November 1995

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Nr.15 onlineversion

"Gewerkschaften und Einwanderung"

Angesichts der derzeit in allen Gewerkschaften geführten "Standort Deutschland"-Diskussionen und der damit verbundenen Tendenz die Interessen der deutschen, männlichen und qualifizierten Beschäftigten in den Mittelpunkt gewerkschaftlichen Handelns zu stellen, drohen Einwanderungs-, Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik vollends an den Rand gewerkschaftlicher Arbeit zu geraten. Gleichzeitig haben sich einwanderungspolitische Konzepte, die in den 80er Jahren mit Beteiligung der Gewerkschaften entwickelt wurden, als nicht durchsetzungsfähig erwiesen. So beendete das neue Ausländergesetz von 1990 und die Zurückweisung des kommunalen Ausländerwahlrechts vorerst eine Reihe von reformpolitischen Anstrengungen.

Mit ihrem Buch "Gewerkschaften und Einwanderung" wollen die Herausgeber P. Kühne, N. Öztürk und K.-W. West eine kritische Zwischenbilanz gewerkschaftlicher Einwanderungspolitik ziehen. In vier Blöcken beschäftigen sich 19 AutorInnen mit dem Thema.

Der erste Teil "Migration - Staatliche, gesellschaftliche, gewerkschaftliche Reaktionen und Gestaltungsvorschläge" beschreibt den gesellschaftlichen und politischen Rahmen, in dem über Einwanderung diskutiert wird. Er zieht eine Bilanz gewerkschaftlicher Gestaltungsvorschläge. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag zu Gewerkschaften und der politischen Strategie der Nation. Der Autor, A. Treichler, zeigt daß die derzeit so hoch im Kurs stehenden nationalistischen Vorstellungen immer auch andere, nämlich alle "Nichtdeutschen" ausgrenzen. Er verweist darauf, daß das Verhältnis von Gewerkschaften zu Nation bis heute unklar ist, daß ausgrenzender Nationalismus auch in den Gewerkschaften immer wieder eine Rolle gespielt hat. Dementgegen stellt er die Vorstellung der für alle unteilbar geltenden Menschenrechte und damit die Gewerkschaften als Vertreterinnen von Demokratie und Menschenrechten.

Ein weiterer Beitrag beschreibt die Funktionen von Rassismus und die Möglichkeiten zu seiner Überwindung vor dem Hintergrund gewerkschaftlichen Handelns.

Im zweiten Teil "Zur Lage auf dem Arbeitsmarkt" geht es um die Situation von AusländerInnen auf dem Arbeitsmarkt. Unter anderem werden Benachteiligung bei der Einstellung, die Situation ausländischer Frauen und die Ausbildungschancen ausländischer Jugendlicher behandelt.

Der dritte Teil "Zur aktuellen Lage in den Betrieben" ist im Verhältnis zur Bedeutung des Themas etwas kurz geraten. Gewerkschaftliches Handeln ist für viele vor allem im Betrieb erfahrbar und im betrieblichen Handeln erweist sich oft, welchen Stellenwert gewerkschaftliche Beschlüsse genommen haben. Der erste Beitrag "Industrielle Arbeit und Menschenrechte" plädiert für eine betriebliche Politik, die sich nicht nur als klassische Interessensvertretung der deutschen männlichen Kernbelegschaft versteht. Gegen Diskriminierung und für Gleichstellung auch auf betrieblicher Ebene einzutreten, sollte ergänzender Bestandteil der Interessenvertretung sein. Der zweite Beitrag zeigt die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten auf Grundlage der entsprechenden Gesetze auf. Spannend sind die beiden folgenden Beiträge, die sich beispielhaft mit der konkreten betrieblichen Situation befassen. Zuerst geht es um die Auswirkungen neuer Produktions- und Managementkonzepte, Stichwort "Lean Produktion", auf ausländische Beschäftigte bei der Opel AG. Der folgende Beitrag beschreibt das betriebliche Konfliktpotential zwischen Deutschen und Ausländern. Er berichtet über eine langjährige Untersuchung und Weiterbildung in der Abfallwirtschaft Frankfurt/Main und stellt dabei die Frage, inwieweit gewerkschaftliche Politik Einfluß auf die strukturellen Ursachen rechtsextremistischer Orientierung nehmen kann.

Im letzten Teil "Einwanderer als Mitglieder und Funktionäre der Gewerkschaften" steht die Stellung und das innerorganisatorische Gewicht ausländischer Mitglieder im Vordergrund. Trotz einer überwiegend positiven Bilanz der letzten beiden Jahrzehnte sind gerade in den letzten Jahren einige Anzeichen von Stagnation und Resignation zu beobachten.

