
einigen Jahren bemuehen wir uns, die Fehler zu berichtigen und einen
eigenen revolutionaeren Weg zu gehen. Wir bemuehen uns mit der
Demokratischen Front zur Befreiung Palaestinas (DFLP), die ebenso von
der Krise betroffen ist, ein langfristiges Buendnis zu schliessen, um
damit das Gewicht der palaestinensischen Linken zu staerken.

Hat nicht der Abschluss der Osloer Vertraege und die Bildung der
Autonomiebehoerde unter Arafat ihre Organisation unvorbereitet
getroffen und die Krise noch verschaerft?

Ich wuerde die Bedeutung der Osloer Vertraege fuer die Krise der
Linken gering einschaetzen. Natuerlich mussten wir uns auf die neue
Situation erst einstellen. Die Krise spitzte sich jedoch eher an
unserer Haltung zur neu entstandenen Autonomiebehoerde zu. Innerhalb
der palaestinensischen Linken gibt es dazu zwei Stroemungen. Die eine
Fraktion nimmt an den Gremien der Autonomiebehoerde teil, mit dem
Ziel, sie von innen zu veraendern. Das ist die Position der
Kommunistischen Partei Palaestinas, die auch schon mit Delegierten am
Verhandlungsprozess beteiligt war. Die andere Fraktion lehnt die
Mitarbeit in der Autonomiebehoerde strikt ab. Dazu zaehlen die PFLP
und die DFLP. Wir haben auch schon vorher jede Teilnahme am
Friedensprozess abgelehnt, weil uns klar war, dass das weltweite
Kraefteverhaeltnis derzeit nicht zu unseren Gunsten steht.
Friedensgespraeche zu diesem Zeitpunkt koennen nur ein fuer uns
negatives Ergebnis haben.

Ist der Standpunkt Ihrer Organisation wirklich so einheitlich?

Wir haben tatsaechlich unterschiedliche Standpunkte in der PFLP. Das
finden wir aber positiv. Parteien, die unterschiedliche Standpunkte
nicht zulassen, stagnieren. Wichtig ist, dass wir mit
unterschiedlichen Standpunkten handlungsfaehig bleiben koennen. Wir
haben eine Neubestimmung des demokratischen Zentralismus vorgenommen.
Wir haben eine Balance gefunden, dass die Demokratie nicht im Chaos
und der Zentralismus nicht in Herrschaft endet.

Wie sieht diese Balance konkret bei der Frage des Umgangs mit der
Autonomieboerde aus? Schliesslich arbeiten ja durchaus PFLP-Mitglieder
in der Autonomiebehoerde mit
.

Es gibt in unserer Organisation kein Verbot, in dieser Behoerde
mitzuarbeiten. PFLP-Mitglieder arbeiten in den Zivil-, Gesundheits-,
und Kulturvereinen mit. Dort haben wir schon vor den Osloer
Vertraegen gearbeitet. Die Komitees wurden danach der
Autonomiebehoerde eingegliedert. Unsere Mitglieder sind weiter dort
geblieben. Fuer PFLP- Mitglieder ist es aber ausgeschlossen, in den
politischen Behoerden, den Repressionsorganen und der
Verhandlungskommission der Autonomiebehoerde zu arbeiten.

In den letzten Monaten hat die Arafat-Behoerde sehr stark den
nationalen Dialog aller palaestinensischen Gruppen als Faustpfand
gegen die israelische Regierung propagiert. Steht die PFLP unter
Druck, sich daran zu beteiligen?

Wir haben immer betont, dass wir den Dialog zwischen verschiedenen
palaestinensischen Kraeften unterstuetzen. Aber es geht uns nicht um
den Dialog um des Dialogs willen und wir weigern uns auch, damit die
Politik der Autonomiebehoerde zu decken. Bisher gab es unter dem
Namen "Nationaler Dialog" nur Scheinkonferenzen, weil die
Autonomiebehoerde nicht zu einer Aenderung ihrer Politik bereit war.
Da derzeit die Differenzen unter den palaestinensischen
Organisationen ueber die Osloer Vertraege und die Folgen so gross
sind, gibt es fuer uns keine Basis fuer einen Dialog.

Gibt es auch einen Dialog mit linken Israelis?

Die israelische Linke ist sehr schwach. Mit den wenigen Kraeften, die
dazu bereit sind, haben wir Kontakte auf allen Ebenen und wir
organisieren auch gemeinsame Protest- und
Informationsveranstaltungen. Wir hoffen, dass die linken Kraefte in
Israel an Bedeutung gewinnen. Die PFLP hat keine Probleme mit den
juedischen Staatsbuergern. Wir wollen mit ihnen gleichberechtigt
zusammenleben.

Sieht die linke PFLP im Anwachsen von islamischen Organisationen wie
der Hamas nicht eine grosse Gefahr?


