(18. November 1957)
Diese Version aus: Mao Tse-tung, Ausgewählte Werke Band V, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1978, S.583-586
|583| Ich möchte einige Worte über die Methode in der Frage der Einheit sagen. Ich denke, wir müssen allen
Genossen gegenüber, wer sie auch seien, die Haltung einnehmen, Einheit mit ihnen herstellen zu
wollen, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um feindliche Elemente oder um Saboteure. Die Methode,
die wir ihnen gegenüber anwenden, muß dialektisch, darf nicht metaphysisch sein. Was ist mit
dialektischer Methode gemeint? Sie bedeutet, an alles analytisch heranzugehen, einzuräumen, daß
jeder Mensch Fehler macht, und jemanden nicht völlig abzuschreiben, bloß weil er Fehler gemacht hat.
Lenin sagte einmal, daß es auf der Welt keinen Menschen gibt, der frei von Fehlern ist. jeder braucht
Hilfe. Ein Held braucht die Unterstützung von drei anderen Leuten, zu einem Zaun braucht es drei
Pfähle. Bei all ihrer Schönheit braucht die Lotosblume das Grün ihrer Blätter, um sich in ihrer ganzen
Pracht zu zeigen. Das sind chinesische Sprichwörter. Da ist noch ein anderes: Drei einfachen
Schustern im Verein gelingt, was der eine Dschugo Liang allein vollbringt. Denn auch ein Dschugo
Liang ist nicht vollkommen, er hat seine Grenzen. Denken Sie an die Deklaration unserer zwölf Länder:
Wir haben einen ersten, einen zweiten, einen dritten und einen vierten Entwurf formuliert und sind mit
der Überarbeitung immer noch nicht fertig. Meiner Meinung nach ist es anmaßend, wenn sich jemand
für allwissend und allmächtig wie Gott hält. Welche Haltung ist also den Genossen gegenüber
angebracht, die Fehler begangen haben? Wir sollten analytisch vorgehen und eine dialektische, nicht
eine metaphysische Methode anwenden. Unsere Partei ist einst in den Sumpf der Metaphysik, des
Dogmatismus geraten; die
|584| Dogmatiker suchten all jene zugrunde zu richten, die ihnen nicht gefielen. Später haben wir den Dogmatismus verurteilt und uns nach und nach etwas
mehr Dialektik angeeignet. Der Grundgedanke der Dialektik ist die Einheit der Gegensätze. Was hat also, ist dieser Gedanke einmal akzeptiert, mit einem
Genossen zu geschehen, der Fehler begangen hat? Erstens muß ein Kampf geführt werden mit dem Ziel, seine falschen Ideen auszuräumen. Zweitens
muß ihm geholfen werden. Also erstens Kampf und zweitens Hilfe. Von guten Absichten ausgehend, müssen wir ihm bei der Korrektur seiner Fehler
helfen, damit er aus der Sackgasse herausfindet.
Ich mit Leuten anderer Art müssen wir natürlich anders umgehen. Gegenüber Leuten wie Trotzki, wie Tschen Du-hsiu, Dschang Guo-tao und Gao
Gang in China ist Hilfsbereitschaft nicht am Platz, denn sie sind unverbesserlich. Hitler, Tschiang Kai-schek, der Zar und ihresgleichen waren ebenfalls
unverbesserlich und mußten niedergeschlagen werden, denn wir und sie schlossen einander absolut aus. In diesem Sinn kann man sagen, daß sie
keine Doppelnatur haben, daß in ihrem Fall nur ein Aspekt zählt. Das gilt letzten Endes auch für das imperialistische und kapitalistische System, das
eines Tages zwangsläufig durch das sozialistische System abgelöst werden wird. Das gleiche gilt für die Ideologie - Idealismus wird durch
Materialismus und Gottesglauben durch Atheismus ersetzt werden. Hier geht es um unsere strategischen Ziele. Jedoch bei den einzelnen taktischen
Phasen liegt die Sache ganz anders, da kann man Kompromisse schließen. Sind wir nicht in Korea, am 38. Breitengrad, einen Kompromiß mit den
Amerikanern eingegangen? Und war das mit den Franzosen in Vietnam etwa kein Kompromiß?
