September 1995

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Nr.14 onlineversion

Acht Uhr früh in Deutschland

Ganz normale deutsch-polnische Beziehungen?

Am 24. Juni 1995 erhielt die polnische Polizeistelle in Slubice von EinwohnerInnen die Information, daß auf dem Gelände einer Großhandlung bei Frankfurt/Oder ca. 300 polnische Menschen von deutschen Bundesgrenzschutzbeamten festgehalten werden. - Was war geschehen?

Ein deutscher Verlag, der "Brandenburger Spitz Verlag GmbH" hatte in Slubice durch Aushänge und Anzeigen um VerteilerInnen für eine Reklameaktion geworben. Als polnische Kids und Jugendliche, aber auch ältere Personen, bei dem Treffpunkt, einer Großhandlung in Markendorf, morgens um 6 Uhr eintrafen, wurde ihnen durch deutsche Angestellte der Eindruck vermittelt, sie würden eine legale Arbeit übernehmen. Die geplante Reklameverteilaktion war den deutschen Behörden außerdem im Vorfeld bekannt, offensichtlich wurde der Verlag wochenlang vorher observiert.

Übergriffe

Als habe man auf diese Gelegenheit gewartet, wurde der deutsche Bundesgrenzschutz um 8 Uhr morgens aktiv. Deutsche Uniformierte mit Diensthunden ohne Maulkorb umstellten das Gelände, wobei sie auch polnische Kunden mit einsammelten. Die Leute wurden mit Hilfe der Hunde und physischer Gewalt in das Innere der Großhandlung in Markendorf gezwungen. Dort wurden sie in einer Lagerhalle "konzentriert", während das gesamte Ereignis durch einen deutschen Mann in Zivil mit einer Kamera gefilmt wurde. Die Gruppe der uniformierten Polizeikräfte wurde von einem Zivilbeamten angeführt, der sich durch besondere Aggressivität in Szene setzte. Er schlug mehrere Personen, darunter eine schwangere Frau, mit dem Gummiknüppel. Familien wurden von ihren Kindern getrennt, einzelne Personen mußten sich ausziehen und wurden von Polizeibeamten untersucht. Allen wurden verplombte Nummernbanderolen angeheftet, den Frauen die Toilettenbenutzung stundenlang untersagt. Der wiederholten Bitte der Festgenommenen nach einem Dolmetscher wurde erst nach fünf Stunden entsprochen. Trotz heftigen Widerstands einiger, wurde von den meisten Leuten die Unterschrift unter Handzettel mit der Aussage "Ich habe die Arbeit aufgenommen..." in deutscher Sprache abgepreßt - ein aktenverwertbares Schuldeingeständnis für die deutsche Bürokratie! Die anwesende Dolmetscherin hielt es nicht für nötig, die Polen und Polinnen über den Inhalt des Zettels und die Konsequenzen ihrer Unterschrift in polnisch zu informieren.

Die erste Gruppe von Jugendlichen wurde nach sieben Stunden um ca. 13 Uhr freigelassen. Die weiter festgehaltenen Erwachsenen wurden am späteren Abend nicht etwa zur Stadtbrücke Frankfurt/Slubice gebracht, sondern zu einem weiter entfernten Grenzübergang. Sie durften - als besonderer Service des BGS - nach den entsetzlichen Ereignissen dieses Tages einen Fußmarsch von sieben Kilometern zurücklegen, um ihr Zuhause zu erreichen. Allen am 24. Juni "konzentrierten" Personen wurde durch einen Stempel im Paß ein dreijähriges Einreiseverbot erteilt. Das mußte dann zwar später zurückgenommen werden, aber der Stempel ist erstmal im Paß drin.

"Das ist eine ganz normale Aktion gewesen"

Die Sprecherin der Frankfurter Staatsanwaltschaft zu dem Verhalten deutscher Beamter an der deutsch-polnischen Grenze im Jahre 1995: "Das ist eine ganz normale Aktion gewesen. Wer sich zu diesem Zeitpunkt an einem strafbaren (?) Ort aufhält, muß mit sowas rechnen". Aus Protest gegen die Razzia haben ca. 100 polnische Jugendliche am darauffolgenden Tag eine Stunde lang die ehemalige 'Brücke der Freundschaft' besetzt und den Grenzverkehr aufgehalten.

Proteste von polnischer Seite

Erst nach schriftlichen Protesten des Bürgermeisters von Slubice und der Betroffenen wurde auf deutscher Seite eine Untersuchung der rassistischen Vorfälle erwogen. Auch der polnische Außenminister verurteilte die BGS-Aktion scharf. Eine Entschuldigung gibt es bis heute nicht. Selbst die Gewerkschaften wollen keine "pauschalen Verurteilungen und bundesgermanische Schuldzuweisungen" vornehmen. Der BGS habe unangemessen gehandelt ... aber irgendwie müsse man doch das Problem illegaler Beschäftigung in den Griff kriegen. Auch die PDS Frankfurt/Oder äußerte Verständnis für die brutale Festnahme und Ausweisung. Das Neue Deutschland überholte wider besseren Wissens die FAZ rechts mit der Schlagzeile: "200 polnische Schwarzarbeiter ausgewiesen". Laut Aussage des Polnischen Sozialrates e.V. Berlin hat dieser "Grenzvorfall" die ohnehin sensiblen deutsch-polnischen Beziehungen erheblich verschlechtert.

Dazu drängen sich uns folgende Fragen auf:

- Warum haben wir den Eindruck, dies sei eine gut geplante und von langer Hand vorbereitete Aktion gewesen, bei der verschiedene deutsche Stellen in voller Übereinstimmung zusammengearbeitet haben?

- Warum empören sich nicht mal die sog. fortschrittlichen Organisationen auf deutscher Seite über

diese menschenverachtende Aktion zur angeblichen Sicherung deutscher Arbeitsplätze?

- Wiederholt sich hier nicht die Geschichte einer überwunden geglaubten Überheblichkeit von deutschen gegenüber polnischen Menschen?

- Wird "polnisch" wieder zum Schimpfwort?

Im 50. Jahr der Befreiung des KZ Auschwitz und der diesjährigen zahlreichen "Schuldbekenntnisse" deutscher Politiker ist diese BGS-Aktion nichts anderes als die Widerlegung des Traums vom demokratisierten und zivilisierten Deutschland, ist Warnung an alle:

Vorsicht! Deutsche

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