Mao AW Band I

Mao


Mao Tse-tung:

ÜBER DIE PRAXIS*

Über den Zusammenhang von Erkenntnis und Praxis,

von Wissen und Handeln

(Juli 1937)

 


Diese Version aus: Mao Tse-tung, Ausgewählte Werke Band I, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S.347-364)


│347│Der vormarxsche Materialismus betrachtete das Problem der Erkenntnis losgelöst vom gesellschaftlichen Charakter des Menschen und von seiner geschichtlichen Entwicklung, darum konnte er die Abhängigkeit der Erkenntnis von der gesellschaftlichen Praxis, das heißt, die Abhängigkeit der Erkenntnis von der Produktion und vom Klassenkampf, nicht verstehen.

Vor allen Dingen sind die Marxisten der Meinung, daß die Produktionstätigkeit der Menschen die allerwesentlichste praktische Tätigkeit darstellt, die jede andere Tätigkeit bestimmt. Die Erkenntnis der Menschen hängt hauptsächlich von ihrer Tätigkeit in der materiellen Produktion ab, in deren Verlauf die Menschen allmählich die Erscheinungen, Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten der Natur und die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur begreifen; zugleich erkennen sie durch ihre Produktionstätigkeit auch allmählich in unterschiedlichem Maß bestimmte Beziehungen zwischen den Menschen. Alle diese Kenntnisse können nicht losgelöst von der Produktionstätigkeit erworben werden. In der klassenlosen Gesellschaft

│348│wirkt jeder einzelne Mensch als Mitglied dieser Gesellschaft mit den übrigen Gesellschaftsmitgliedern zusammen, geht mit ihnen bestimmte Produktionsverhältnisse ein und übt eine Produktionstätigkeit aus, trägt somit zur Lösung der Fragen der materiellen Existenz der Menschheit bei. In den Klassengesellschaften gehen die zu den verschiedenen Klassen gehörenden Mitglieder der Gesellschaft ebenfalls, und zwar in verschiedenen Formen, bestimmte Produktionsverhältnisse ein, üben eine Produktionstätigkeit aus und lösen so die Fragen der materiellen Existenz der Menschheit. Das ist die Hauptquelle für die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis.

Die gesellschaftliche Praxis der Menschen beschränkt sich nicht auf die Produktionstätigkeit, sondern hat noch viele andere Formen: den Klassenkampf, das politische Leben, die wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit; kurz gesagt, der gesellschaftliche Mensch nimmt an allen Bereichen des praktischen Lebens der Gesellschaft teil. Darum erfaßt der Mensch in seiner Erkenntnis in unterschiedlichem Maße die verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Menschen nicht nur im materiellen, sondern auch im politischen und kulturellen Leben (das eng mit dem materiellen Leben verbunden ist). Unter diesen Formen der gesellschaftlichen Praxis übt vor allem der Klassenkampf in seinen verschiedensten Formen einen tiefwirkenden Einfluß auf die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis aus. In der Klassengesellschaft lebt jeder Mensch in einer bestimmten Klassenlage, und es gibt keine Ideen, die nicht den Stempel einer Klasse trügen.

Die Marxisten sind der Ansicht, daß sich die Produktionstätigkeit der menschlichen Gesellschaft Schritt für Schritt von niederen zu höheren Stufen entwickelt und sich deshalb auch die Erkenntnis sowohl der Natur als auch der Gesellschaft durch die Menschen Schritt für Schritt von niederen zu höheren Stufen, das heißt von der Ober fläche in die Tiefe, vom Einseitigen zum Vielseitigen entwickelt. Im

│349│Verlauf einer sehr langen historischen Periode konnten die Menschen die Geschichte der Gesellschaft notwendigerweise nur einseitig verstehen, weil einerseits die Voreingenommenheit der Ausbeuterklassen die Geschichte der Gesellschaft ständig verzerrte und andererseits der enge Umfang der Produktion den Gesichtskreis der Menschen beschränkte. Erst als zusammen mit den riesigen Produktivkräften - der Großindustrie - das moderne Proletariat auf den Plan trat, konnten die Menschen zum allseitigen geschichtlichen Verständnis der historischen Entwicklung der Gesellschaft gelangen und ihre Erkenntnis der Gesellschaft in eine Wissenschaft verwandeln. Diese Wissenschaft ist der Marxismus.

Die Marxisten sind der Ansicht, daß nur die gesellschaftliche Praxis der Menschen das Kriterium für den Wahrheitsgehalt ihrer Erkenntnis der Außenwelt ist. In der Tat wird ihre Erkenntnis erst dann als richtig bestätigt, wenn die Menschen im Prozeß der gesellschaftlichen Praxis (im Prozeß der materiellen Produktion, des Klassenkampfes und wissenschaftlicher Experimente) die von ihnen erwarteten Ergebnisse erzielt haben. Wenn die Menschen Erfolge in der Arbeit erzielen, das heißt die erwarteten Ergebnisse erhalten wollen, müssen sie unbedingt ihre Ideen in Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten der objektiven Außenwelt bringen, anderenfalls erleiden sie in der Praxis Niederlagen. Wenn sie Niederlagen erleiden, ziehen sie daraus Lehren, berichtigen ihre Ideen, um sie in Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten der Außenwelt zu bringen und können dann die Niederlagen in Siege verwandeln; diese Wahrheit findet ihren Ausdruck in den Sprichwörtern "Die Niederlage ist die Mutter des Erfolgs" und "Durch Schaden wird man klug". Die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus stellt die Praxis an die erste Stelle; sie ist der Meinung, daß die menschliche Erkenntnis keineswegs von der Praxis losgelöst werden kann, und lehnt alle Theorien, die die Bedeutung der Praxis verneinen und die Erkenntnis von der Praxis lösen, als falsch ab. Lenin sagte: "Die Praxis ist höher als die (theoretische) Erkenntnis, denn sie hat nicht nur die Würde des Allgemeinen, sondern auch der unmittelbaren Wirklichkeit. [1] Die marxistische Philosophie, der dialektische Materialismus, weist zwei am meisten hervorstechende Merkmale auf: Zunächst ist sie durch ihren Klassencharakter gekennzeichnet. Sie erklärt offen, daß der dialektische Materialismus dem Proletariat dient. Weiter ist sie gekennzeichnet durch ihre Bezogenheit auf die Praxis. Sie betont, daß die Theorie von der Praxis abhängt, daß die Praxis die Grundlage

│350│der Theorie bildet und die Theorie ihrerseits der Praxis dient. Ob eine Erkenntnis oder eine Theorie der Wahrheit entspricht, wird nicht durch die subjektive Empfindung, sondern durch die objektiven Ergebnisse der gesellschaftlichen Praxis bestimmt. Das Kriterium der Wahrheit kann nur die gesellschaftliche Praxis sein. Der Gesichtspunkt der Praxis ist der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus.[2]

Aber auf welche Weise entsteht nun aus der Praxis die menschliche Erkenntnis, und wie dient sie ihrerseits der Praxis? Um das zu verstehen, braucht man sich nur mit dem Entwicklungsprozeß der Erkenntnis zu befassen.