In jeder taktischen Phase muß man es verstehen, den Kampf zu führen wie auch Kompromisse zu schließen. Nun zurück zu den Beziehungen zwischen
Genossen. Ich schlage vor, daß Genossen, die Differenzen haben, Gespräche miteinander führen. Manche scheinen zu glauben, daß alle gleich nach
ihrem Beitritt zur kommunistischen Partei zu Heiligen ohne Differenzen oder Mißverständnisse werden und daß die Partei kein Objekt der Analyse, also
monolithisch und uniform ist, woraus folgt, daß Gespräche unnötig sind - als wäre man, einmal in die Partei eingetreten, notwendigerweise sofort ein
hundertprozentiger Marxist. In Wirklichkeit aber gibt es Marxisten der verschiedensten Abstufungen: Es -gibt hundertprozentige Marxisten,
neunzigprozentige Marxisten, achtzigprozentige Marxisten, siebzig-, sechzig- und fünfzigprozentige Marxisten, und manche sind gar nur zu zehn oder
zwanzig
|585| Prozent Marxisten. Sollte es nicht möglich sein, daß sich zwei oder mehrere von uns in einem Zimmer unterhalten? Sollte
es nicht möglich sein, daß wir ausgehend vom Wunsch nach Einheit und im Geist der gegenseitigen Hilfe miteinander
sprechen? Wohlverstanden, hier geht es nicht um Gespräche mit den Imperialisten (wenngleich wir auch mit ihnen
sprechen), sondern um Gespräche unter Kommunisten. Ein Beispiel: Führen unsere zwölf Länder jetzt Gespräche oder
nicht? Und die über 60 Parteien, beraten sie sich, ja oder nein? Sie tun es, das ist eine Tatsache. Das heißt, man akzeptiert
unter der Bedingung, daß die Prinzipien des Marxismus-Leninismus nicht verletzt werden, bestimmte annehmbare
Auffassungen anderer und verzichtet auf eigene, die man aufgeben kann. So ist es möglich, im Umgang mit einem
Genossen, der Fehler gemacht hat, beide Hände zu gebrauchen: Mit der einen bekämpfen wir ihn, die andere reichen wir
ihm zum Bund. Ziel des Kampfes ist es, die Prinzipien des Marxismus hochzuhalten; das ist unter Prinzipienfestigkeit zu
verstehen. Das tut die eine Hand. Die andere Hand dient der Einheit. Zweck der Einheit ist es, dem Betreffenden einen
Ausweg offenzuhalten, mit ihm Kompromisse zu schließen; das nennt man Flexibilität. Die Einheit von
Prinzipienfestigkeit und Flexibilität ist ein Grundsatz des Marxismus-Leninismus, sie ist eine Einheit von Gegensätzen.
Jede Welt, welcher Art sie auch sei, und natürlich besonders die Klassengesellschaft, ist voller Widersprüche. Manche
sagen, man könne in der sozialistischen Gesellschaft Widersprüche "finden", doch ich halte diese Formulierung für
falsch. Ob Widersprüche gefunden werden können oder nicht, ist nicht die Frage, denn es gibt sie ja in Hülle und Fülle.
Da ist kein Ort ohne Widersprüche und kein Mensch, der nicht Objekt einer Analyse sein kann. Zu denken, es gebe
Menschen, die sich der Analyse entziehen, ist metaphysisch. Betrachten Sie das Atom, es ist ein Komplex verschiedener
Einheiten von Gegensätzen. Atomkern und Elektronen bilden zusammen eine Einheit zweier gegensätzlicher Seiten. Der
Atomkern wiederum ist die Einheit der Gegensätze Protonen und Neutronen. Ist nun von Protonen die Rede, muß von
Protonen und Antiprotonen gesprochen werden; handelt es sich um Neutronen, so muß man Neutronen und
Antineutronen unterscheiden. Kurzum überall Einheit der Gegensätze. Die Konzeption von der Einheit der Gegensätze,
also die Dialektik, muß so breit wie nur möglich propagiert werden. Meiner Meinung nach sollte die Dialektik aus dem
kleinen Kreis der Philosophen heraustreten und unter die Massen gehen. Ich schlage vor, daß diese Frage auf
Politbürositzungen und
|586| Plenartagungen der Zentralkomitees der verschiedenen Parteien und auch auf Sitzungen ihrer jeweiligen
Parteikomitees der verschiedenen Ebenen diskutiert wird. Tatsächlich ist es ja so, daß sich die Sekretäre
unserer Parteizellen auf die Dialektik verstehen, denn sie pflegen zwei Punkte in ihren Notizbüchern
festzuhalten, wenn sie ihre Berichte für die Zellensitzungen vorbereiten: Punkt eins - die Erfolge, Punkt Zwei -
die Mängel. Eins teilt sich in zwei, das ist ein universelles Phänomen, das eben ist die Dialektik.
ANMERKUNGEN:
* Auszüge aus einer Rede von Genossen Mao Tsetung auf der Moskauer Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien.