Guy Debord:
Die Gesellschaft des Spektakels
Edition Nautilus
Hamburg, 1978
Vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem
französischen von Jean-Jacques Raspaud
Gegenwort an falsche Freunde
Im 'Figaro Litteraire' vom 16. Dezember 1968 waren anläßlich
der Verleihung des 'Sainte Beuve Preises' an Frau Lucie Faure folgende
Zeilen zu lesen:
»Der Vorsitzende Fdgar Faure kam und beglückwünschte
seine Gemahlin artig … damit wurde bewiesen, daß Preisrichter
1968 immer noch zusammenkommen können, ohne daß randaliert wird …
Indessen hätte es zur Beanstandung und sogar zur Gewalt kommen können,
wenn die Preisrichter Guy Debord für sein Buch 'Die Gesellschaft des
Spektakels' preisgekrönt hätten, wie sie es eine Zeitlang wollten.
Als wilder Situationist konnte es Debord nicht akzeptieren, während
einer Cocktailpartie der Konsumgesellschaft von Bourgeois gefeiert zu werden.
Davor hatte er seinen Verleger, Edmond Buchet, wie folgt gewarnt: 'Wie
Sie sich denken können, bin ich radikal gegen alle Literaturpreise.
Teilen Sie das also bitte den betreffenden Personen mit, damit sie diesen
Fehlgriff vermeiden. Ich muß sogar zugeben, daß ich, sollte
ein so bedauernswerter Fall eintreten, vermutlich nicht imstande wäre,
die jüngeren Situationisten von Tätlichkeiten abzuhalten: sie
würden bestimmt die Preisrichter angreifen, die eine solche, von ihnen
als eine Beleidigung empfundene Auszeichnung, verleihen.'«
Wie man sieht, Ist die Methode ganz klar und deren Ergebnisse
überzeugend.
»Rekuperiert wird nur derjenige, der es will .«
(Situationistische Internationale No. 12)
Vom gleichen Autor:
Gegen den Film, Filmskripte
Rapport über die Konstruktion von Situationen u.a.,
Flugschrift No. 23
Editoren Clara Diabolis, Geier Lust, Attila Eisenherz.
Originaltitel "LA SOCIETE DU SPECTACLE", verlegt bei Edition
Buchet-Chastel Paris November 1967. Erste deutsche Ausgabe - neben
Veröffentlichungen in Portugal, Italien, Grolßbritannien, Dänemark
und den USA - erschien 1971 durch die ,Projektgruppe Gegengesellschaft'
Düsseldorf. Diese erste Publizität war in erster Linie die der
speziellen deutschen Rückständigkeit, in welcher sich gesellschaftlicher
Tiefschlaf wie in keinem anderen Land als gemütsvolle Unschuld präsentiert,
und erst in zweiter Linie ein publizistischer Nachholbedarf. Durch die
der ersten Übersetzung eigenen Mängel sah sich der Autor veranlaßt,
das Erscheinen einer durch ihn autorisierten, dem Original gerecht werdenden
deutschsprachigen Übersetzung zu betreiben, was hiermit geschehen
ist. Die geschichtliche Praxis ist es, die dieses Werk den Ton finden ließ
und die daher auch das letzte Wort über dieses Werk - das gänzlich
ihr Werk selbst ist - haben wird.
Autorisierte Ausgabe Edition Nautilus Verlag Lutz
Schulenburg Hassestr. 22-205 Hamburg 80
1. Auflage 1978 ISBN 3-921 523-36-2 Satz: Bärbel
Skupch, Würzburg
Stillschweigende Voraussetzungen
»Debord gibt es gern zu, daß er bei der 221.
gefunden hat, er habe genug gesagt; weiter, daß er niemals mehr sagen
wollte, als das, was genau in diesem Buch steht. Ihm ist es nur darauf
angekommen, 'unermüdlich' das zu beschreiben, was das Spektakel
ist und wie es gestürzt werden kann. Daß "diese Idee
sich in allen anderen bespiegelt", gerade das halten wir für
das Kennzeichen eines dialektischen Buches. Ein solches Buch braucht
nicht 'voranzugehen', wie eine staatliche Doktorarbeit über Macchiavelli
der Befriedigung der Prüfungskommision und der Erlangung des Doktortitels
entgegenstrebt (und, wie Marx im Nachwort zur 2. deutschen Auflage des
'Kapitals' über die Art sagt, die als 'Darstellungsweise' der dialektischen
Methode aufgefaßt werden kann, mag diese Spiegelung ,,aussehn, als
habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun"). 'Die Gesellschaft
des Spektakels' macht keinen Hehl aus ihrem vorgefaßten a priori
und versucht nicht, ihren Schluß aus einer Fragestellung akademischer
Art herzuleiten; dagegen wurde sie nur deshalb geschrieben, um das kohärente
konkrete Anwendungsgebiet einer These zu zeigen, die von einer Untersuchung
herkommt, die die revolutionäre Kritik über den modernen Kapitalismus
machen konnte. Im wesentlichen ist es also unserer Meinung nach ein
Buch, dem es an nichts außer an einer oder mehreren Revolutionen
fehlt - die unmöglich lange auf sich warten lassen können.«
»Wie man unsere Bücher nicht versteht«
Situationistische Internationale Nr. 12
1. Kapitel
DIE VOLLENDETE TRENNUNG
"Aber freilich… diese Zeit, welche das Bild der Sache,
die Kopie dem Original, die Vorstellung der Wirklichkeit, den Schein dem
Wesen vorzieht …; denn heilig ist ihr nur die Illusion, profan aber die
Wahrheit. Ja die Heiligkeit steigt in ihren Augen in demselben Maße,
als die Wahrheit ab- und die Illusion zunimmt, so daß der höchste
Grad der Illusion für sie auch der höchste Grad der Heiligkeit
ist."
Feuerbach (Das Wesen des Christentums, Vorrede
zur zweiten Auflage.)
- Das ganze Leben der Gesellschaften,
in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als
eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt
wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.
- Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt
haben, verschmelzen in einen gemeinsamen Lauf, in dem die Einheit dieses
Lebens nicht wiederhergestellt werden kann. Die teilweise betrachtete
Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte
Pseudo-Welt, Objekt der bloßen Kontemplation. Die Spezialisierung
der Bilder der Welt findet sich vollendet in der autonom gewordenen Bildwelt
wieder, in der sich das Verlogene selbst belogen hat. Das Spektakel überhaupt
ist als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung
des Unlebendigen.
- Das Spektakel stellt sich zugleich als die Gesellschaft
selbst, als Teil der Gesellschaft und als Vereinigungsinstrument dar.
Als Teil der Gesellschaft ist das Spektakel ausdrücklich der Bereich,
der jeden Blick und jedes Bewußtsein auf sich zieht. Aufgrund dieser
Tatsache, daß dieser Bereich abgetrennt ist, ist er der Ort
des getäuschten Blicks und des falschen Bewußtseins; und die
Vereinigung, die es bewirkt, ist nichts anderes als eine offizielle Sprache
der verallgemeinerten Trennung.
- Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern
ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen
Personen.
- Das Spektakel kann nicht als Übertreibung einer
Welt des Schauens, als Produkt der Techniken der Massenverarbreitung von
Bildern begriffen werden. Es ist vielmehr eine tatsächlich gewordene,
ins Materielle übertragene Weltanschauung. Es ist eine Anschauung
der Welt, die sich vergegenständlicht hat.
- In seiner Totalität begriffen, ist das Spektakel
zugleich das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise.
Es ist kein Zusatz zur wirklichen Welt, kein aufgesetzter Zierat. Es ist
das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft. In allen seinen besonderen
Formen: Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum
von Zerstreuungen ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des
gesellschaftlich herrschenden Lebens. Es ist die allgegenwärtige Behauptung
der in der Produktion und ihrem korollären Konsum bereits getroffenen
Wahl. Form und Inhalt des Spektakels sind identisch die vollständige
Rechtfertigung der Bedingungen und der Ziele des bestehenden Systems. Das
Spektakel ist auch die ständige Gegenwart dieser Rechtfertigung,
als Beschlagnahme des hauptsächlichen Teils der außerhalb der
modernen Produktion erlebten Zeit.
- Die Trennung selbst gehört zur Einheit der Welt,
zur globalen gesellschaftlichen Praxis, die sich in Realität und Bild
aufgespalten hat. Die gesellschaftliche Praxis, vor die sich das autonome
Spektakel stellt, ist auch die das Spektakel umfassende wirkliche Totalität.
Aber die Aufspaltung dieser Totalität verstümmelt sie so sehr,
daß sie das Spektakel als ihren Zweck erscheinen läßt.
Die Sprache des Spektakels besteht aus Zeichen der herrschenden
Produktion, die zugleich der letzte Zweck dieser Produktion sind.
- Das Spektakel und die wirkliche gesellschaftliche Tätigkeit
lassen sich nicht abstrakt einander entgegensetzen; diese Verdoppelung
ist selbst doppelt. Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich
erzeugt. Zugleich wird die erlebte Wirklichkeit durch die Kontemplation
des Spektakels materiell überschwemmt und nimmt in sich selbst die
spektakuläre Ordnung wieder auf, indem sie ihr eine positive Zustimmung
gibt. Die objektive Realität ist auf beiden Seiten vorhanden. Jeder
so festgesetzte Begriff gründet sich nur auf seinen Übergang
in die Gegenseite. Ins Spektakel tritt die Wirklichkeit ein, und das Spektakel
ist wirklich. Diese gegenseitige Entfremdung ist das Wesen und die Stütze
der bestehenden Gesellschaft.
- In der wirklich verkehrten Welt ist das Wahre
ein Moment des Falschen.