Die Menschen sehen nämlich im Prozeß ihrer praktischen Tätigkeit zuerst lediglich die Erscheinung der Dinge, ihre einzelnen Seiten und den äußerlichen Zusammenhang zwischen den Dingen. Hier ein Beispiel: Leute, die zu einer Studienreise von auswärts nach Yenan kommen, sehen hier in den ersten Tagen das Gelände, die Straßen und Häuser, kommen mit vielen Menschen in Berührung, nehmen an Empfängen, Abendveranstaltungen und Massenkundgebungen teil, hören allerlei Reden und lesen verschiedene Dokumente; alles das ist die Erscheinung der Dinge, sind ihre einzelnen Seiten und ihr äußerlicher Zusammenhang. Das nennt man die Stufe der sinnlichen Erkenntnis, die Stufe der Empfindungen und Eindrücke.

Das heißt, diese verschiedenen Dinge in Yenan wirken auf die Sinnesorgane der Mitglieder der Studiengruppe ein, rufen in ihnen Empfindungen hervor, und so entstehen in ihrem Gehirn zahlreiche Eindrücke und eine grobe äußerliche Verbindung zwischen diesen Eindrücken; das ist die erste Stufe der Erkenntnis. Auf dieser Stufe kann man noch keine tiefgehenden Begriffe bilden und keine folgerichtigen (d.h. der Logik entsprechenden) Schlüsse ziehen. Indem sich die gesellschaftliche Praxis fortsetzt, wiederholen sich mehrmals die Dinge, die bei den Menschen in ihrer praktischen Tätigkeit Empfindungen und Eindrücke hervorrufen; dann tritt im menschlichen Gehirn ein Umschlag (d.h. Sprung) im Erkenntnisprozeß ein, und es entstehen Begriffe. Der Begriff spiegelt schon nicht mehr die Erscheinung der Dinge, ihre einzelnen Seiten und den äußeren Zusammenhang zwischen ihnen wider; er erfaßt das Wesen der Dinge, ihre Totalität und ihren inneren Zusammenhang. Zwischen Begriff und Empfindung besteht nicht nur ein quantitativer, sondern auch ein qualitativer Unterschied. Wenn man in dieser Richtung weiterschreitet, die Methode des Urteilens und Ableitens anwendet, dann

│351│können folgerichtige Schlüsse gezogen werden. Wenn es in dem Roman San Guo Yän Yi {1} heißt: "Man zieht die Brauen zusammen und kommt auf eine Idee", oder wenn wir im Alltagsleben sagen: "Laß mich einmal nachdenken", so bedeutet das, daß der Mensch in seinem Gehirn mit Begriffen operiert, um Urteile zu fällen und Schlußfolgerungen zu ziehen. Das ist die zweite Stufe der Erkenntnis. Nachdem die Mitglieder der Studiengruppe allerhand Material gesammelt und obendrein darüber "nachgedacht" haben, können sie folgendes Urteil fällen: "Die von der Kommunistischen Partei betriebene Politik der antijapanischen nationalen Einheitsfront ist konsequent, aufrichtig und ehrlich." Nachdem sie dieses Urteil abgegeben haben, können sie, wenn sie ebenfalls ehrlich für die Einheit zur Rettung des Vaterlands eintreten, einen Schritt weitergehen und folgenden Schluß ziehen: "Die antijapanische nationale Einheitsfront kann zustande kommen." Im Gesamtprozeß der Erkenntnis eines Dinges durch die Menschen ist diese Stufe der Begriffe, Urteile und Schlußfolgerungen eine noch wichtigere Stufe, nämlich die Stufe der rationalen Erkenntnis. Die eigentliche Aufgabe der Erkenntnis besteht darin, vom Empfinden zum Denken und somit dahin zu gelangen, sich Schritt für Schritt über die inneren Widersprüche der objektiv existierenden Dinge, über ihre Gesetzmäßigkeiten, über den inneren Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen Prozeß klarzuwerden, das heißt, zur logischen Erkenntnis zu kommen. Wiederholen wir: Die logische Erkenntnis unterscheidet sich von der sinnlichen Erkenntnis dadurch, daß die sinnliche Erkenntnis die einzelnen Seiten der Dinge, ihre Erscheinung und den äußeren Zusammenhang zwischen ihnen betrifft, während die logische Erkenntnis einen gewaltigen Schritt vorwärts macht, zur Totalität der Dinge, zu ihrem Wesen und ihrem inneren Zusammenhang vorstößt, zur Aufdeckung der inneren Widersprüche der Umwelt gelangt. Dadurch ist die logische Erkenntnis imstande, die Entwicklung der Umwelt in ihrer Gesamtheit und im inneren Zusammenhang aller ihrer Seiten zu erfassen.

Diese auf der Praxis beruhende und von der Oberfläche in die Tiefe dringende dialektisch-materialistische Theorie des Entwicklungsprozesses der Erkenntnis ist in vormarxistischer Zeit von niemandem ausgearbeitet worden. Der marxistische Materialismus hat zum erstenmal diese Frage richtig gelöst: er hat materialistisch und dialektisch die sich vertiefende Bewegung der Erkenntnis dargestellt und gezeigt, wie sich der gesellschaftliche Mensch in seiner komplizierten und sich ständig wiederholenden Praxis der Produktion und des

│352│Klassenkampfes von der sinnlichen zur logischen Erkenntnis fortbewegt. Lenin sagte: "Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes,die Abstraktion des Wertes usw., mit einem Worte, alle wissenschaftlichen (richtigen, ernst zu nehmenden, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, richtiger, vollständiger wider." [3] Nach marxistisch-leninistischer Auffassung bestehen die Unterscheidungsmerkmale der beiden Stufen des Erkenntnisprozesses darin, daß auf der niederen Stufe die Erkenntnis als sinnliche, auf der höheren Stufe aber als logische Erkenntnis auftritt; diese beiden Stufen sind jedoch Stufen im einheitlichen Erkenntnisprozeß. Das Sinnliche und das Rationale unterscheiden sich ihrem Charakter nach, doch sind sie voneinander nicht losgelöst, sondern sie vereinigen sich auf der Grundlage der Praxis. Unsere Praxis beweist: Wenn wir etwas wahrgenommen haben, können wir es nicht sofort begreifen; erst wenn wir begriffen haben, können wir es tiefer wahrnehmen. Die sinnliche Wahrnehmung löst nur das Problem der äußeren Erscheinung; das Problem des inneren Wesens wird erst durch die Theorie gelöst. Die Lösung dieser Probleme kann keinesfalls von der Praxis getrennt werden. Kein Mensch kann ein Ding erkennen, wenn er nicht mit ihm in Berührung kommt, das heißt, wenn sein eigenes Leben (seine Praxis) nicht in dem Milieu dieses Dinges verläuft. Es war in der Feudalgesellschaft unmöglich, schon im voraus die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft zu erkennen; denn damals war der Kapitalismus noch nicht aufgekommen, und es fehlte die entsprechende Praxis. Der Marxismus konnte erst als Produkt der kapitalistischen Gesellschaft entstehen. Marx konnte nicht in der Epoche des liberalen Kapitalismus im voraus gewisse besondere Gesetzmäßigkeiten der Epoche des Imperialismus konkret erkennen, da der Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus noch nicht in Erscheinung getreten war und es noch keine entsprechende Praxis gab; erst Lenin und Stalin konnten diese Aufgabe auf sich nehmen. Abgesehen von ihrer Genialität, konnten Marx, Engels, Lenin und Stalin ihre Theorie hauptsächlich deswegen aufstellen, weil sie zu ihrer Zeit persönlich an der Praxis des Klassenkampfes und der wissenschaftlichen Experimente teilnahmen; ohne letztere Voraussetzung hätte keinerlei Genialität zum Erfolg führen können. Der Satz, daß "der Gelehrte, ohne seine Stube zu verlassen, alle Vorgänge in der Welt kennt", war in alten Zeiten, als sich die Technik noch nicht entwickelt hatte, bloß leeres Gerede. In der modernen Zeit der entwickelten Technik kann dieser Satz zwar einen realen Sinn haben, doch sind es die praktisch tätigen

│353│Menschen in aller Welt, die wirklich über ein persönlich erworbenes Wissen verfügen; diese Menschen erlangen im Verlauf ihrer praktischen Tätigkeit jene "Kenntnisse", die durch Vermittlung des geschriebenen Wortes und der Technik in die Hände des "Gelehrten" geraten, der so in die Lage kommt, indirekt die "Vorgänge in der Welt zu kennen". Wer ein bestimmtes Ding oder einen Komplex von Dingen direkt kennenlernen will, muß persönlich an dem praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit, zur Veränderung des Dinges oder des Komplexes von Dingen teilnehmen; denn nur so kommt er mit den Erscheinungen der betreffenden Dinge in Berührung, und erst durch die persönliche Teilnahme am praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit ist er imstande, das Wesen jenes Dinges bzw. jenes Komplexes von Dingen zu enthüllen und sie zu verstehen. Das ist der Weg der Erkenntnis, den in Wirklichkeit jeder Mensch geht, obwohl es Menschen gibt, die vorsätzlich die Wahrheit verdrehen und das Gegenteil behaupten. Die lächerlichsten Menschen in der Welt sind die "Alleswisser", die, nachdem sie irgendwo fragmentarische Kenntnisse aufgeschnappt haben, sich selbst zu einer "ersten Autorität in der Welt" ernennen, was lediglich von ihrer maßlosen Einbildung zeugt. Kenntnisse gehören zur Wissenschaft, und auf diesem Gebiet ist nicht die geringste Unehrlichkeit oder Überheblichkeit statthaft, da bedarf es entschieden gerade des Gegenteils - der Ehrlichkeit und Bescheidenheit. Willst du Kenntnisse erwerben, mußt du an der die Wirklichkeit verändernden Praxis teilnehmen. Willst du den Geschmack einer Birne kennenlernen, mußt du sie verändern, das heißt sie in deinem Mund zerkauen. Willst du Struktur und Eigenschaften des Atoms kennenlernen, mußt du physikalische und chemische Versuche durchführen, um den Zustand des Atoms zu verändern. Willst du die Theorie und die Methoden der Revolution kennenlernen, mußt du an der Revolution teilnehmen. Alle echten Kenntnisse stammen aus der unmittelbaren Erfahrung. Der Mensch kann jedoch nicht alles unmittelbar erfahren, und tatsächlich ist der größere Teil unserer Kenntnisse das Produkt mittelbarer Erfahrung, nämlich die in der Vergangenheit oder in fremden Ländern erworbenen Kenntnisse. Für unsere Vorfahren und für die Ausländer waren es Produkte der unmittelbaren Erfahrung, und wenn diese Kenntnisse zur Zeit ihrer Erwerbung als unmittelbare Erfahrung jener Bedingung entsprachen, die Lenin "wissenschaftliche Abstraktion" nannte, und die objektiv existierenden Dinge wissenschaftlich widerspiegelten, dann sind sie zuverlässig, sonst nicht. Darum setzen sich die Kenntnisse eines

│354│ Menschen aus zwei Bestandteilen zusammen: aus direkter Erfahrung und aus mittelbarer Erfahrung. Außerdem bleibt das, was für mich mittelbare Erfahrung ist, für andere unmittelbare Erfahrung. Nimmt man also die Kenntnisse in ihrer Gesamtheit, gibt es keine, die von der unmittelbaren Erfahrung losgelöst sein könnten. Der Ursprung aller Kenntnisse sind die Empfindungen, die die physischen Sinnesorgane des Menschen von der objektiven Außenwelt empfangen; wer die Empfindungen verneint, die unmittelbare Erfahrung leugnet und die persönliche Teilnahme an der die Wirklichkeit verändernden Praxis ablehnt, ist kein Materialist. Darum eben sind die "Alleswisser" so lächerlich. Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort: "Wie kann man ein Tigerjunges fangen, wenn man nicht in die Höhle des Tigers geht?" Dieses Sprichwort drückt eine Wahrheit aus, die gleichermaßen für die menschliche Praxis wie für die Erkenntnistheorie gilt. Eine von der Praxis losgelöste Erkenntnis kann es nicht geben.

Um die dialektisch-materialistische Bewegung der Erkenntnis klarzumachen, die auf der Grundlage der die Wirklichkeit verändernden Praxis entsteht - eine Bewegung der allmählichen Vertiefung der Erkenntnis -, seien nachstehend noch einige konkrete Beispiele angeführt.

In der Anfangsperiode seiner Praxis - in der Periode der Maschinenstürmerei und des spontanen Kampfes -stand das Proletariat, was die Erkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft betrifft, noch auf der Stufe der sinnlichen Erkenntnis; es erkannte nur die einzelnen Seiten und den äußeren Zusammenhang der Erscheinungen des Kapitalismus. Damals war das Proletariat noch eine sogenannte "Klasse an sich". Als es aber dann zur zweiten Periode seiner Praxis, zur Periode des bewußten und organisierten wirtschaftlichen und politischen Kampfes gelangte, war es imstande, auf Grund der Praxis, auf Grund der in langwierigen Kämpfen gesammelten vielfältigen Erfahrungen - die von Marx und Engels wissenschaftlich verallgemeinert wurden, wodurch die marxistische Theorie entstanden war, mit deren Hilfe das Proletariat geschult wurde - das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft, das zwischen den Gesellschaftsklassen bestehende Ausbeutungsverhältnis und die historische Aufgabe des Proletariats zu verstehen. So wurde das Proletariat zur "Klasse für sich".

Ebenso verhielt es sich mit der Erkenntnis des Imperialismus durch das chinesische Volk. Die erste Stufe war die Stufe der oberflächlichen sinnlichen Erkenntnis, wie sie in dem durch Fremdenfeindlichkeit schlechthin gekennzeichneten Kampf der Taiping-Tiänguo-,

│355│Yihotuan- und anderer Bewegungen ihren Ausdruck fand. Erst die zweite Stufe war für das chinesische Volk die Stufe der rationalen Erkenntnis, wo es hinter die verschiedenen inneren und äußeren Widersprüche des Imperialismus kam und den wahren Sachverhalt erkannte, nämlich daß der Imperialismus im Verein mit den Klassen der chinesischen Kompradoren und Feudalherren die Volksmassen Chinas unterdrückte und ausplünderte; diese Erkenntnis begann erst um die Zeit der Bewegung des 4. Mai im Jahre 1919.

Wenden wir uns nun dem Krieg zu. Wenn die Führung in einem Krieg in der Hand von militärisch unerfahrenen Menschen liegt, dann können diese im Anfangsstadium die tieferen Gesetzmäßigkeiten der Lenkung des gegebenen konkreten Krieges (zum Beispiel unseres Agratrevolutionären Krieges in den vergangenen zehn Jahren) nicht verstehen. Sie werden im Anfangsstadium lediglich viele persönliche Kampferfahrungen erwerben und dabei eine beträchtliche Anzahl von Niederlagen erleiden. Nichtsdestoweniger werden diese Erfahrungen (die Erfahrungen der Siege und besonders der Niederlagen) ihnen die Möglichkeit geben, das, was dem ganzen Krieg von Anfang bis Ende innewohnt, nämlich die Gesetzmäßigkeiten dieses konkreten Krieges, zu begreifen, die Strategie und Taktik zu verstehen und folglich den Krieg mit sicherem Griff zu leiten. Wenn zu diesem Zeitpunkt ein Mensch ohne Erfahrungen die Führung im Krieg übernähme, würde er seinerseits die wirklichen Gesetze des Krieges erst dann verstehen, nachdem er eine Reihe von Niederlagen erlitten (das heißt Erfahrungen erworben) hat.

Häufig hört man Genossen, die zögern, eine bestimmte Arbeit zu übernehmen, sagen, sie wären nicht sicher, ob sie mit dieser Arbeit fertig werden könnten. Warum fühlen sie sich nicht sicher? Da sie in bezug auf den Inhalt und die Umstände dieser Arbeit kein Verständnis für Gesetzmäßigkeiten haben oder mit einer derartigen Arbeit niemals oder nur selten zu tun hatten, kann auch keine Rede davon sein, daß sie die Gesetzmäßigkeiten dieser Arbeit kennen. Nachdem man ihnen jedoch den Charakter und die Umstände der Arbeit ausführlich analysiert hat, werden sie sich sicherer fühlen und sich bereit erklären, diese Arbeit zu übernehmen. Wenn sie diese Arbeit einige Zeit geleistet und Erfahrungen darin erworben haben, wenn sie zudem aufgeschlossen die Umstände erforschen wollen und die Dinge nicht subjektiv, einseitig und oberflächlich betrachten, werden sie selbst Schlußfolgerungen zu ziehen vermögen, wie die Arbeit zu verrichten ist, und sie werden mit viel mehr Mut an die

│356│Arbeit herangehen. Leute, die subjektiv, einseitig und oberflächlich an die Fragen herangehen, beginnen nach der Ankunft am neuen Ort sofort, selbstgefällig Anordnungen zu treffen und Befehle zu erlassen, ohne sich über die Lage zu informieren, ohne in die Sache als Ganzes (in ihre Geschichte und ihre gesamten gegenwärtigen Umstände) einzudringen und ohne bis zum Wesen der Sache (ihrem Charakter und ihrem inneren Zusammenhang mit anderen Sachen) vorzudringen - solche Leute werden unweigerlich straucheln.