In vielen Teilen der Welt haben die religioesen Kraefte durch den
Rueckgang der Linken an Bedeutung gewonnen. Allerdings haben die
Islamisten bei uns schon eine jahrzehntelange Tradition und sind
keinesfalls mit islamischen Gruppen im Iran oder Algerien zu
vergleichen. Die palaestinensische Bevoelkerung befindet sich im
Moment in der Phase der nationalen Befreiung und fuer uns als Linke
ist der Hauptwiderspruch die israelische Besatzung. In diesem Punkt
sind wir mit den islamischen Organisationen einig, solange sie
ebenfalls gegen die Besatzung kaempfen. In fast allen anderen
Bereichen haben wir grosse Widersprueche mit den Islamisten, was zum
Beispiel die soziale Frage, die Stellung der Frau in der Gesellschaft
und vieles andere angeht.

Sie haben es als einen Fehler der palaestinensischen Linken
bezeichnet, in der Vergangenheit beim Kampf gegen die israelische
Besatzung die soziale Frage vergessen zu haben, sehen aber weiterhin
die israelische Besatzung als Hauptfrage fuer Ihre Organisation an.
Wo hat sich da die Politik veraendert?


Der Hauptwiderspruch zur israelischen Besatzung hat sich in der Zeit
der Intifada herausgebildet und besteht weiterhin. Daran hat sich
durch die Osloer Vertraege nichts veraendert. Im Gegenteil: Die
Situation der palaestinensischen Bevoelkerung hat sich noch
verschlechtert. Daher hat der Kampf gegen die israelische Besatzung
fuer uns noch immer einen grossen Stellenwert. Aber ebenso grosses
Augenmerk richten wir jetzt auf den Kampf innerhalb der
palaestinensischen Gesellschaft. Wir arbeiten gegen die Politik der in
der Autonomiebehoerde versammelten palaestinensischen Bourgeoisie.
Wir versuchen die soziale Arbeit in den Frauen-, Kinder-, Jugend und
Stadtteilkomitees zu aktivieren. Ein weiterer Schwerpunkt ist der
Kampf um die Freilassung der ca. 3500 von den Israelis festgehaltenen
palaestinensischen Gefangenen und um die Rueckkehr der
palaestinensischen Fluechtlinge im Exil.

Hat sich seit Abschluss der Osloer Vertraege und dem Machtantritt
Arafats in bezug auf die Menschenrechte etwas veraendert?


Leider hat sich nicht viel veraendert. Die Besatzung dauert trotz des
Abkommens an. Das Land und die Bevoelkerung werden von den Israelis
kontrolliert bis auf einige Staedte, die aber oft belagert werden. So
gehen die Menschenrechtsverletzungen weiter. Einige Beispiele: Die
umfassenden Blockaden der Israelis hindern die palaestinensische
Bevoelkerung daran, zur Arbeit zu gehen. Das bedeutet fuer die
Menschen eine grosse finanzielle und psychische Belastung. Dazu
kommen die willkuerlichen Verhaftungen an den israelischen
Kontrollpunkten zu den palaestinensischen Gebieten, die meistens ohne
Begruendung erfolgen. Haeuser palaestinensischer Familien werden mit
dem Argument abgerissen, dass sie keine Baugenehmigung gehabt
haetten. Gleichzeitig errichten die Israelis staendig neue Siedlungen
auf palaestinensischem Gebiet. Ausserdem ist noch immer die Folterung
von palaestinensischen politischen Gefangenen durch die israelische
Rechtsprechung gedeckt.

Wie steht es generell um die politischen Gefangenen in Palaestina?

Die Zahl der palaestinensischen und arabischen politischen Gefangenen
in Israel betraegt ungefaehr 3500. Darunter sind 234 Gefangene in
Administrativhaft. Sie werden zunaechst, ohne dass Anklage erhoben
werden muss, bis zu sechs Monaten inhaftiert. Diese Frist kann
beliebig verlaengert werden, so dass manche schon seit mehr als sechs
Jahren ohne Anklage und ohne Verurteilung im Gefaengnis sind. 150 der
Gefangenen sind juenger als 18 Jahre. Die Gefangenen sind auf zwoelf
Gefaengnisse verteilt, von denen einige nur aus Zeltlagern in den
Wuestengebieten bestehen. Die Lebensumstaende der Gefangenen sind vor
allem unter gesundheitlichen Gesichtspunkten sehr hart, so dass mehr
als 500 Gefangene sowohl akut wie chronisch erkrankt sind. Besuche
werden nur in grossen Zeitabstaenden zugelassen. Zur Zeit haben wir
eine Kampagne fuer Mohammad Raja Nerat alias Abou Rafaa initiiert. Er
ist 1929 geboren und sitzt seit ueber 25 Jahren im Gefaengnis. Obwohl
er schwer erkrankt ist, gibt es keine Hoffnung auf Freilassung, denn
lebenslaenglich heisst fuer PalaestinenserInnen bis zum Tod. Er
schrieb vor einiger Zeit einen sehr persoenlichen Brief an mehrere
palaestinensische und internationale Organisationen. Er wisse, dass er
nicht mehr lange zu leben hat, aber er bitte die Oeffentlichkeit, ihn
nicht zu vergessen, heisst es in dem Brief. An seinem Fall wollen wir
exemplarisch die Situation der Gefangenen in Palaestina aufzeigen.