- Der Begriff des Spektakels vereinigt und erklärt
eine große Mannigfaltigkeit von erscheinenden Phänomenen. Ihre
Verschiedenheiten und Kontraste sind die Erscheinungen dieses gesellschaftlich
veranstalteten Scheins, der in seiner allgemeinen Wahrheit erkannt werden
muß. Das Spektakel ist, seinen eigenen Begriffen nach betrachtet,
die Behauptung des Scheins und die Behauptung jedes menschlichen,
d.h. gesellschaftlichen Lebens als eines bloßen Scheins. Aber die
Kritik, die die Wahrheit des Spektakels trifft, entdeckt es als die sichtbare
Negation des Lebens; als eine Negation des Lebens, die sichtbar
geworden ist.
- Untrennbare Elemente müssen künstlich unterschieden
werden, um das Spektakel, seine Herausbildung und seine Funktionen sowie
die Kräfte, die zu seiner Auflösung hinstreben, zu beschreiben.
Bei der Analyse des Spektakels muß in einem gewissen Maß
die Sprache des Spektakulären geredet werden, insofern dabei der methodologische
Boden dieser Gesellschaft, die sich im Spektakel ausdrückt, betreten
wird. Aber das Spektakel ist nichts anderes als der Sinn der ganzen
Praxis einer ökonomischen Gesellschaftsformation, sein Zeitplan.
Es ist der geschichtliche Moment, in dem wir enthalten sind.
- Das Spektakel stellt sich als eine ungeheure, unbestreitbare
und unerreichbare Positivität dar. Es sagt nichts mehr als: "Was
erscheint, das ist gut; und was gut ist, das erscheint." Die durch
das Spektakel prinzipiell geforderte Haltung ist diese passive Hinnahme,
die es schon durch seine Art, unwiderlegbar zu erscheinen, durch sein Monopol
des Scheins, faktisch erwirkt hat.
- Der zutiefst tautologische Charakter des Spektakels geht
aus der bloßen Tatsache hervor, daß seine Mittel zugleich sein
Zweck sind. Es ist die Sonne, die über dem Reich der modernen Passivität
nie untergeht. Es deckt die ganze Oberfläche der Welt und badet sich
endlos in seinem eigenen Ruhm.
- Die Gesellschaft, die auf der modernen Industrie beruht,
ist nicht zufällig oder oberflächlich spektakulär, sie ist
zutiefst spektakularistisch. Im Spektakel, dem Bild der herrschenden
Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel
will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst.
- Als unerläßlicher Schmuck der jetzt erzeugten
Waren, als allgemeine Darstellung der Rationalität des Systems und
als fortgeschrittener Wirtschaftsbereich, der unmittelbar eine wachsende
Menge von Objekt-Bildern gestaltet, ist das Spektakel die hauptsächliche
Produktion der heutigen Gesellschaft.
- Das Spektakel unterjocht sich die lebendigen Menschen,
insofern die Wirtschaft sie gänzlich unterjocht hat. Es ist nichts
als die sich für sich selbst entwickelnde Wirtschaft. Es ist der getreue
Widerschein der Produktion der Dinge und die ungetreue Vergegenständlichung
der Produzenten.
- Die erste Phase der Herrschaft der Wirtschaft über
das gesellschaftliche Leben hatte in der Definition jeder menschlichen
Realisierung eine offensichtliche Degradierung des Seins zum Haben
mit sich gebracht. Die gegenwärtige Phase der völligen Beschlagnahme
des gesellschaftlichen Lebens durch die akkumulierten Ergebnisse der Wirtschaft
führt zu einer verallgemeinerten Verschiebung vom Haben zum
Scheinen, aus welchem jedes tatsächliche "Haben"
sein unmittelbares Prestige und seinen letzten Zweck beziehen muß.
Zugleich ist jede individuelle Wirklichkeit gesellschaftlich geworden,
direkt von der gesellschaftlichen Macht abhängig und von ihr geformt.
Nur sofern sie nicht ist, darf sie erscheinen.
- Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder
verwandelt, werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den
wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens. Das Spektakel als
Tendenz, durch verschiedene spezialisierte Vermittlungen die nicht mehr
unmittelbar greifbare Welt zur Schau zu stellen, findet normalerweise
im Sehen den bevorzugten menschlichen Sinn, der zu anderen Zeiten der Tastsinn
war; der abstrakteste und mystifizierbarste Sinn entspricht der verallgemeinerten
Abstraktion der heutigen Gesellschaft. Das Spektakel läßt sich
jedoch nicht mit dem bloßen Zusehen identifizieren, wenn dieses auch
mit dem Zuhören kombiniert wäre. Das Spektakel ist das, was der
Tätigkeit der Menschen, der Wiedererwägung und der Berichtigung
ihres Werkes entgeht. Es ist das Gegenteil des Dialogs. Überall, wo
es unabhängige Vorstellung gibt, baut sich das Spektakel wieder
auf.
- Das Spektakel hat die ganze Schwäche des
abendländisch-philosophischen Entwurfes geerbt, der in einem von den
Kategorien des Sehens beherrschten Begreifen der Tätigkeit
bestand; so wie es sich auch auf die unaufhörliche Entfaltung der
genauen, technischen Rationalität, die aus diesem Gedanken hervorgegangen
ist, gründet. Es verwirklicht nicht die Philosophie, es philosophiert
die Wirklichkeit. Das konkrete Leben aller ist es, welches sich zu einem
spektakulären Universum degradiert hat.
- Als Gewalt des getrennten Gedankens und als Gedanke der
getrennten Gewalt, ist es der Philosophie nie durch eigene Kraft gelungen,
die Theologie aufzuheben. Das Spektakel ist der materielle Wiederaufbau
der religiösen Illusion. Die spektakuläre Technik hat die religiösen
Wolken nicht aufgelöst, in die die Menschen ihre von ihnen losgerissenen,
eigenen Kräfte gesetzt hatten: sie hat sie nur mit einer weltlichen
Grundlage verbunden. So ist es das irdischste Leben, welches undurchsichtig
und erstickend wird. Es verweist nicht mehr auf den Himmel, sondern beherbergt
bei sich seine absolute Verwerfung, sein trügerisches Paradies. Das
Spektakel ist die technische Verwirklichung der Verbannung der menschlichen
Kräfte in ein Jenseits; die vollendete Entzweiung im Innern des Menschen.
- Je nachdem wie die Notwendigkeit gesellschaftlich geträumt
wird, wird der Traum notwendig. Das Spektakel ist der schlechte Traum der
gefesselten, modernen Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch
zu schlafen ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes.
- Die Tatsache, daß die praktische Macht der modernen
Gesellschaft sich von selbst abgehoben und sich ein selbständiges
Reich im Spektakel fixiert hat, ist nur aus dieser anderen Tatsache, daß
diese mächtige Praxis immer noch selbstzerrissen und sichselbstwidersprechend
geblieben war, zu erklären.
- Die älteste gesellschaftliche Spezialisierung ist
es, die Spezialisierung der Gewalt, die an der Wurzel des Spektakels liegt.
Das Spektakel ist somit eine spezialisierte Tätigkeit, die für
die Gesamtheit der anderen Tätigkeiten spricht. Es ist die diplomatische
Repräsentation der hierarchischen Gesellschaft vor sich selbst, wo
jedes andere Wort verbannt ist. Hier ist das Modernste auch das Archaischste.
- Das Spektakel ist die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige
Ordnung über sich selbst hält, ihr lobender Monolog. Es ist das
Selbstportrait der Macht in der Epoche ihrer totalitären Verwaltung
der Existenzberechtigungen. Der fetischistische Schein reiner Objektivität
in den spektakulären Beziehungen verbirgt deren Charakter als Beziehung
zwischen Menschen und zwischen Klassen: eine zweite Natur scheint unsere
Umwelt mit ihren unvermeidlichen Gesetzen zu beherrschen. Aber das Spektakel
ist nicht dieses notwendige Produkt der als eine natürliche Entwicklung
betrachteten technischen Entwicklung. Die Gesellschaft des Spektakels ist
im Gegenteil die Form, die ihren eigenen technischen Inhalt wählt.
Wenn das Spektakel, - unter dem engeren Gesichtspunkt der "Massenkommunikationsmittel"
genommen, die seine erdrückendste Oberflächenerscheinung sind -,
als einfache Instrumentierung auf die Gesellschaft überzugreifen scheinen
kann, so ist diese Instrumentierung in Wirklichkeit nichts Neutrales, sondern
genau die Instrumentierung, die seiner ganzen Selbstbewegung entspricht.
Wenn die gesellschaftlichen Bedürfnisse der Epoche, in der sich solche
Techniken entwickeln, nur durch die Vermittlung dieser Techniken befriedigt
werden können, wenn die Verwaltung dieser Gesellschaft sowie jeder
Kontakt zwischen den Menschen nur mittels dieser Macht augenblicklicher
Kommunikation stattfinden können, ist dafür der Grund, daß
diese "Kommunikation" wesentlich einseitig ist; folglich
läuft ihre Konzentrierung darauf hinaus, in den Händen der Verwaltung
des bestehenden Systems die Mittel anzuhäufen, die es ihm erlauben,
diese bestimmte Verwaltung fortzuführen. Die verallgemeinerte Entzweiung
des Spektakels ist untrennbar vom modernen Staat, - d.h. von
der allgemeinen Form der Entzweiung in der Gesellschaft -, dem Produkt
der Teilung der gesellschaftlichen Arbeit und dem Werkzeug der Klassenherrschaft.
- Die Trennung ist das Alpha und Omega des Spektakels.
Die Institutionalisierung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit und
die Herausbildung der Klassen hatten eine erste heilige Kontemplation gebaut,
die mythische Ordnung, mit der sich jede Macht schon von Urbeginn an umhüllt.
