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Nr.17 onlineversion

Unsere Toleranz hat Grenzen - 1. Mai 1996

Auf den ersten Blick scheint es, als ob der diesjährige 1. Mai in Berlin genauso verlief wie die Jahre zuvor. Die DGB-Demonstration am Vormittag mündete in ein Familienfest, die sogenannten Revolutionären Demonstrationen am Nachmittag endeten mit einer Str aßenschlacht und auf dem Fest im Prenzlauer Berg fanden Diskussionsrunden zu verschiedenen politischen Themen statt. Auch die Faschisten hatten wie so oft seit 1990 einen Aufmarsch unter dem Motto "Deutsche Arbeitsplätze für Deutsche Arbeiter" angemeldet. Trotzdem gab es Unterschiede zu den vergangenen Jahren.

Die DGB-Kundgebung

Die zentrale Kundgebung des DGB fand in Berlin statt, einziger Redner war der 1. Vorsitzende Dieter Schulte. Im Anschluß daran sollte es eine Diskussionsrunde zur geplanten Fusion Berlin/Brandenburg geben. Daran sollten neben GewerkschaftsvertreterInnen au ch der Regierende Bürgermeister Diepgen teilnehmen.

Um die Teilnahme von Dieter Schulte und Diepgen gab es Konflikte und formierte sich der Widerstand. Warum sollte Dieter Schulte als einer, der nach wie vor vom Bündnis für Arbeit träumt, reden? Einer, der nicht nur überdurchschnittliche Kompromißbereitschaft bei den Kanzler-Runden gezeigt hat, sondern auch den Kniefall vor Regierenden und Unternehmern nicht scheut.

Und mit Eberhard Diepgen, dem Repräsentanten einer Sparpolitik des Senats, die für die Umverteilung von unten nach oben steht sollten wir diskutieren? Seit Monaten beteiligen sich GewerkschafterInnen an dem breiten Protest gegen diese Sparpolitik und am 1. Mai wird er zu unserer Veranstaltung geladen. Warum sollte der DGB überhaupt eine Wahlveranstaltung für die Fusion durchführen, schließlich waren die Positionen der Einzelgewerkschaften zu dieser Frage durchaus unterschiedlich, jedoch in ihrer Mehrheit für die Fusion.

Die UnterzeichnerInnen der Berliner Erklärung (siehe RAG 16) hatten sich gegen die Umverteilungspolitik der Regierenden und gegen ein Bündnis für Arbeit ausgesprochen - sie wollten ein Bündnis von unten.

Auf Initiative von HBV und IG Medien, die beide gemeinsam mit 120 Gruppen und Initiativen Teil des Bündnisses gegen Sozialabbau und Ausgrenzung sind, wurde dieses Bündnis von unten auch für den 1. Mai angestrebt.

Geplant wurde ein Protestblock innerhalb der DGB-Demonstration, in dem unsere politischen Positionen deutlich gemacht werden sollten. Daran beteiligten sich mehrere Tausend Leute. Neben GewerkschafterInnen nahmen StudentInnen, SchülerInnen, Erwerbslosengru ppen, Antirassistische Initiativen und viele andere Gruppen teil. Auch PDS und Grüne hatten zur Beteiligung aufgerufen.

Der Protest gegen den Teil der Gewerkschaftsspitze, der gemeinsam Politik mit Unternehmern und Regierung machen will, war nicht nur auf dem Transparent sichtbar. Als Dieter Schulte mit seiner Rede begann, war er auch unüberhörbar. Ein lautes Konzert von Tr illerpfeifen und die Parole "Bündnis von unten - statt Bündnis für Arbeit" flog ihm entgegen. Mit dem Protestblock gelang es, den inner- und außergewerkschaftlichen Protest gegen die offizielle DGB-Politik deutlich zu machen. Das Zeichen, daß diese Politik nicht mitgetragen wird, konnte auch die Presse nicht ignorieren. Auch Diepgen verspürte keine Lust mehr an der Diskussionsrunde und sagte sie wegen zurecht befürchteten Störungen ab.

Der Protestblock, der von vielen unterschiedlichen Gruppen getragen wurde, war ein guter Anfang für ein Bündnis von unten - weitere gemeinsame Aktionen sind schon geplant.