Im Erkenntnisprozeß besteht also der erste Schritt darin, daß man zunächst mit den Erscheinungen der Außenwelt in Berührung kommt; das ist die Stufe der Empfindungen. Der zweite Schritt ist die Synthese des durch die Empfindungen erhaltenen Materials, seine Einordnung und Verarbeitung; das ist die Stufe der Begriffe, Urteile und Schlußfolgerungen. Nur wenn durch die Empfindungen sehr reichhaltige (nicht vereinzelte und unvollständige) Angaben erhalten wurden und diese der Wirklichkeit entsprechen (keine Sinnestäuschungen sind), kann man auf Grund dieser Angaben richtige Begriffe bilden und logische Schlüsse ziehen.

Hier müssen zwei wichtige Momente besonders hervorgehoben werden. Über das erste wurde schon oben gesprochen, doch muß es hier noch einmal wiederholt werden: die Abhängigkeit der rationalen Erkenntnis von der sinnlichen. Wer der Meinung ist, die rationale Erkenntnis brauche nicht aus der sinnlichen Erkenntnis zu entspringen, ist ein Idealist. In der Geschichte der Philosophie gab es die Richtung des sogenannten "Rationalismus", die nur die Realität der Vernunft anerkannte und die Realität der Erfahrung verneinte, da sie der Meinung war, nur die Vernunft sei zuverlässig, während die durch sinnliche Wahrnehmung gewonnene Erfahrung unzuverlässig sei. Der Fehler dieser Richtung bestand darin, daß sie die Tatsachen auf den Kopf stellte. Das Rationale ist ja gerade deshalb zuverlässig, weil es seinen Ursprung in der sinnlichen Wahrnehmung hat; andernfalls würde es zu einem Fluß ohne Quelle, zu einem Baum ohne Wurzeln, wäre es etwas nur subjektiv Erstandenes, Unzuverlässiges. Vom Standpunkt der Reihenfolge im Erkenntnisprozeß ist die sinnliche Erfahrung das Primäre, und wir unterstreichen deshalb die Bedeutung der gesellschaftlichen Praxis im Erkenntnisprozeß, weil nur die gesellschaftliche Praxis den Anstoß dazu geben kann, daß der Mensch zu erkennen beginnt, daß er beginnt, aus der objektiven Außenwelt sinnliche Erfahrung zu gewinnen. Wenn sich jemand die Augen verschlösse, die Ohren verstopfte und sich völlig von der objektiven

│357│Außenwelt absonderte, könnte für ihn von Erkenntnis keine Rede sein. Die Erkenntnis beginnt mit der Erfahrung - das ist der Materialismus der Erkenntnistheorie.

Das zweite Moment ist die Notwendigkeit, die Erkenntnis zu vertiefen, die Notwendigkeit, von der sinnlichen Stufe der Erkenntnis zu ihrer rationalen Stufe fortzuschreiten - das ist die Dialektik der Erkenntnistheorie. [4] Anzunehmen, die Erkenntnis könne auf der niederen Stufe, der Stufe der sinnlichen Erkenntnis, verharren, anzunehInen, nur die sinnliche Erkenntnis sei zuverlässig, die rationale Erkenntnis aber unzuverlässig - das hieße, den aus der Geschichte bekannten Fehler des "Empirismus" zu wiederholen. Der Fehler dieser Theorie liegt in der mangelnden Kenntnis dessen, daß die Sinnesangaben zwar eine Widerspiegelung gewisser Realitäten der objektiven Außenwelt (ich spreche hier nicht von dem idealistischen Empirismus, der die Erfahrung nur auf die sogenannte innere Selbstbetrachtung zurückführt), jedoch nur etwas Einseitiges und Oberflächliches sind; eine solche Widerspiegelung ist unvollständig, ist keine Widerspiegelung des Wesens der Dinge. Zur vollständigen Widerspiegelung des Dinges in seiner Totalität, zur Widerspiegelung seines Wesens und seiner inneren Gesetzmäßigkeiten muß man durch den Denkprozeß mannigfaltige Sinnesangaben verarbeiten, d.h. die Spreu vom Weizen sondern, das Falsche ausmerzen und das Wahre behalten, vom einen zum anderen fortschreiten, von der Oberfläche in den Kern eindringen und dadurch ein System von Begriffen und Theorien schaffen - muß man den Sprung von der sinnlichen Erkenntnis zur rationalen Erkenntnis tun. Die so bearbeitete Erkenntnis ist nicht ärmer, nicht unzuverlässiger. Im Gegenteil, alles, was im Erkenntnisprozeß auf der Grundlage der Praxis wissenschaftlich verarbeitet worden ist, spiegelt - wie Lenin sagt - die objektiven Dinge tiefer, richtiger und vollständiger wider. Gerade das verstehen die vulgären Praktizisten nicht: Sie schätzen die Erfahrung hoch, achten aber die Theorie gering, infolgedessen können sie keine Übersicht über den objektiven Prozeß in seiner Gesamtheit gewinnen, fehlt ihnen die klare Orientierung, haben sie keine weitreichende Perspektive, berauschen sie sich an zufälligen Erfolgen und an einem Schimmer von Wahrheit. Leiteten solche Menschen die Revolution an, würden sie diese in eine Sackgasse führen.

Die rationale Erkenntnis hängt von der sinnlichen Erkenntnis ab, die sinnliche Erkenntnis aber muß sich zur rationalen Erkenntnis entwickeln - das ist die Erkenntnistheorie des dialektischen Mate-

│358│rialismus. In der Philosophie versteht weder der "Rationalismus" noch der "Empirismus" den historischen oder dialektischen Charakter der Erkenntnis, und obwohl jede dieser Richtungen eine Seite der Wahrheit enthält (wir sprechen hier vom materialistischen und nicht vom idealistischen Rationalismus und Empirismus), sind sie, vom Standpunkt der Erkenntnistheorie in ihrer Gesamtheit betrachtet, beide falsch. Die dialektisch-materialistische Bewegung der Erkenntnis vom Sinnlichen zum Rationalen gilt sowohl für einen Erkenntnisprozeß kleineren Maßstabs (zum Beispiel die Erkenntnis eines Gegenstands oder einer Arbeit) als auch für einen Erkenntnisprozeß größeren Maßstabs (zum Beispiel die Erkenntnis einer Gesellschaft oder einer Revolution).

Jedoch ist die Bewegung der Erkenntnis damit noch nicht vollendet. Bliebe die dialektisch-materialistische Bewegung der Erkenntnis lediglich bei der rationalen Erkenntnis stehen, so wäre damit nur die Hälfte des Problems bewältigt, und vom Standpunkt der marxistischen Philosophie betrachtet wäre das gar nicht das Wichtigste. Die marxistische Philosophie ist der Ansicht, daß die wichtigste Frage nicht darin besteht, die Gesetzmäßigkeiten der objektiven Welt zu verstehen, um die Welt interpretieren zu können, sondern darin, die Erkenntnis dieser objektiven Gesetzmäßigkeiten auszunutzen, um die Welt aktiv umzugestalten. Der Marxismus erkennt die große Bedeutung der Theorie an, und diese Bedeutung fand ihren vollkommenen Ausdruck in der Leninschen These: "Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben." [5] Aber der Marxismus legt der Theorie darum und nur darum ernste Bedeutung bei, weil sie die Anleitung zum Handeln sein kann. Wenn man über eine richtige Theorie verfügt, sie aber nur als etwas behandelt, worüber man einmal schwatzt, um es dann in die Schublade zu legen, was man jedoch keineswegs in die Praxis umsetzt, dann wird diese Theorie, so gut sie auch sein mag, bedeutungslos. Die Erkenntnis beginnt mit der Praxis, und die theoretischen Erkenntnisse, die man durch die Praxis erworben hat, müssen wiederum zur Praxis zurückkehren. Die aktive Rolle der Erkenntnis findet ihren Ausdruck nicht nur in dem aktiven Sprung von der sinnlichen Erkenntnis zur rationalen Erkenntnis, sondern, was noch wichtiger ist, sie muß auch in dem Sprung von der rationalen Erkenntnis zur revolutionären Praxis zum Ausdruck kommen. Nachdem man die Gesetzmäßigkeiten der Welt erkannt hat, muß diese Erkenntnis wiederum zur Praxis der Umgestaltung der Welt zurückkehren, wiederum auf die Praxis der

│359│Produktion, die Praxis des revolutionären Klassenkampfes und des revolutionären nationalen Kampfes sowie die Praxis wissenschaftlicher Experimente angewandt werden. Das ist ein Prozeß der Überprüfung und der Entwicklung der Theorie, eine Fortsetzung des gesamten Erkenntnisprozesses. Die Frage, ob ein theoretischer Leitsatz der objektiven Wahrheit entspricht, wird durch die Bewegung von der sinnlichen zur rationalen Erkenntnis - von der wir weiter oben gesprochen haben - nicht völlig entschieden und kann auch dadurch nicht völlig entschieden werden. Der einzige Weg zur gründlichen Lösung dieser Frage besteht darin, die rationale Erkenntnis wieder in die gesellschaftliche Praxis zurückzuführen, die Theorie auf die Praxis anzuwenden und zu prüfen, ob sie zu dem gesteckten Ziel zu führen vermag. Viele naturwissenschaftliche Theorien werden deshalb für wahr befunden, weil dies nicht nur zu der Zeit geschah, als die Naturforscher die betreffenden Lehren aufstellten, sondern auch später, als diese durch die wissenschaftliche Praxis bestätigt wurden. Genauso wird der Marxismus-Leninismus nicht nur deshalb als wahr anerkannt, weil er so galt, als ihn Marx, Engels, Lenin und Stalin wissenschaftlich ausgearbeitet hatten, sondern auch deshalb, weil er durch die spätere Praxis des revolutionären Klassenkampfes und des revolutionären nationalen Kampfes seine Bestätigung fand. Der dialektische Materialismus ist eine allgemeingültige Wahrheit, weil sich seinem Bereich die Praxis keines einzigen Menschen entziehen kann. Die Geschichte der menschlichen Erkenntnis sagt uns, daß der Wahrheitsgehalt vieler Theorien zunächst unvollkommen war, diese Unvollkommenheit aber durch ihre Erprobung in der Praxis beseitigt wurde. Viele Theorien sind irrig, aber durch die Erprobung in der Praxis werden ihre Fehler korrigiert. Darum eben ist die Praxis das Kriterium der Wahrheit, und darum "muß der Gesichtspunkt des Lebens, der Praxis der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie sein" [6]. Stalin sagte sehr richtig:"... die Theorie wird gegenstandslos, wenn sie nicht mit der revolutionären Praxis verknüpft wird, genauso wie die Praxis blind wird, wenn sie ihren Weg nicht durch die revolutionäre Theorie beleuchtet."[7]

Kann man, hier angelangt, die Bewegung der Erkenntnis als abgeschlossen betrachten? Wir antworten: Sie ist abgeschlossen und auch nicht abgeschlossen. Wenn sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen einer praktischen Tätigkeit widmen, um einen bestimmten objektiven Prozeß (sei es einen natürlichen, sei es einen gesellschaftlichen Prozeß) auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung zu

│360│verändern, bewirken die Widerspiegelung des objektiven Prozesses in ihrem Bewußtsein und ihre eigene subjektive Aktivität, daß sie von der sinnlichen Erkenntnis zur rationalen Erkenntnis weiterschreiten und Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte ausarbeiten, die im großen und ganzen den Gesetzmäßigkeiten dieses objektiven Prozesses entsprechen. Sie wenden dann diese Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte auf die Praxis der Veränderung desselben objektiven Prozesses an. Wenn sie dabei zum gesteckten Ziel gelangen, d. h. wenn die ausgearbeiteten Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte in der Praxis der Veränderung desselben Prozesses in die Tat umgesetzt oder im großen und ganzen verwirklicht sind, dann kann man die Erkenntnisbewegung in bezug auf diesen konkreten Prozeß als abgeschlossen betrachten. So kann man beispielsweise, im Prozeß der Veränderung der Natur, die Realisierung eines Bauplans, die Bestätigung einer wissenschaftlichen Hypothese, die Schaffung eines Geräts, die Ernte einer landwirtschaftlichen Kultur und, im Prozeß der Veränderung der Gesellschaft, den Erfolg eines Streiks, den Sieg in einem Krieg, die Erfüllung eines Erziehungsprogramms als die Verwirklichung eines gesteckten Ziels betrachten. Im allgemeinen jedoch kommt es in der Praxis der Veränderung der Natur oder der Gesellschaft selten vor, daß die von den Menschen ursprünglich ausgearbeiteten Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte ohne die geringsten Änderungen verwirklicht werden. Das rührt daher, daß die Menschen, die an der Veränderung der Wirklichkeit arbeiten, gewöhnlich zahlreichen Beschränkungen unterliegen, die nicht nur durch die wissenschaftlichen und technischen Bedingungen gegeben sind, sondern auch durch die Entwicklung des objektiven Prozesses selbst und den Grad seiner Äußerung (die verschiedenen Seiten und das Wesen des objektiven Prozesses sind noch nicht vollständig aufgedeckt). Unter diesen Umständen, da man in der Praxis von unvorhergesehenen Situationen überrascht wird, werden die Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte nicht selten teilweise, ja, manchmal völlig geändert. Das heißt, es kommt vor, daß die ursprünglich ausgearbeiteten Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte der Wirklichkeit teilweise oder insgesamt nicht entsprechen, daß sie zum Teil oder vollkommen falsch sind. In vielen Fällen gelingt es erst nach mehrmaligen Mißerfolgen, fehlerhafte Erkenntnisse richtigzustellen, die Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten des objektiven Prozesses zu erreichen und auf diese Weise Subjektives in Objektives zu verwandeln, das heißt, in der Praxis die erwarteten Ergebnisse zu erzielen. Auf jeden Fall kann man aber zu