Das Heilige hat die kosmische und ontologische Anordnung gerechtfertigt,
die den Interessen der Herren entsprach und es hat das erklärt und
beschönigt, was die Gesellschaft nicht tun konnte. Also war
jede getrennte Macht spektakulär, aber die Zustimmung aller zu einem
solchen feststehenden Bild bedeutete nur die gemeinsame Anerkennung einer
imaginären Verlängerung für die Armut der wirklichen gesellschaftlichen
Tätigkeit, die noch sehr viel als einheitliche Bedingung empfunden
wurde. Im Gegenteil drückt das moderne Spektakel das aus, was die
Gesellschaft tun kann, aber in dieser Äußerung stellt
sich das Erlaubte absolut dem Möglichen entgegen. Das
Spektakel ist die Erhaltung der Bewußtlosigkeit in der praktischen
Veränderung der Existenzbedingungen. Das Spektakel ist sein eigenes
Produkt, es selbst ist es, das seine Regeln aufgestellt hat: es ist ein
Pseudo-Heiliges. Es zeigt was es ist: die getrennte Macht, welche -
bei dem Produktivitätswachstum durch die unaufhörliche Verfeinerung
der Teilung der Arbeit zur Zerstückelung der zugleich von der unabhängigen
Maschinenbewegung beherrschten Gesten - sich in sich selbst entwickelt
und für einen stets weiteren Markt arbeitet. Jedes Gemeinwesen und
jeder kritische Sinn haben sich während dieser ganzen Bewegung aufgelöst,
in der sich die Kräfte, die bei ihrer Trennung wachsen konnten, noch
nicht wiedergefunden haben.
- Bei der verallgemeinerten Trennung des Arbeiters von
seinem Produkt geht jeder einheitliche Überblick über die ausgeführte
Tätigkeit, jede persönliche, direkte Mitteilung zwischen den
Produzenten verloren. Im Laufe des Fortschritts der Akkumulation der getrennten
Produkte und der Konzentration des Produktionsprozesses werden die Einheit
und die Mitteilung zum ausschließenden Attribut der Systemleitung.
Das Gelingen des wirtschaftlichen Systems der Trennung ist die Proletarisierung
der Welt.
- Am Pol der Entwicklung des Systems verschiebt sich durch
das Gelingen selbst der getrennten Produktion als Produktion des Getrennten
die Grunderfahrung, die in den Urgesellschaften mit einer hauptsächlichen
Arbeit verbunden war, zur Nichtarbeit und zur Untätigkeit. Doch diese
Untätigkeit ist keineswegs von der Produktionstätigkeit befreit:
sie hängt von ihr ab, sie ist unruhige und bewundernde Unterwerfung
unter die Erfordernisse und Ergebnisse der Produktion; sie ist selbst ein
Produkt von deren Rationalität. Außerhalb der Tätigkeit
kann es keine Freiheit geben, und im Rahmen des Spektakels wird jede Tätigkeit
verneint, genauso wie die wirkliche Tätigkeit vollständig für
den Gesamtaufbau dieses Ergebnisses aufgefangen worden ist. Daher ist die
heutige "Befreiung von der Arbeit", die Ausdehnung der Freizeit,
keineswegs Befreiung in der Arbeit oder Befreiung einer durch diese Arbeit
geformten Welt. Nichts von der in der Arbeit gestohlenen Tätigkeit
kann sich in der Unterwerfung unter ihr Ergebnis wiederfinden.
- Das auf die Vereinzelung gegründete Wirtschaftssystem
ist eine zirkuläre Produktion der Vereinzelung. Die Vereinzelung
begründet die Technik und der technische Prozeß vereinzelt rückwirkend.
Alle durch das spektakuläre System ausgewählten Güter,
vom Auto bis zum Fernsehen sind auch seine Waffen, um beständig die
Vereinzelungsbedingungen der "einsamen Massen" zu verstärken.
Das Spektakel findet immer konkreter seine eigenen Voraussetzungen wieder.
- Der Ursprung des Spektakels ist der Verlust der Einheit
der Welt, und die riesengroße Ausbreitung des modernen Spektakels
drückt die Vollständigkeit dieses Verlustes aus: die Abstraktion
jeder besonderen Arbeit und die allgemeine Abstraktion der Gesamtproduktion
äußern sich vollkommen im Spektakel, dessen konkrete Seinsweise
gerade die Abstraktion ist. Im Spektakel stellt sich ein Teil
der Welt vor der Welt dar, und ist über sie erhaben. Das Spektakel
ist nur die gemeinschaftliche Sprache dieser Trennung. Was die Zuschauer
miteinander verbindet, ist nur ein irreversibles Verhältnis zum Zentrum
selbst, das ihre Vereinzelung aufrechterhält. Das Spektakel vereinigt
das Getrennte, aber nur als Getrenntes.
- Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten
Objekts (das das Ergebnis seiner eigenen bewußtlosen Tätigkeit
ist) drückt sich so aus: je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er;
je mehr er sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen
akzeptiert, um so weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene
Begierde. Die Äußerlichkeit des Spektakels im Verhältnis
zum tätigen Menschen erscheint darin, daß seine eigenen Gesten
nicht mehr ihm gehören, sondern einem anderen, der sie ihm vorführt.
Der Zuschauer fühlt sich daher nirgends zu Hause, denn das Spektakel
ist überall.
- Der Arbeiter produziert nicht sich selbst, sondern eine
unabhängige Macht. Der Erfolg dieser Produktion, ihr Überfluß,
kehrt zum Produzenten als Überfluß der Enteignung zurück.
Die ganze Zeit und der ganze Raum seiner Welt werden ihm bei der Akkumulation
seiner entfremdeten Produkte fremd. Das Spektakel ist die Landkarte
dieser neuen Welt, eine Landkarte, die genau ihr Territorium deckt. Eben
die Kräfte, die uns entgangen sind, zeigen sich uns in ihrer
ganzen Macht.
- Das Spektakel in der Gesellschaft entspricht einer konkreten
Herstellung der Entfremdung. Die wirtschaftliche Expansion ist hauptsächlich
die Expansion dieser bestimmten industriellen Produktion. Was mit der sich
für sich selbst bewegenden Wirtschaft anwächst, kann nur die
Entfremdung sein, die gerade in ihrem ursprünglichen Kern enthalten
war.
- Der von seinem Produkt getrennte Mensch produziert immer
machtvoller alle Einzelheiten seiner Welt und findet dadurch immer mehr
von seiner Welt getrennt. Je mehr sein Leben jetzt sein Produkt ist, um
so mehr ist er von seinem Leben getrennt.
- Das Spektakel ist das Kapital, das einen solchen
Akkumulationsgrad erreicht, daß es zum Bild wird.
2. Kapitel
DIE WARE ALS SPEKTAKEL
"Denn nur als Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen
Seins ist die Ware in ihrer unverfälschten Wesensart begreifbar. Erst
in diesem Zusammenhang gewinnt die durch das Warenverhältnis entstandene
Verdinglichung eine entscheidende Bedeutung sowohl für die objektive
Entwicklung der Gesellschaft wie für das Verhalten der Menschen zu
ihr; für das Unterworfenwerden ihres Bewußtseins den Formen,
in denen sich diese Verdinglichung ausdrückt …. Diese Willenlosigkeit
steigert sich noch dadurch, daß mit zunehmender Rationalisierung
und Mechanisierung des Arbeitsprozesses die Tätigkeit des Arbeiters
immer stärker ihren Tätigkeitscharakter verliert und zu einer
kontemplativen Haltung wird."
Lukacs (Geschichte und Klassenbewußtsein).
- An dieser wesentlichen Bewegung des
Spektakels, die darin besteht, alles in sich aufzunehmen, was in der menschlichen
Tätigkeit in flüssigem Zustand war, um es in geronnenem
Zustand als Dinge zu besitzen, die durch die negative Umformulierung
des erlebten Wertes zum ausschließlichen Wert geworden sind -
erkennen wir unsere alte Feindin wieder, die so leicht auf den ersten Blick
ein selbstverständliches, triviales Ding scheint, während sie
doch im Gegenteil ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit:
die Ware.
- Das Prinzip des Warenfetischismus ist es, d.h. die Beherrschung
der Gesellschaft durch "sinnliche übersinnliche Dinge",
das sich absolut im Spektakel vollendet, wo die sinnliche Welt durch eine
über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird, welche sich
zugleich als das Sinnliche schlechthin hat anerkennen lassen.
- Die zugleich anwesende und abwesende Welt, die das Spektakel
zur Schau stellt, ist die jedes Erlebnis beherrschende Warenwelt.
Und die Warenwelt wird auf diese Weise gezeigt genau wie sie ist,
denn ihre Bewegung ist identisch mit der Entfernung der Menschen
voneinander und ihrem Gesamtprodukt gegenüber.
- Der auf allen Ebenen der spektakulären Sprache so
offensichtliche Qualitätsverlust der von ihr gepriesenen Gegenstände
und der von ihr geregelten Verhaltensweisen drückt nur die Grundmerkmale
der wirklichen Produktion aus, die die Wirklichkeit beseitigt: die Warenform
ist durch und durch die Mitsichselbstgleichheit, die Kategorie des Quantitativen.
Das Quantitative ist es, das sie entwickelt, und in ihm nur kann sie sich
entwickeln.
- Diese Entwicklung, die das Qualitative ausschließt,
untersteht selbst als Entwicklung dem qualitativen Übergang: das Spektakel
bedeutet, daß sie die Schwelle ihres eigenen Überflusses
überschritten hat; dies ist lokal erst auf einigen Punkten wahr,
dennoch trifft es bereits im Weltmaßstabe zu, der der Urmaßstab
ist, und ihre praktische Bewegung hat diesen Maßstab bestätigt,
indem sie die ganze Erde als Weltmarkt umfaßt.
- Die Entwicklung der Produktivkräfte war die bewußtlose
wirkliche Geschichte, die die Existenzbedingungen der Menschengruppen
als Überlebensbedingungen und als deren Erweiterung aufgebaut und
verändert hat; die ökonomische Basis all ihrer Unternehmungen.
Innerhalb einer Naturalwirtschaft bestand der Bereich der Ware in der Schaffung
eines Überschusses an Überleben. Die Warenproduktion, die den
Austausch verschiedenartiger Produkte zwischen unabhängigen Produzenten
voraussetzt, konnte lange handwerkmäßig, in einer wirtschaftlichen
Randfunktion beschränkt bleiben, worin ihre quantitative Wahrheit
noch verdeckt ist. Da jedoch, wo sie die gesellschaftlichen Bedingungen
des Großhandels und der Kapitalakkumulation antraf, bemächtigte
sie sich der gesamten Wirtschaft. Die ganze Wirtschaft ist also zu dem
geworden, als was sich die Ware bei dieser Eroberung erwiesen hatte: zu
einem Prozeß quantitativer Entwicklung. Diese unaufhörliche
Entfaltung der wirtschaftlichen Macht in der Form der Ware, die die menschliche
Arbeit zur Ware Arbeit, zur Lohnarbeit, umgebildet hat, führte
kumulativ zu einem Überfluß, in dem die Grundfrage des Überlebens
zweifelsohne gelöst wird, aber so daß sie immer wiederkehren
muß; sie wird jedesmal wieder auf einer höheren Stufe gestellt.
Das Wirtschaftswachstum befreit die Gesellschaften vom natürlichen
Druck, der ihren unmittelbaren Überlebenskampf erforderte, nun aber
sind sie von ihrem Befreier nicht befreit. Die Unabhängigkeit der
Ware hat sich auf das Ganze der von ihr beherrschten Wirtschaft ausgedehnt.
Die Wirtschaft verwandelt die Welt, aber nur in eine Welt der Wirtschaft.
Die Pseudonatur, in der sich die menschliche Arbeit entfremdet hat, erfordert,
daß ihr Dienst endlos fortgesetzt wird, und da dieser Dienst
nur von sich selbst beurteilt und freigesprochen wird, erlangt er in der
Tat die Gesamtheit der gesellschaftlich zulässigen Bemühungen
und Vorhaben als seine Diener. Der Überfluß der Waren, d.h.
des Warenverhältnisses, kann nicht mehr als das vermehrte Überleben
sein.
- Die Ware hat ihre Herrschaft über die Wirtschaft
zuerst verdeckt ausgeübt, und diese Wirtschaft selbst blieb als materielle
Grundlage des gesellschaftlichen Lebens unbemerkt und unbegriffen, so wie
das Bekannte überhaupt darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt ist.
In einer Gesellschaft, in der die konkrete Ware selten oder in der Minderheit
bleibt, stellt sich die scheinbare Herrschaft des Geldes als der mit unumschränkter
Vollmacht versehene Gesandte dar, der im Namen einer unbekannten Macht
spricht. Mit dem Eintreten der industriellen Revolution, der manufakturmäßigen
Teilung der Arbeit und der massenhaften Produktion für den Weltmarkt
erscheint die Ware tatsächlich als eine Macht, die das gesellschaftliche
Leben wirklich in Beschlag nimmt. Zu dieser Zeit bildet sich die
politische Ökonomie als herrschende Wissenschaft und als Wissenschaft
der Herrschaft heraus.
- Das Spektakel ist der Moment, in welchem die Ware zur
völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens gelangt
ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar; sondern man sieht
nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt. Die moderne
Wirtschaftsproduktion dehnt ihre Diktatur extensiv aus. An den am wenigsten
industrialisierten Orten ist ihr Reich schon durch einige Star-Waren und
als imperialistische Herrschaft der an der Spitze der Produktivitätsentwicklung
stehenden Zonen vorhanden. In diesen fortgeschrittenen Zonen wird der gesellschaftliche
Raum durch eine ununterbrochene Übereinanderlagerung geologischer
Warenschichten überschwemmt. An diesem Punkt der "zweiten industriellen
Revolution" wird neben der entfremdeten Produktion der entfremdete
Konsum zu einer zusätzlichen Pflicht für die Massen. Die ganze
verkaufte Arbeit einer Gesellschaft wird völlig zur Gesamtware,
deren Kreislauf sich fortsetzen muß. Dazu muß diese Gesamtware
dem fragmentarischen Individuum, das von den als ein Ganzes wirkenden Produktivkräften
absolut getrennt ist, fragmentarisch zurückkehren. Hier muß
sich gerade die spezialisierte Wissenschaft der Herrschaft ihrerseits spezialisieren:
sie zerbröckelt in Soziologie Psychotechnik, Kybernetik, Semiologie
usw., und wacht über die Selbstregulierung aller Stufen des Prozesses.
- Während in der ursprünglichen Phase der kapitalistischen
Akkumulation "die Nationalökonomie den Proletarier nur
als Arbeiter betrachtet", der das zur Erhaltung seiner Arbeitskraft
unentbehrliche Minimum bekommen muß, ohne ihn jemals "in seiner
arbeitslosen Zeit, als Mensch" zu betrachten, kehrt sich diese Denkweise
der herrschenden Klasse um, sobald der in der Warenproduktion erreichte
Überflußgrad vom Arbeiter einen Überschuß von Kollaboration
erfordert. Dieser Arbeiter, von der vollständigen Verachtung plötzlich
reingewaschen, die ihm durch alle Organisations- und Überwachungsbedingungen
der Produktion deutlich gezeigt wird, findet sich jeden Tag außerhalb
dieser Produktion, in der Verkleidung des Konsumenten, mit überaus
zuvorkommender Höflichkeit scheinbar wie ein Erwachsener behandelt.
Da nimmt der Humanismus der Ware den Arbeiter "in seiner arbeitslosen
Zeit und als Mensch" in die Hand ganz einfach deswegen, weil die politische
Ökonomie diese Sphären beherrschen kann und muß. So
hat "die konsequente Durchführung der Verleugnung des Menschen"
die Ganzheit der menschlichen Existenz in die Hand genommen.
- Das Spektakel ist ein ständiger Opiumkrieg, um die
Identifizierung der Güter mit den Waren und auch die der Zufriedenheit
mit dem sich nach seinen eigenen Gesetzen vermehrenden Überleben aufzuzwingen.
Wenn aber das konsumierbare Überleben etwas ist, das sich ständig
vermehren muß, so deshalb, weil es die Entbehrung immer noch
enthält. Wenn es kein Jenseits des vermehrten Überlebens
gibt, keinen Punkt, an dem dieses Überleben sein Wachstum beenden
könnte, so deshalb, weil es selbst nicht jenseits der Entbehrung liegt,
sondern die reicher gewordene Entbehrung ist.
- Mit der Automation, die der fortgeschrittenste Bereich
der modernen Industrie und zugleich das Modell ist, in dem sich deren Praxis
vollkommen zusammenfaßt, muß die Warenwelt den folgenden Widerspruch
überwinden: die technische Instrumentierung, die objektiv die Arbeit
abschafft, muß gleichzeitig die Arbeit als Ware und als einzigen
Geburtsort der Ware erhalten. Damit die Automation oder jede andere weniger
extreme Form der Produktivitätssteigerung der Arbeit, die gesellschaftlich
notwendige Arbeitszeit wirklich nicht verkürzt, müssen neue Arbeitsplätze
geschaffen werden. Der Tertiärsektor, die Dienstleistungen sind das
ungeheure Ausdehnungsfeld für die Etappenlinien der Distributions-
und Lobpreisungsarmee der heutigen Waren; gerade in der Künstlichkeit
der Bedürfnisse nach solchen Waren findet diese Mobilisierung von
Ergänzungskräften glücklich die Notwendigkeit einer solchen
Organisation der Nachhut-Arbeit vor.
- Der Tauschwert konnte sich nur als Agent des Gebrauchswerts
bilden, aber sein durch seine eigenen Waffen errungener Sieg hat die Bedingungen
seiner autonomen Herrschaft geschaffen. Durch die Mobilisierung jedes menschlichen
Gebrauchs und die Ergreifung des Monopols von dessen Befriedigung ist der
Tauschwert endlich dazu gekommen, den Gebrauch zu steuern. Der Tauschprozeß
hat sich mit jedem möglichen Gebrauch identifiziert und hat ihn auf
seine Gnade und Ungnade unterjocht. Der Tauschwert ist der Kondottiere
des Gebrauchswertes, der endlich den Krieg für seine eigene Tasche
führt.
- Jene Konstante der kapitalistischen Wirtschaft, die in
dem tendenziellen Fall des Gebrauchswerts besteht, entwickelt eine
neue Form der Entbehrung innerhalb des vermehrten Überlebens; dieses
ist ebensowenig von der alten Not befreit, da es die Mitwirkung der großen
Mehrheit der Menschen als Lohnarbeiter zur endlosen Fortsetzung seines
Strebens fordert und da jeder weiß, daß er sich entweder unterwerfen
oder sterben muß. Die Wirklichkeit dieser Erpressung, d.h. die Tatsache,
daß der Gebrauch in seiner ärmsten Form (Essen, Wohnen) nur
noch besteht, soweit er im Scheinreichtum des vermehrten Überlebens
eingeschlossen bleibt, ist die wirkliche Grundlage dafür, daß
die Täuschung überhaupt beim Konsum der modernen Waren hingenommen
wird. Der wirkliche Konsument wird zu einem Konsumenten von Illusionen;
Die Ware ist diese wirkliche Illusion und das Spektakel ihre allgemeine
Äußerung.
- Der Gebrauchswert, der im Tauschwert implizit mit inbegriffen
war, muß jetzt in der verkehrten Realität des Spektakels explizit
verkündet werden, und zwar gerade weil seine Wirklichkeit durch die
überentwickelte Warenwirtschaft zersetzt wird und weil eine Pseudorechtfertigung
zum falschen Leben nötig wird.
- Das Spektakel ist die andere Seite des Geldes: das abstrakte
allgemeine Äquivalent aller Waren. Wenn aber das Geld als Vertretung
der zentralen Äquivalenz, d.h. als Vertretung der vielfältigen
Güter -- deren Gebrauch unvergleichbar blieb -- die Gesellschaft
beherrscht hat, ist das Spektakel seine moderne, entwickelte Ergänzung,
in der die Totalität der Warenwelt als allgemeine Äquivalenz
mit all dem, was die Gesamtheit der Gesellschaft sein und tun kann, im
ganzen erscheint: Das Spektakel ist das Geld, das man nur anblickt,
denn das Ganze des Gebrauchs hat sich in ihm schon gegen das Ganze der
abstrakten Vorstellung ausgetauscht. Das Spektakel ist nicht nur der Diener
des Pseudogebrauchs, es ist bereits in sich selbst der Pseudogebrauch
des Lebens.