Natürlich hätten wir noch mehr sein können. So fehlten beispielsweise die meisten TeilnehmerInnen der sog. Revolutionären-1.-Mai-Demonstrationen, an denen sich insgesamt 10.000 Menschen beteiligten. Leider war es nicht gelungen, einen größeren Teil dieses Spektrums für den Protestblock zu mobilisieren.

Einzelne MitorganisatorInnen dieser Demonstration in Prenzlauer Berg bewerteten den Protestblock zwar positiv, wollten dazu auch keine Konkurrenz-Veranstaltung, hielten aber dennoch an ihrer Demonstration fest.

Unserer Ansicht nach müssen sich die OrganisatorInnen fragen lassen, was überhaupt revolutionär an der Demonstration war? Warum spielte dort das aktuelle politische Thema: "Umverteilung von unten nach oben" keine Rolle? Müßten RevolutionärInnen aus ihrem p olitischen Selbstverständnis heraus nicht Interesse an einer Intervention in politische Auseinandersetzungen haben? Oder ging es alledem allen nicht doch in erster Linie darum, die LiebhaberInnen der traditionellen 1.-Mai-Extremsportarten zu befriedigen?

Die Nazis marschierten...

Am Abend des 30. April erhielten wir die Nachricht, daß die ,Jungen Nationaldemokraten" (JN) einen Aufmarsch für den Nachmittag des 1. Mai angemeldet hatten.

Zunächst war der Aufmarsch von der Berliner Polizei verboten worden, das Verwaltungsgericht hob dieses Verbot jedoch auf. Was das Gericht dazu bewegte, diese Nazi-Veranstaltung zu genehmigen, ist uns leider nicht bekannt. Ursprünglich hatte die JN geplant in Nürnberg zu marschieren, das dortige Gericht bestätigte jedoch, das polizeiliche Demonstrationsverbot.

Zurecht, wie sich in Marzahn zeigte. Da marschierten Mitglieder und Kader verbotener neofaschistischer Organisationen - wie NF und FAP. Mit dabei waren u.a. Steffen Hupka (NF), Hans-Christian Wendt (ehemals FAP), Die Nationalen, Oliver Schweigert aus Berli n (FAP), Thomas Wulf - genannt ,Steiner" (GdNF, ehemals NL). Insgesamt marschierten etwa 300 Neonazis durch Berlin-Marzahn.

In den vergangen Jahren versuchte in Berlin die FAP am 1. Mai Aufmärsche zu organisieren. Seit Frühjahr vergangenen Jahres ist die FAP verboten, damit übernimmt die JN - als eine der wenigen noch legalen Nazi- Organisationen - den Part des Demo-Anmelders.

Spontan fuhren am 1. Mai etwa 50 AntifaschistInnen und GewerkschafterInnen von der DGB-Kundgebung vor dem Roten Rathaus nach Marzahn. Dort fand in Sichtweite der Nazis eine von der DGB-Jugend angemeldete Gegenkundgebung statt. Begleitet von einem großen Po lizeiaufgebot folgte dann noch eine kurze Gegen-Demo durch Marzahn. Mit so wenig Leuten war leider nichts anderes möglich, als den Unmut über den Nazi-Aufmarsch kundzutun.

Enttäuschend war, daß sich so wenige AntifaschistInnen auf den Weg nach Marzahn gemacht hatten, obwohl angeblich bei den bislang genannten Veranstaltungen am 1. Mai dafür mobilisiert wurde. Als eine Erklärung dafür, könnte die kurzfristige Mobilisierungsze it genannt werden.

Allerdings war es in den vergangenen Jahren mehrfach möglich, ebenso kurzfristig einige Hundert auf die Beine zu bringen, um die geplanten Nazi- Aufmärsche zu verhindern. Dieses Jahr hat sich keine der in der Vergangenheit aktiven Gruppen rechtzeitig darum gekümmert, was die Nazis am 1. Mai planen. _ Diese Kritik müssen wir auch an uns selbst richten.

Trotzdem bleibt festzuhalten, daß nur wenige bereit waren, sich dem diesjährigen Nazi-Aufmarsch entgegenzustellen. Lediglich ca. 50 Personen verließen die sog. Revolutionäre Demo in Prenzlauer Berg, um nach Marzahn zu fahren. Leider kamen sie nicht an, da sie von der Polizei schon vorher aus der U-Bahn geholt wurden.