Insgesamt gibt das Buch einen guten Überblick über den Stand der gewerkschaftlichen Diskussion bezüglich Einwanderung. Es wird aber auch deutlich, daß die AutorInnen zum Teil sehr unterschiedliche Positionen vertreten. So schreibt z. B. Beate Winkler über den Stellenwert der Angst bei der Einstellung gegenüber Fremden: "Die Angst vor dem Fremden, die Verunsicherung die mit Fremdheit einhergeht, gehören zu jedem Menschen" (S. 26). Nihat Öztürk hingegen bemerkt zum selben Thema: "Ein Motiv,... ist ihre Angst, allerdings nicht die als "Xenophobie" bezeichnete und nirgendwo bewiesene "Angst vor Fremden". (S. 107). Soweit wie hier unterschiedliche Auffassungen oder Vorstellungen zur Debatte stehen, sind sie natürlich Bestandteil einer Bilanz. Wenn aber wichtige Sachverhalte gegensätzlich beschrieben werden, führt das zu Unklarheit. So zum Beispiel in der Frage des Anwerbestopps Anfang der 70er. Peter Kühne schreibt: "Der zweckökonomische Zugang auch der Gewerkschaften zur Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer/innen kam nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, daß vor allem sie es waren, die den Anwerbestopp der Regierung Brandt im November 1973 forderten und auch politisch durchsetzten."(S. 30). Leo Monz / Klaus-W. West stellen hingegen fest: "Er (der DGB) stimmte der Anwerbung in den 50er Jahren zu, er lehnte den Anwerbestopp als Instrument der Zuzugssperre für Menschen aus dem Ausland (Stichwort Familiennachzug) in den 70er Jahren ab ..." (S. 129). Das läßt sich bestenfalls noch so interpretieren, daß der DGB den Anwerbestopp zwar gewollt hat, aber den Familiennachzug befürwortete, was aber dann den "zweckökonomischen Zugang" in Frage stellt.

Auffallend ist, daß in vielen Beiträgen die Anwesenheit von AusländerInnen arbeitsmarktpolitisch begründet wird. So zum Beispiel von Monz/West: "Ausländische Arbeitnehmer rauben den Inländern keine Arbeitsplätze. Migrantinnen und Migranten erledigen die Arbeit, die Einheimische nicht tun wollen." (S. 130). Oder B. Winkler: "Durch die zugewanderte Bevölkerung ist das Bruttosozialprodukt um 90 Milliarden DM gewachsen." (S. 27). Die Anwesenheit von AusländerInnen in dieser Weise zu begründen, heißt ihnen einen Platz im untersten Bereich des gesellschaftlichen Gefüges zuzuschreiben. Was passiert denn, wenn AusländerInnen hier wirklich gleichgestellt werden? Sie sind dann eben unter Umständen genauso KonkurrentInnen um die knapper werdenden Arbeitsplätze wie alle anderen, die hier leben. Oder was passiert, wenn große Teile der zugewanderten Bevölkerung arbeitslos werden und nicht mehr zum Wachstum des Bruttosozialprodukts beitragen? Wer die Anwesenheit von AusländerInnen vor allem mit ihrer Nützlichkeit begründet, müßte dann dafür Eintreten, sie wegzuschicken!

Gewerkschaftliche Einwanderungspolitik ist aber nicht nur eine Frage von Menschenrechtspolitik. Wenn Gewerkschaften weiterhin einen umfassenden politischen Gestaltungsanspruch haben wollen, der tatsächlich im Sinn der Beschäftigten umgesetzt werden soll, dann dürfen sie sich nicht die "Konkurrenz- und Standortlogik" zu eigen machen. Wenn Eintreten für Gleichstellung und gegen Diskriminierung nicht mehr als Aufgabe der Gewerkschaften gesehen wird, werden sie zur berufsständischen Interessensvertretung Privilegierter mit entsprechend eingeschränktem politischen Handlungsfeld.

Gerade deshalb und vor dem Hintergrund der "Standort Deutschland - Diskussion" ist dieses Buch wichtig. Für alle, die im gewerkschaftlichen oder betrieblichen Bereich antifaschistische oder antirassistische Arbeit betreiben, sollte es sowas wie Pflichtlektüre sein. Für alle anderen ist es lohnend.

Peter Kühne, Nihat Öztürk, Klaus-W. West (Hrsg): Gewerkschaften und Einwanderung, Köln 1994, Bund Verlag, 39,90 DM

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