- Beim wirtschaftlichen Überfluß wird
das konzentrierte Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeit augenscheinlich
und unterwirft jede Realität dem Schein, der nun sein Produkt ist.
Das Kapital ist nicht mehr das unsichtbare Zentrum, das die Produktionsweise
leitet: seine Akkumulation breitet es in der Form von sinnlichen Gegenständen
bis an die Peripherie aus. Die ganze Ausdehnung der Gesellschaft ist sein
Porträt.
- Der Sieg der autonomen Wirtschaft muß zugleich
ihr Untergang sein. Die Kräfte, die sie entfesselt hat, beseitigen
die wirtschaftliche Notwendigkeit, die die unwandelbare Grundlage
der alten Gesellschaften war. Wenn diese autonome Wirtschaft durch die
Notwendigkeit der endlosen wirtschaftlichen Entwicklung die wirtschaftliche
Notwendigkeit ersetzt, kann sie nur die Befriedigung der summarisch anerkannten
ersten menschlichen Bedürfnisse durch eine ununterbrochene Erzeugung
von Pseudobedürfnissen ersetzen, die sich auf das einzige Pseudobedürfnis
der Aufrechterhaltung ihres Reichs zurückführen lassen. Die autonome
Wirtschaft aber hebt sich für immer vom tiefen Bedürfnis im gleichen
Maße ab, wie sie aus dem gesellschaftlichen Unbewußten heraustritt,
das von ihr abhing, ohne es zu wissen. "Alles, was bewußt ist,
nutzt sich ab. Was unbewußt ist, bleibt unveränderlich. Aber
wenn es einmal befreit ist, zerfällt es dann nicht seinerseits?"
(Freud.)
- In dem Moment, in dem die Gesellschaft entdeckt, daß
sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich
von ihr ab. Diese unterirdische Macht, die bis zu ihrem souveränen
Erscheinen wuchs, hat auch ihre Macht verloren. Wo das wirtschaftliche
Es war, muß das Ich werden. Das Subjekt kann nur aus
der Gesellschaft, d.h. aus dem Kampf, der in ihr selbst ist, hervorgehen.
Seine mögliche Existenz hängt von den Ergebnissen des Klassenkampfs
ab, der sich als Produkt und Produzent der wissenschaftlichen Grundlegung
der Geschichte offenbart.
- Das Bewußtsein der Begierde und die Begierde des
Bewußtseins sind identisch derjenige Entwurf, der in seiner negativen
Form die Aufhebung der Klassen will, d.h. die unmittelbare Herrschaft der
Arbeiter über alle Momente ihrer Tätigkeit. Sein Gegenteil
ist die Gesellschaft des Spektakels, in der die Ware sich selbst in
einer von ihr geschaffenen Welt anschaut.
3. Kapitel
EINHEIT UND TEILUNG IM SCHEIN
"An der Front der Philosophie durchzieht eine neue
lebhafte Polemik das Land über die Begriffe "eins teilt sich
in zwei" und "zwei vereinigen sich zu einem". Dieser Streit
ist ein Kampf zwischen denjenigen, die für, und denjenigen, die gegen
die materialistische Dialektik sind, ein Kampf zwischen zwei Weltanschauungen,
der proletarischen und der bürgerlichen. Diejenigen, die die Meinung
verfechten, daß "sich eins in zwei teilt" das grundlegende
Gesetz der Dinge ist, stehen auf der Seite der materialistischen Dialektik;
diejenigen, die die Meinung verfechten, daß "sich zwei zu einem
vereinigen", sind Gegner der materialistischen Dialektik. Die beiden
Seiten haben eine klare Demarkationslinie zwischen einander gezogen, und
ihre Argumente sind diametral entgegengesetzt. Diese Polemik spiegelt auf
der ideologischen Ebene den zugespitzten und komplexen Klassenkampf wider,
der sich in China und in der Welt abspielt."
Die Rote Fahne - Peking, 21. September 1964
- Wie die moderne Gesellschaft ist das
Spektakel zugleich geeint und geteilt. Wie sie baut es seine Einheit auf
die Zerrissenheit auf. Aber wenn der Widerspruch im Spektakel auftaucht,
wird ihm seinerseits durch eine Umkehrung seines Sinnes widersprochen;
so daß die aufgezeigte Teilung einheitlich ist, während die
aufgezeigte Einheit geteilt ist.
- Der Kampf von Gewalten, die zur Verwaltung desselben
sozialökonomischen Systems entstanden sind, entfaltet sich als der
offizielle Widerspruch, der in Wirklichkeit zur tatsächlichen Einheit
gehört; das gilt ebenso im Weltmaßstabe wie innerhalb jeder
Nation.
- Die falschen, spektakulären Kämpfe zwischen
den rivalisierenden Formen der getrennten Gewalt sind zugleich real, indem
sie die ungleiche, konfliktorische Entwicklung des Systems äußern,
und auch die relativ widersprüchlichen Interessen der Klassen oder
Klassenunterabteilungen, die das System anerkennen und ihre eigene Teilnahme
an seiner Gewalt definieren. Wie die Entwicklung der fortgeschrittenen
Wirtschaft im Zusammenstoß bestimmter Prioritäten mit anderen
besteht, so werden die durch eine Staatsbürokratie ausgeübte
totalitäre Verwaltung der Wirtschaft und der Zustand der Länder,
welche sich in die Sphäre der Kolonisation oder Halbkolonisation gestellt
fanden, durch beträchtliche Besonderheiten in den Produktions- und
Machtbedingungen definiert. Diese verschiedenen Gegensätze können
sich im Spektakel mit ganz unterschiedlichen Kriterien gemessen, als absolut
verschiedenartige Gesellschaftsformen geben. Aber ihrer Wirklichkeit als
besonderen Bereichen gemäß, liegt die Wahrheit ihrer Besonderheit
im allgemeinen System, das sie enthält: in der einzigen Bewegung,
die den ganzen Planeten zu ihrem Spielraum gemacht hat, d.h. im Kapitalismus.
- Die Gesellschaft, die das Spektakel unterhält, beherrscht
die unterentwickelten Gebiete nicht allein durch ihre wirtschaftliche Hegemonie.
Sie beherrscht sie auch als Gesellschaft des Spektakels. Dort, wo
die materielle Grundlage noch fehlt, hat die moderne Gesellschaft bereits
spektakulär auf die gesellschaftliche Oberfläche jedes Kontinents
übergegriffen. Sie definiert das Programm einer herrschenden Klasse
und leitet deren Herausbildung. Wie sie die zu begehrenden Pseudogüter
zeigt, so bietet sie den lokalen Revolutionären die falschen Vorbilder
von Revolutionen dar. Das besondere Spektakel der bürokratischen Gewalt,
die einige industrielle Länder unter ihrer Macht hält, gehört
eben zum Gesamtspektakel, als seine allgemeine Pseudo-Negation und seine
Stütze. Wenn das Spektakel, in seinen verschiedenen Lokalisierungen
betrachtet, totalitäre Spezialisierungen der gesellschaftlichen Sprache
und Verwaltung an den Tag legt, so verschmelzen diese auf der Ebene der
Gesamtfunktion des Systems zu einer weltweiten Teilung der Aufgaben
im Spektakel.
- Die Teilung der Aufgaben im Spektakel, die die Allgemeinheit
der bestehenden Ordnung erhält, erhält hauptsächlich den
beherrschenden Pol ihrer Entwicklung. Die Wurzel des Spektakels liegt im
Boden der zum Überfluß gewordenen Wirtschaft, und von dort kommen
die Früchte her, die schließlich nach der Herrschaft über
den spektakulären Markt trachten, und dies trotz der polizeilich-ideologischen
Schutzzollschranken irgendeines lokalen Spektakels, das Autarkie beansprucht.
- Die Banalisierungsbewegung, die hinter den schillernden
Ablenkungen des Spektakels die moderne Gesellschaft weltweit beherrscht,
beherrscht sie auch auf jedem der Punkte, wo der entwickelte Warenkonsum
die zur Auswahl stehenden Rollen und Gegenstände scheinbar vervielfacht
hat. Die Überreste von Religion und Familie - die die Hauptform
des Erbes der Klassengewalt bleibt -, und folglich der von ihnen ausgeübten
moralischen Repression, können als ein und dasselbe mit der weitschweifigen
Behauptung des Genusses dieser Welt kombiniert werden; während
diese Welt gerade nur als Pseudogenuß produziert wird, der die Repression
in sich bewahrt. Mit der seligen Hinnahme des Bestehenden kann auch die
rein spektakuläre Empörung als ein und dasselbe verbunden werden:
dies äußert die einfache Tatsache, daß die Unzufriedenheit
selbst zu einer Ware geworden ist, sobald der wirtschaftliche Überfluß
fähig wurde, seine Produktion bis auf die Bearbeitung eines solchen
Rohstoffes auszudehnen.
- Indem er das Bild einer möglichen Rolle in sich
konzentriert, konzentriert der Star - d.h. die spektakuläre Vorstellung
des lebendigen Menschen - diese Banalität. Der Stand eines Stars
ist die Spezialisierung des scheinbaren Erlebten, ist das Objekt
der Identifizierung mit dem untiefen, scheinbaren Leben, welches die Zerstückelung
der wirklich erlebten Produktionsspezialisierungen aufwiegen soll. Die
Stars sind da, um verschiedenerlei Typen von Lebensstilen und Gesellschaftsauffassungen
darzustellen, denen es global zu wirken freisteht. Sie verkörpern
das unzulängliche Resultat der gesellschaftlichen Arbeit, indem
sie Nebenprodukte dieser Arbeit mimen, die als deren Zweck magisch über
sie erhoben werden: die Macht und die Ferien, die Entscheidung
und der Konsum, die am Anfang und am Ende eines unbestrittenen Prozesses
stehen. Dort personalisiert sich die Regierungsgewalt zu einem Pseudostar,
hier läßt sich der Star des Konsums als Pseudogewalt über
das Erleben durch Plebiszit akklamieren. Aber diese Aktivitäten des
Stars sind ebensowenig wirklich global wie verschiedenartig.
- Der als Star in Szene gesetzte Agent des Spektakels ist
das Gegenteil, der Feind des Individuums, an sich selbst ebenso offensichtlich
wie bei den anderen. Indem er als Identifikationsmodell ins Spektakel übergeht,
hat er auf jede autonome Eigenschaft verzichtet, um sich selbst mit dem
allgemeinen Gesetz des Gehorsams gegenüber dem Lauf der Dinge zu identifizieren.
Wenn er auch nach außen hin die Darstellung verschiedener Persönlichkeitstypen
ist, zeigt der Konsumstar jeden dieser Typen, als ob er gleichmäßig
zur Gesamtheit des Konsums gelangen und dabei gleicherweise sein Glück
finden könne. Der Star der Entscheidung muß den vollständigen
Bestand all dessen besitzen, was an menschlichen Eigenschaften zugelassen
wird. So werden die offiziellen Gegensätzlichkeiten zwischen ihnen
durch die offizielle Ähnlichkeit vernichtet, die die Voraussetzung
ihrer Vortrefflichkeit in allem ist. Chruschtschow ist General geworden,
um über die Schlacht von Kursk zu entscheiden, doch nicht auf dem
Felde, sondern am zwanzigsten Jahrestag, als er der Machthaber des Staates
war. Kennedy blieb ein Redner noch als er selbst seine Leichenrede an seinem
eigenen Grabe hielt, denn Theodore Sorensen redigierte zu dieser Zeit noch
für den Nachfolger die Reden in jenem Stil, der so viel dazu beitrug,
daß die bewundernswerten Leute, in denen sich das System personifiziert,
nicht das sind, was sie sind; sie sind große Männer geworden,
weil sie unter die Realität des bescheidensten, individuellen Lebens
herabgesunken sind, und jedermann weiß das.
- Die falsche Auswahl im spektakulären Überfluß,
die in der Nebeneinanderreihung von konkurrierenden und solidarischen Spektakeln
sowie in der Nebeneinanderstellung von einanderausschließenden und
ineinandergreifenden Rollen (die hauptsächlich von Gegenständen
getragen und ausgedrückt werden) besteht, entwickelt sich zu einem
Kampf zwischen gespenstischen Qualitäten, die die Zustimmung zur quantitativen
Trivialiät leidenschaftlich begeistern sollen. So erstehen falsche,
archaische Gegensätze, Regionalismen oder Rassismen wieder, die die
Vulgarität der hierarchischen Platzverteilung innerhalb des Konsums
zu einer phantastischen, ontologischen Überlegenheit verklären
sollen. So setzt sich die endlose Reihe der lächerlichen Zusammenstöße
wieder zusammen, die von den sportlichen Wettkämpfen bis zu den Wahlen
ein noch nicht einmal ludistisches Interesse mobilisieren. Dort, wo sich
der Konsum im Überfluß niedergelassen hat, nimmt ein hauptsächlicher
schauspielhafter Gegensatz zwischen der Jugend und den Erwachsenen den
Vordergrund des trügerischen Rollenspiels ein: denn nirgends gibt
es einen Erwachsenen, einen Herrn über sein Leben, und die Jugend,
die Änderung des Bestehenden, ist keineswegs das Eigentum derjenigen,
die jetzt jung sind, sondern sie gehört dem Wirtschaftssystem, dem
Dynamismus des Kapitalismus an. Dinge sind es, die herrschen und
jung sind, die einander verjagen und ersetzen.
- Hinter den spektakulären Gegensätzen verbirgt
sich die Einheit des Elends. Wenn verschiedene Formen derselben
Entfremdung einander unter den Masken der totalen Auswahl bekämpfen,
so deswegen, weil sie alle auf den verdrängten, wirklichen Widersprüchen
aufgebaut sind. Nach den Erfordernissen der besonderen Stufe des Elends,
das es verleugnet und aufrechterhält, existiert das Spektakel in einer
konzentrierten oder diffusen Form. In beiden Fällen
ist es nur ein von Trostlosigkeit und Grausen umgebenes Bild glücklicher
Vereinigung im stillen Zentrum des Unglücks.
- Das konzentrierte Spektakuläre gehört wesentlich
zum bürokratischen Kapitalismus, wenn es auch als Technik der Staatsgewalt
über rückständigere halbstaatliche Wirtschaften oder in
bestimmten Krisenzeiten des fortgeschrittenen Kapitalismus eingeführt
werden kann. Das bürokratische Eigentum ist tatsächlich selbst
konzentriert in dem Sinne, daß der einzelne Bürokrat lediglich
vermittels der bürokratischen Gemeinschaft, nur als deren Mitglied,
mit dem Besitz der Gesamtwirtschaft verbunden ist. Außerdem stellt
sich auch die hier weniger entwickelte Warenproduktion in einer konzentrierten
Form dar: die von der Bürokratie verwahrte Ware ist die ganze gesellschaftliche
Arbeit, und was sie der Gesellschaft wiederverkauft, ist deren Überleben
im ganzen. Die Diktatur der bürokratischen Wirtschaft kann den ausgebeuteten
Massen keine nennenswerte Wahlfreiheit lassen, denn sie hat alles selbst
wählen müssen und jede andere äußere Wahl, ob sie
nun die Ernährung oder die Musik betrifft, ist deshalb bereits die
Wahl ihrer vollständigen Zerstörung. Sie muß von einer
ständigen Gewaltsamkeit begleitet werden. Das in ihrem Spektakel aufgedrängte
Bild des Guten versammelt in sich die Gesamtheit des offiziell Bestehenden
und konzentriert sich normalerweise auf einen einzigen Menschen, der der
Garant seines totalitären Zusammenhaltes ist. Jedermann muß
sich entweder magisch mit diesem absoluten Star identifizieren oder verschwinden.
Denn dieser Star ist der Herr seines Nichtkonsums und das heroische Bild
einer annehmbaren Deutung für jene absolute Ausbeutung, worin die
vom Terror beschleunigte ursprüngliche Akkumulation in Wirklichkeit
besteht. Wenn jeder Chinese Mao lernen und folglich Mao sein muß,
so heißt das, daß er nichts anderes zu sein hat. Wo
das konzentrierte Spektakuläre herrscht, da herrscht auch die Polizei.
- Das diffuse Spektakuläre begleitet den Warenüberfluß,
d.h. die ungestörte Entwicklung des modernen Kapitalismus. In diesem
Fall ist jede einzelne Ware im Namen der Größe der Gesamtproduktion
der Gegenstände gerechtfertigt, deren Spektakel ein apologetischer
Katalog ist. Unvereinbare Behauptungen drängen sich auf der Bühne
des vereinigten Spektakels der Überflußwirtschaft, ebenso wie
verschiedene Star-Waren gleichzeitig ihre widersprüchlichen Einrichtungspläne
der Gesellschaft vortragen, in der das Spektakel der Kraftwagen einen vollkommenen
Verkehr verlangt, der die Altstädte zerstört, während das
Spektakel der Stadt selbst Museen-Viertel braucht. Daher wird die bereits
problematische Zufriedenheit, die angeblich dem Konsum der Gesamtheit
eignet, unmittelbar verfälscht, indem der wirkliche Konsument
direkt nur eine Aufeinanderfolge von Bruchstücken dieses Warenglücks
berühren kann, denen jedesmal die der Gesamtheit zugeschriebene Qualität
offensichtlich fehlt.
- Jede bestimmte Ware kämpft für sich selbst,
kann die anderen nicht anerkennen, will sich überall durchsetzen,
als ob sie die einzige wäre. Damit wird das Spektakel zum epischen
Gesang dieses Zusammenstoßes, den der Fall keines Ilion beenden könnte.
Das Spektakel besingt nicht die Männer und ihre Waffen, sondern die
Waren und ihre Leidenschaften. In diesem blinden Kampf vollbringt jede
Ware, indem sie sich von ihrer Leidenschaft hinreißen läßt,
bewußtlos ein Höheres: das weltlich-Werden der Ware, das ebenso
das zur-Ware-Werden der Welt ist. So kämpft sich, dank einer List
der Warenvernunft, das Besondere der Ware aneinander ab, während
die Warenform auf ihre absolute Verwirklichung zugeht.
- Die Befriedigung, die die Ware im Überfluß
durch den Gebrauch nicht mehr verschaffen kann, wird in der Anerkennung
ihres Wertes als Ware gesucht: dies ist der Gebrauch der Ware, der
sich selbst genügt; und dies ist für den Konsumenten der religiöse
Erguß vor der souveränen Freiheit der Ware. So breiten sich
mit großer Geschwindigkeit Begeisterungswellen für ein mit allen
Informationsmitteln gestütztes und angekurbeltes bestimmtes Produkt
aus. Ein Kleidungsstil entsteht aus einem Film, eine Zeitschrift lanciert
Klubs, die ihrerseits verschiedenen Ausrüstungen lancieren. Das "Gadget"
spricht diese Tatsache aus, daß im gleichen Augenblick, da die
Masse der Waren dem Irrsinn zugleitet, das Irrsinnige selbst zu einer besonderen
Ware wird. An den Werbeschlüsselringen z.B., die nicht mehr gekauft
werden, sondern als Zugabe bei dem Verkauf von Prestigegegenständen
geschenkt werden oder die durch Austausch aus ihrer eigenen Sphäre
herkommen, läßt sich die Äußerung einer mystischen
Selbsthingabe an die Transzendenz der Ware erkennen. Wer die Schlüsselringe
sammelt, die nur zum Sammeln erzeugt wurden, häuft die Ablaßbriefe
der Ware, ein ruhmreiches Zeichen ihrer wirklichen Gegenwart unter
ihren Getreuen. Der verdinglichte Mensch trägt den Beweis seiner Intimität
mit der Ware zur Schau. Wie bei dem krampfhaften Taumeln oder den Wunderheilungen
der Schwärmer des alten religiösen Fetischismus, gelangt auch
der Warenfetischismus zu Momenten schwärmerischer Erregung. Der einzige
Gebrauch, der sich hier noch äußert, ist der grundlegende Brauch
der Unterwerfung.