Und die anderen? Sie fanden es wichtiger, die sog. Revolutionäre-1.-Mai- Demo zum Ende zu bringen. Wir halten es übrigens für überhaupt nicht revolutionär, Transparente mit der Aufschrift "Kein Fußbreit den Faschisten" durch die Stadt zu tragen, während di e Nazis nur wenige Kilometer weiter unbehelligt marschieren.

Der Marzahner PDS-Bürgermeister Buttler wußte übrigens sehr frühzeitig von dem Nazi-Aufmarsch. Diese Information behielt er jedoch für sich. Seine Haltung ließ nicht nur inner-, sondern auch außerhalb der PDS die Wogen hochschlagen. Es gab eine Menge von Protestbriefen und Erklärungen. Innerhalb der PDS glätteten sich die Wogen schon bald. Man/Frau gab sich mit einer Erklärung von Buttler zufrieden, der viel an Deutlichkeit fehlte. Seine Rehabilitierung war für den 4.6. geplant. Gemeinsam mit VertreterInnen von anderen in Marzahn vertretenen Parteien wurde eine antifaschistische Kundgebung durchgeführt. Auch dabei gab es wieder keine eindeutige Erklärung und Entschuldigung von Buttle r. Außerdem nahmen nur wenige Menschen daran teil. Leider hatte Buttler offensichtlich recht mit der Aussage: "Über das Ganze redet hier und heute doch kein Mensch mehr".

Wieso konnten am 1. Mai Nazis in Marzahn marschieren?

Auszüge aus einem Interview der „Jungen Welt" (vom 4. Mai) mit dem Bezirksbürgermeister Harald Buttler (PDS):

JW: Sie hatten als Bezirksbürgermeister also gar keine Ahnung, daß eine solche Veranstaltung stattfinden würde?

H. BUTTLER: Ich bin durch die Polizei informiert worden, daß die Demonstration stattfinden wird, nachdem das Gericht entschieden hatte, dem Ablehnungsersuchen der Polizei nicht stattzugeben. Über das Ganze redet hier und heute doch kein Mensch mehr. Ich mö chte der Sache - es sollen 170 Leute dort gewesen sein - nicht mehr Bedeutung beimessen, als sie verdient. Wie Sie gehört haben, ist es hier zu keiner Randale gekommen.

JW: Weil niemand wußte, daß in Marzahn Rechte aufmarschieren. Warum haben Sie die Öffentlichkeit nicht informiert?

H. BUTTLER: Ich habe ein gestörtes Verhältnis zu Chaoten, ob sie links oder rechts sind, interessiert mich weniger. Als ich vom Alex kam, habe ich die von der Polizei besetzten Marzahner Bahnhöfe gesehen und zu meinen Freunden von der PDS gesagt, daß ich n icht dafür bin, Randalebegehrende politisch zu decken und zu schützen. Die haben in den linken Reihen nichts zu suchen. Wir treten mit demokratischen Mitteln an, uns in dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen.

JW: Ist es nicht peinlich, daß so etwas gerade in Marzahn stattfindet, und daß Sie dagegen nichts unternehmen?

H. BUTTLER: Was heißt hier peinlich? Ein rechter Aufmarsch ist keine angenehme Sache, ob in Berlin oder Paris. Ich sage Ihnen, die Leute, die was machen wollen, die setzen auf Schlägerei. (...)

JW: Im Prenzlauer Berg wurde nachmittags bekannt, was in Marzahn passierte, jedoch hielt es kaum einer der Mai-Revolutionäre für nötig, gen Marzahn zu fahren, wo die Faschisten in aller Ruhe demonstrieren durften...

H. BUTTLER: Ach wissen Sie, Faschisten! In Marzahn gibt es keine faschistische Szene und keine rechtsextreme Gefahr mehr. Viele von denen sind inzwischen erwachsen und anständige Familienväter geworden. Ich denke, für jede politische Entartung gibt es im R egelfall eine soziale Wurzel. Natürlich kann ich die Forderung nicht teilen, Arbeitsplätze nur für die Deutschen zu schaffen. Aber Fakt ist auch, daß den deutschen Jugendlichen kein Arbeitsplatz hierzulande angeboten wird. (...)

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