│361│diesem Zeitpunkt die Bewegung der Erkenntnis eines bestimmten objektiven Prozesses durch die Menschen auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung als abgeschlossen betrachten.

Betrachtet man jedoch den Prozeß in seinem Fortschreiten, so ist die Bewegung der menschlichen Erkenntnis nicht abgeschlossen. jeder Prozeß, ob in Natur oder Gesellschaft, schreitet infolge der inneren Widersprüche und des inneren Kampfes weiter fort und entwickelt sich, und die Bewegung der menschlichen Erkenntnis muß, ihm folgend, ebenfalls weiter fortschreiten und sich entwickeln. Was die Bewegung der Gesellschaft betrifft, so müssen es wahre revolutionäre Führer nicht nur verstehen, die etwaigen Fehler in ihren Ideen, Theorien, Plänen oder Projekten zu korrigieren, wie oben gesagt wurde, sondern sie müssen es auch verstehen, ihre eigene subjektive Erkenntnis sowie die subjektive Erkenntnis aller an der Revolution Beteiligten entsprechend vorwärtszubringen und umzustellen, wenn ein bestimmter objektiver Prozeß von einer bestimmten Entwicklungsstufe zu einer anderen fortgeschritten ist und sich umgewandelt hat; das heißt, sie müssen es erreichen, daß die gestellten neuen revolutionären Aufgaben und neuen Arbeitsprojekte mit der neuen Veränderung der Lage übereinstimmen. In einer revolutionären Periode ändert sich die Lage sehr schnell, und wenn die Erkenntnis der Revolutionäre mit diesen raschen Veränderungen nicht Schritt hält, werden sie die Revolution nicht zum Sieg führen können.

Es kommt jedoch häufig vor, daß das Denken hinter der Wirklichkeit zurückbleibt; das kommt daher, daß die menschliche Erkenntnis durch viele gesellschaftliche Bedingungen eingeschränkt ist. Wir kämpfen gegen Ultrakonservative in unseren revolutionären Reihen, deren Denken mit der sich ändernden objektiven Lage nicht Schritt hält, was in der Geschichte als Rechtsopportunismus in Erscheinung trat. Diese Menschen sehen nicht, daß der Kampf der Widersprüche den objektiven Prozeß schon vorangetrieben hat, während ihre Erkenntnis immer noch auf der früheren Stufe verharrt. Das ist für das Denken aller Ultrakonservativen charakteristisch. Ihr Denken ist von der gesellschaftlichen Praxis losgelöst, sie können die Aufgabe, dem Zug der menschlichen Gesellschaft voranzugehen und ihn vorwärtszuführen, nicht auf sich nehmen; sie traben bloß hinterher und klagen, daß er sich zu schnell bewegt, und versuchen, ihn zurückzuzerren und in die entgegengesetzte Richtung zu lenken.

Wir kämpfen auch gegen "linke" Phrasendrescherei. Das Denken dieser "Linken" überspringt bestimmte Entwicklungsstufen des ob-

│362│jektiven Prozesses; die einen halten ihre Illusionen für Wahrheit, die anderen versuchen, verfrüht in der Gegenwart Ideale zu verwirklichen, die erst in der Zukunft verwirklicht werden können. Sie haben sich von der jeweiligen Praxis der Mehrheit der Menschen, von der aktuellen Wirklichkeit losgelöst und erweisen sich in ihren Handlungen als Abenteurer.

Für den Idealismus und den mechanischen Materialismus, den Opportunismus und das Abenteurertum ist der Riß zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, die Loslösung der Erkenntnis von der Praxis charakteristisch. Die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, die durch die wissenschaftliche Praxis in der Gesellschaft gekennzeichnet ist, kann nicht umhin, entschieden gegen diese falschen Anschauungen zu kämpfen. Die Marxisten erkennen an, daß im absoluten und gesamten Entwicklungsprozeß des Universums die Entwicklung der einzelnen konkreten Prozesse relativ ist und daß daher im unendlichen Strom der absoluten Wahrheit die menschliche Erkenntnis eines einzelnen konkreten Prozesses auf jeder gegebenen Stufe seiner Entwicklung nur den Charakter einer relativen Wahrheit besitzt. Aus der Summe der unzähligen relativen Wahrheiten ergibt sich die absolute Wahrheit. [8] Die Entwicklung eines objektiven Prozesses ist voller Widersprüche und Kämpfe; und ebenso voller Widersprüche und Kämpfe ist die Entwicklung der menschlichen Erkenntnisbewegung. jede dialektische Bewegung in der objektiven Welt kann früher oder später ihre Widerspiegelung in der menschlichen Erkenntnis finden. Der Prozeß des Entstehens, der Entwicklung und des Untergangs in der gesellschaftlichen Praxis ist unendlich, und ebenso unendlich ist der Prozeß des Entstehens, der Entwicklung und des Untergangs in der menschlichen Erkenntnis. Da die Praxis, die sich auf Grund bestimmter Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte mit der Veränderung der objektiven Wirklichkeit befaßt, immer wieder vorwärtsschreitet, vertieft sich auch die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit durch den Menschen immer mehr. Der Prozeß der Veränderung der objektiven realen Welt hat nie ein Ende, und ebenso unendlich ist die Erkenntnis der Wahrheit durch die Menschen im Verlauf ihrer Praxis. Der Marxismus-Leninismus hat die Wahrheit keineswegs ausgeschöpft, sondern bahnt der Erkenntnis der Wahrheit in der Praxis ununterbrochen neue Wege. Unsere Schlußfolgerung ist die konkrete geschichtliche Einheit des Subjektiven und Objektiven, der Theorie und Praxis, des Wissens und Handelns sowie die Bekämp

│363│fung aller falschen, von der konkreten Geschichte losgelösten "linken" oder rechten Anschauungen.