- Zweifellos läßt sich das im modernen Konsum
aufgezwungene Pseudobedürfnis keinem echten Bedürfnis oder Begehren
entgegensetzen, das nicht selbst durch die Gesellschaft und ihre Geschichte
geformt wäre. Aber die Ware im Überfluß existiert als der
absolute Bruch einer organischen Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürfnisse.
Ihre mechanische Akkumulation macht ein unbeschränktes Künstliches
frei, angesichts dessen die lebendige Begierde entwaffnet ist. Die
kumulative Macht eines unabhängigen Künstlichen zieht überall
die Verfälschung des gesellschaftlichen Lebens nach sich.
- Im Bild der glücklichen Vereinheitlichung der Gesellschaft
durch den Konsum ist die reale Teilung nur bis zum nächsten Nichterfüllen
im Konsumierbaren aufgeschoben. Jedes besondere Produkt, das die
Hoffnung auf eine blitzschnelle Abkürzung darstellen soll, um endlich
ins gelobte Land des totalen Konsums zu gelangen, wird der Reihe nach zeremoniös
als die entscheidende Einzelheit hingestellt. Aber wie im Falle der augenblicklichen
Verbreitung der Moden von scheinbar aristokratischen Vornamen, die von
fast allen gleichaltrigen Individuen getragen werden, so konnte der Gegenstand,
von dem eine besondere Gewalt erwartet wird, nur dadurch der Andacht der
Massen angeboten werden, daß er in einer hinreichend großen
Zahl von Exemplaren vervielfältigt wurde, um massenhaft konsumiert
zu werden. Der Prestigecharakter kommt diesem beliebigen Produkt nur dadurch
zu, daß es als offenbares Mysterium der Produktionsfinalität
für einen Moment ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gestellt
wurde. Der Gegenstand, der im Spektakel ein Prestige hatte, wird vulgär,
sobald er bei diesem Konsumenten und gleichzeitig bei allen anderen eintritt.
Zu spät bringt er seine wesentliche Armut ans Tageslicht, die er natürlich
vom Elend seiner Produktion her hat. Aber schon trägt ein anderer
Gegenstand die Rechtfertigung des Systems und die Forderung, anerkannt
zu werden.
- Der Betrug der Befriedigung muß sich selbst denunzieren,
indem er sich erneuert, indem er die Veränderung der Produkte und
der allgemeinen Produktionsbedingungen verfolgt. Was mit der vollkommensten
Unverschämtheit seine eigene endgültige Vortrefflichkeit behauptet
hat, ändert sich dennoch im diffusen Spektakel, aber auch im konzentrierten
Spektakel, und das System allein muß fortdauern: Stalin wie die veraltete
Ware werden von ebendenen denunziert, die sie eingeführt haben. Jede
neue Lüge der Werbung ist auch das Eingeständnis ihrer
vorigen Lüge. Jeder Sturz einer Gestalt der totalitären Gewalt
offenbart die illusorische Gemeinschaft, die sie einstimmig guthieß
und die nur ein Agglomerat von illusionslosen Einsamkeiten war.
- Was das Spektakel als dauernd präsentiert, ist auf
die Veränderung gegründet und muß sich mit seiner Basis
verändern. Das Spektakel ist absolut dogmatisch und zugleich ist es
ihm unmöglich, zu irgendeinem festen Dogma zu kommen. Für das
Spektakel hört nichts auf; dies ist sein natürlicher und dennoch
seiner Neigung entgegengesetztester Zustand.
- Die durch das Spektakel ausposaunte irreale Einheit ist
die Maske der Klassenteilung, auf der die reale Einheit der kapitalistischen
Produktionsweise beruht. Was die Produzenten verpflichtet, an dem Erbauen
der Welt teilzunehmen, ist auch das, was sie davon ausschließt. Was
die von ihren lokalen und nationalen Schranken befreiten Menschen in Beziehung
zueinander bringt, ist auch das, was sie voneinander entfernt. Was zur
Vertiefung des Rationellen verpflichtet, ist auch das, was das Irrationelle
der hierarchischen Ausbeutung und der Repression nährt. Was die abstrakte
Gewalt der Gesellschaft erzeugt, erzeugt auch ihre konkrete Unfreiheit.
4. Kapitel
DAS PROLETARIAT ALS SUBJEKT UND ALS REPRÄSENTATION
"Gleiches Recht aller auf die Güter und die
Genüsse dieser Welt, die Zerstörung jeder Autorität und
die Verneinung aller moralischen Schranken: das ist, wenn man der Sache
auf den Grund geht, der wesentliche Zweck des Aufstandes vom 18. März
und die Charta der gefürchteten Assoziation, die ihm eine Armee verschaffte."
Parlamentarische Untersuchung über den Aufstand des
18. März.
- Die wirkliche Bewegung, welche den
jetzigen Zustand aufhebt, regiert die Gesellschaft seit dem Sieg der Bourgeoisie
in der Wirtschaft, sichtbar aber erst seit der politischen Übertragung
dieses Sieges. Die Entwicklung der Produktivkräfte hat die alten Produktionsverhältnisse
gesprengt, und jede statistische Ordnung zerfällt zu Staub. Alles,
was absolut war, wird geschichtlich.
- Indem sie in die Geschichte geworfen sind, indem sie
an der Arbeit und an den Kämpfen, aus denen diese Geschichte besteht,
teilnehmen müssen, sind die Menschen gezwungen, ihre gegenseitigen
Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Diese Geschichte hat kein
anderes Objekt als das, was sie an sich selbst verwirklicht, obwohl die
letzte, bewußtlose, metaphysische Anschauung von der geschichtlichen
Epoche das produktive Fortschreiten, durch das sich die Geschichte entfaltet
hat, als eigentliches Objekt der Geschichte betrachten kann. Das Subjekt
der Geschichte kann nur das Lebende sein, das sich selbst produziert
und zum Herrn und Besitzer seiner Welt wird, - die die Geschichte
ist - und als Bewußtsein seines Spiels existiert.
- Als ein und dieselbe Strömung entwickeln sich die
Klassenkämpfe der langen revolutionären Epoche, die durch
den Aufstieg der Bourgeoisie eröffnet wurde, und das Denken der
Geschichte, d.h. die Dialektik, das Denken, das nicht mehr bei der
Suche nach dem Sinn des Seienden stehen bleibt, sondern sich zur Erkenntnis
der Auflösung alles Bestehenden erhebt, und in der Bewegung jede Trennung
auflöst.
- Hegel hatte nicht mehr die Welt zu interpretieren,
sondern die Veränderung der Welt. Indem er die Veränderung nur
interpretierte, ist er nur die philosophische Vollendung der
Philosophie. Er will eine Welt begreifen, die sich selbst erzeugt.
Dieses geschichtliche Denken ist nur erst das Bewußtsein, das immer
zu spät kommt und die Rechtfertigung post festum ausspricht.
Es hat die Trennung daher nur im Gedanken aufgehoben. Das Paradox,
das darin besteht, den Sinn jeder Realität von ihrer geschichtlichen
Vollendung abhängen zu lassen und zugleich, sich selbst als die Vollendung
der Geschichte hinstellend, diesen Sinn zu enthüllen, ergibt sich
aus der einfachen Tatsache, daß der Denker der bürgerlichen
Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts in seiner Philosophie nur die
Versöhnung mit deren Ergebnis gesucht hat." Sie drückt
auch als Philosophie der bürgerlichen Revolution nicht den ganzen
Prozeß dieser Revolution aus, sondern nur seinen letzten Abschluß.
Sie ist insofern eine Philosophie nicht der Revolution, sondern der Restauration."
(Karl Korsch, Thesen über Hegel und die Revolution.) Hegel
hat zum letzten Mal die Arbeit des Philosophen geleistet, "die Verklärung
des Bestehenden"; aber schon für ihn konnte das Bestehende nur
die Totalität der geschichtlichen Bewegung sein. Da die äußere
Stellung des Gedankens in der Tat aufrechterhalten wurde, konnte sie
nur durch ihre Identifizierung mit einem vorausgehenden Vorhaben des Geistes,
des absoluten Helden verhüllt werden, der vollbracht hat, was er wollte,
und wollte, was er vollbracht hat, und dessen Erfüllung mit der Gegenwart
zusammenfällt. Daher kann die Philosophie, die im Denken der Geschichte
stirbt, ihre Welt nur noch dadurch verklären, daß sie sie verleugnet,
denn um das Wort zu ergreifen, muß sie bereits das Ende dieser totalen
Geschichte, auf die sie alles zurückgeführt hat, und den Schluß
der Sitzung des einzigen Gerichts voraussetzen, das das Urteil der Wahrheit
fällen kann.
- Wenn das Proletariat durch seine eigene Existenz in Taten
offenbart, daß sich dieses Denken der Geschichte nicht vergessen
hat, ist das Dementi des Schlusses zugleich auch die Bestätigung
der Methode.
- Das Denken der Geschichte kann nur dadurch gerettet werden,
daß es praktisches Denken wird, und die Praxis des Proletariats als
revolutionäre Klasse kann nicht weniger sein als das geschichtliche
Bewußtsein, das auf die Totalität seiner Welt wirkt. Alle theoretischen
Strömungen der revolutionären Arbeiterbewegung sind aus
einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Denken hervorgegangen,
bei Marx ebenso wie bei Stirner und Bakunin.