In der gegenwärtigen Epoche der gesellschaftlichen Entwicklung hat die Geschichte die Verantwortung für die richtige Erkenntnis der Welt und deren Umgestaltung dem Proletariat und seiner Partei auferlegt. Dieser Prozeß, die Praxis der Umgestaltung der Welt, ein Prozeß, der durch die wissenschaftliche Erkenntnis determiniert ist - hat bereits in der Welt und in China einen historischen Augenblick erreicht, einen Augenblick von großer Bedeutung, wie ihn die Geschichte noch nicht gekannt hat: die vollständige Beseitigung der Finsternis in der Welt und in China und die Umwandlung in eine noch nie dagewesene lichtvolle Welt. Der Kampf des Proletariats und der revolutionären Völker für die Umgestaltung der Welt schließt die Verwirklichung folgender Aufgaben ein: die Umgestaltung der objektiven Welt sowie die Umgestaltung der eigenen subjektiven Welt - des eigenen Erkenntnisvermögens und der Beziehungen zwischen subjektiver und objektiver Welt. Auf einem Teil des Erdballs - in der Sowjetunion - ist diese Umgestaltung schon im Gange. Dort ist man dabei, den Umgestaltungsprozeß zu beschleunigen. Das chinesische Volk und die Völker der ganzen Welt durchlaufen gegenwärtig ebenfalls diesen Prozeß oder werden ihn durchlaufen. Die umzugestaltende objektive Welt, von der hier die Rede ist, schließt auch alle Gegner der Umgestaltung ein; sie müssen zunächst die Etappe einer zwangsweisen Umformung durchlaufen, bevor sie in die Etappe der bewußten Umerziehung eintreten können. Wenn es so weit ist, daß die ganze Menschheit sich selbst und die Welt bewußt umgestaltet, dann wird die Epoche des Kommunismus in der ganzen Welt erreicht sein.

Durch die Praxis die Wahrheit entdecken und in der Praxis die Wahrheit bestätigen und weiterentwickeln; von der sinnlichen Erkenntnis ausgehen und diese aktiv zur rationalen Erkenntnis fortentwickeln, sodann wieder, ausgehend von der rationalen Erkenntnis, aktiv die revolutionäre Praxis anleiten, die subjektive und objektive Welt umzugestalten; Praxis, Erkenntnis, wieder Praxis und wieder Erkenntnis - diese zyklische Form wiederholt sich endlos, und der Inhalt von Praxis und Erkenntnis wird bei jedem einzelnen Zyklus auf eine höhere Stufe gehoben. Das ist die ganze Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus, das ist die dialektisch-materialistische Theorie der Einheit von Wissen und Handeln.

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ANMERKUNGEN

* In unserer Partei gab es eine Gruppe von Genossen, Vertreter des Dogmatismus, die lange Zeit die Erfahrungen der chinesischen Revolution verwarfen, die Wahrheit leugneten, daß "der Marxismus kein Dogma ist, sondern eine Anleitung zum Handeln", und die Menschen mit einzelnen, verständnislos aus dem Zusammenhang gerissenen Worten und Sätzen aus marxistischen Werken einschüchtern wollten. Es gab außerdem eine andere Gruppe von Genossen, Vertreter des Empirismus, die sich lange Zeit an ihre eigenen, fragmentarischen Erfahrungen klammerten, die Bedeutung der Theorie für die revolutionäre Praxis nicht verstanden und die Lage der Revolution nicht in ihrer Gesamtheit erkannten; sie gaben sich zwar auch viel Mühe, arbeiteten aber ins Blinde hinein. Die falschen Anschauungen dieser beiden Gruppen von Genossen, insbesondere der Dogmatiker, fügten der chinesischen Revolution in den Jahren 1931-1934 gewaltigen Schaden zu, und dennoch ließen sich viele Genossen von den Dogmatikern verwirren, die sich ein marxistisches Mäntelchen umgebängt hatten. Genosse Mao Tse-tung schrieb die Arbeit "Über die Praxis", um vom Standpunkt der marxistischen Erkenntnistheorie die subjektivistischen Fehler des Dogmatismus und des Empirismus in der Partei - insbesondere erstere - zu entlarven. Da in dieser Arbeit das Schwergewicht auf der Entlarvung des Dogmatismus liegt, also jener Art de Subjektivismus, bei der die Praxis geringgeschätzt wird, trägt sie den Titel "Über die Praxis". Die in dieser Arbeit enthaltenen Anschauungen des Genossen Mao Tse-tung wurden von ihm in einer Vorlesung an der Antijapanischen Militärisch-Politischen Akademie in Yenan dargelegt.

[1] Lenin, "Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik".

[2] Vgl. Karl Marx, Thesen über Feuerbach, und W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Kapitel II, Abschnitt 6.

[3] Lenin, "Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik".

[4] Vgl. Lenin, -Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik". Lenin sagt dort: "Um zu begreifen, muß man mit dem Begreifen, dem Studieren empirisch anfangen und von der Empirie zum Allgemeinen aufsteigen."

[5] Lenin, Was tun?, Kapitel I, Abschnitt 4.

[6] Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Kapitel II, Abschnitt 6,

[7] Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus, Teil III.

[8] Vgl. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Kapitel II, Abschnitt 5.


ANMERKUNGEN DES ÜBERSETZERS

{1} San Guo Yän Yi (Die drei Reiche) ist ein bekannter chinesischer historischer Roman, der von Luo Guan-dschung (etwa 1330-1400) verfaßt wurde.
 

Mao AW Band I

Mao