- Die Untrennbarkeit der Hegelschen Methode von der Marxschen
Theorie ist selbst untrennbar von dem revolutionären Charakter dieser
Theorie, d.h. von ihrer Wahrheit. Hierin ist diese erste Beziehung allgemein
unbekannt geblieben oder mißverstanden oder sogar als die Schwäche
dessen angeprangert worden, was trügerisch zu einer marxistischen
Lehre wurde. In "Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabe
der Sozialdemokratie" enthüllt Bernstein vollkommen diese
Verbindung der dialektischen Methode mit der geschichtlichen Parteinahme,
wenn er die unwissenschaftlichen Voraussagen des Manifests von 1847
über das nahe Bevorstehen der proletarischen Revolution in Deutschland
beklagt: "Diese geschichtliche Selbsttäuschung, wie sie der erste
beste politische Schwärmer kaum überbieten konnte, würde
bei einem Marx, der schon damals ernsthaft Ökonomie getrieben hatte,
unbegreiflich sein, wenn man in ihr nicht das Produkt eines Restes Hegelscher
Widerspruchsdialektik zu erblicken hätte, das Marx - ebenso wie
Engels - sein Lebtag nicht völlig losgeworden ist, das aber damals
in einer Zeit allgemeiner Gärung, ihm um so verhängnisvoller
werden sollte."
- Die Umkehrung, die Marx zwecks einer "Hinüberrettung"
des Denkens der bürgerlichen Revolution vornimmt, besteht nicht trivialerweise
darin, durch die materialistische Entwicklung der Produktivkräfte
das Fortschreiten des Hegelschen Geistes zu ersetzen der sich selbst in
der Zeit entgegen geht, dessen Vergegenständlichung mit seiner Entäußerung
identisch ist und dessen geschichtliche Wunden keine Narben zurücklassen.
Die wirklich gewordene Geschichte hat kein Ende mehr. Marx hat die getrennte
Stellung Hegels angesichts dessen, was geschieht, und die Kontemplation
jedes äußeren, höchsten Agenten zugrunde gerichtet.
Die Theorie hat nur noch zu erkennen, was sie tut. Im Gegenteil ist die
Kontemplation der Wirtschaftsbewegung im herrschenden Denken der gegenwärtigen
Gesellschaft das nicht umgekehrte Erbe des undialektischen Teils
des Hegelschen Versuchs eines kreisförmigen Systems; sie ist eine
Billigung, die die Dimension des Begriffs verloren hat und die kein Hegelianertum
mehr braucht, um sich zu rechtfertigen, denn die Bewegung, die es zu loben
gilt, ist nur mehr ein gedankenloser Bereich der Welt, dessen mechanische
Entwicklung tatsächlich das Ganze beherrscht. Das Marxsche Projekt
ist das einer bewußten Geschichte. Das Quantitative, das in der blinden
Entwicklung der bloß wirtschaftlichen Produktivkräfte entsteht,
muß sich in eine qualitative geschichtliche Aneignung verwandeln.
Die Kritik der politischen Ökonomie ist der erste Akt dieses
Endes der Vorgeschichte. "Von allen Produktionsinstrumenten
ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse
selbst."
- Was die Marxsche Theorie eng mit dem wissenschaftlichen
Denken verbindet, ist das rationelle Begreifen der Kräfte, die in
der Gesellschaft walten. Aber sie ist grundlegend ein Jenseits des
wissenschaftlichen Denkens, in dem dieses nur als aufgehobenes aufbewahrt
wird: es geht um ein Begreifen des Kampfes und keineswegs des Gesetzes.
"Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte"
heißt es in der deutschen Ideologie.
- Die bürgerliche Epoche, die die Geschichte wissenschaftlich
begründen will, übersieht die Tatsache, daß diese verfügbare
Wissenschaft vielmehr mit der Ökonomie geschichtlich begründet
werden sollte. Umgekehrt hängt die Geschichte radikal von dieser Kenntnis
ab, aber nur insofern, als diese Geschichte Wirtschaftsgeschichte bleibt.
Wieweit im übrigen der Anteil der Geschichte an der Wirtschaft selbst -
der Gesamtprozeß, der seine eigenen wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen
verändert - von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen
verändert - von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Beobachtung
übersehen werden konnte, wird durch die Nichtigkeit der sozialistischen
Berechnungen gezeigt, die die exakte Periodizität der Krisen festgestellt
zu haben glaubten, und seitdem es der ständigen Intervention des Staates
gelungen ist, die Wirkung der Krisentendenzen zu kompensieren, sieht dieselbe
Art von Beweisführung in diesem Gleichgewicht eine endgültige
wirtschaftliche Harmonie. Das Projekt, die Wirtschaft zu überwinden,
von der Geschichte Besitz zu ergreifen, kann nicht selbst wissenschaftlich
sein, auch wenn es die Wissenschaft der Gesellschaft kennen (und zu
sich zurückführen) muß. In dieser letzten Bewegung, die
die gegenwärtige Geschichte durch eine wissenschaftliche Erkenntnis
zu beherrschen glaubt, ist der revolutionäre Standpunkt bürgerlich
geblieben.
- Obwohl sie selbst in der Kritik der bestehenden gesellschaftlichen
Organisation geschichtlich begründet sind, können die utopischen
Strömungen des Sozialismus mit Recht als utopisch angesprochen werden,
in dem Maße wie sie die Geschichte ablehnen - d.h. den stattfindenden
wirklichen Kampf, ebenso wie die Bewegung der Zeit jenseits der unbeweglichen
Vollkommenheit ihres Bildes von einer glücklichen Gesellschaft -,
nicht jedoch, weil sie die Wissenschaft ablehnen. Die utopischen Denker
sind im Gegenteil ganz und gar vom wissenschaftlichen Denken beherrscht,
wie es sich in den vorigen Jahrhunderten durchgesetzt hatte. Sie suchen
die Vollendung dieses allgemeinen rationellen Systems: sie betrachten sich
keineswegs als entwaffnete Propheten, denn Sie glauben an die gesellschaftliche
Macht der wissenschaftlichen Beweisführung und sogar, im Fall des
Saint-Simonismus an die Machtergreifung durch die Wissenschaft. Wie fragt
Sombart, "sollte etwas, das durch Aufklärung, höchstens
durch Beispiele in seiner Vollkommenheit bewiesen werden soll, ertrotzt
werden können im Kampf?" Die wissenschaftliche Auffassung der
Utopisten erstreckt sich jedoch nicht auf die Erkenntnis, daß gesellschaftliche
Gruppen in einer bestehenden Situation Interessen haben und Kräfte,
um sie aufrechtzuerhalten, sowie Formen falschen Bewußtseins, die
solchen Stellungen entsprechen. Sie bleibt daher weit diesseits der geschichtlichen
Realität der Wissenschaftsentwicklung selbst, deren Richtung weitgehend
von der aus solchen Faktoren hervorgegangenen gesellschaftlichen Nachfrage
bestimmt wurde, die nicht nur das auswählt, was zugelassen, sondern
auch das, was erforscht werden kann. Die utopischen Sozialisten, die Gefangene
der Darstellungsweise der wissenschaftlichen Wahrheit geblieben
sind, begreifen diese Wahrheit nach ihrem reinen abstrakten Bild, wie es
sich in einem sehr viel früheren Stadium der Gesellschaft durchgesetzt
haue. Die Utopisten wollen, wie Sorel bemerkte, die Gesetze der Gesellschaft
nach dem Modell der Astronomie entdecken und nachweisen. Die von
ihnen erstrebte Harmonie, die der Geschichte feindlich ist, ergibt sich
aus einem Versuch, die von der Geschichte am wenigsten abhängige Wissenschaft
auf die Gesellschaft anzuwenden. Diese Harmonie sucht ihre Anerkennung
mit der gleichen experimentellen Unschuld wie der Newtonismus, und das
ständig postulierte glückliche Menschenlos "spielt in ihrer
Gesellschaftswissenschaft eine Rolle, die derjenigen der Trägheit
in der rationellen Mechanik analog ist" (Materiaux pour une theorie
du proletariat).
- Gerade die deterministisch-wissenschaftliche Seite im
Marxschen Denken war die Bresche, durch die der Prozeß der "ldeologisierung"
noch zu seinen Lebzeiten eindrang, und um so mehr in das der Arbeiterbewegung
hinterlassene theoretische Erbe. Die Ankunft des Subjekts der Geschichte
wird noch auf später verschoben, und die geschichtliche Wissenschaft
par excellende, d.h. die Ökonomie, strebt immer weitgehender darauf
hin, die Notwendigkeit ihrer eigenen zukünftigen Negation zu garantieren.
Aber dadurch wird die revolutionäre Praxis, die die einzige Wahrheit
dieser Negation ist, aus dem Bereich der theoretischen Anschauung verstoßen.
Daher gilt es, geduldig die wirtschaftliche Entwicklung zu studieren und
noch das daraus erfolgende Leid mit einer Hegelschen Ruhe zu dulden, was
im Resultat "Friedhof der guten Absichten" bleibt. Man entdeckt,
daß jetzt, der Wissenschaft der Revolutionen zufolge, das Bewußtsein
immer zu früh kommt und belehrt werden muß. "Die Geschichte
hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht,
daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent
damals noch bei weitem nicht reif war...", sagt Engels 1895. Sein
ganzes Leben lang hat Marx den einheitlichen Gesichtspunkt seiner Theorie
aufrechterhalten, aber die Darlegung seiner Theorie hat sich auf den Boden
des herrschenden Denkens begeben, indem sie sich in der Form von Kritiken
besonderer Disziplinen, hauptsächlich der Kritik der grundlegenden
Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft, der politischen Ökonomie,
präzisiert. Diese Verstümmelung, die später als endgültig
akzeptiert wurde, hat den "Marxismus" gebildet.
- Der Mangel in der Marxschen Theorie ist natürlich
der Mangel des revolutionären Kampfes des Proletariates seiner Epoche.
Die Arbeiterklasse im Deutschland von 1848 hat nicht die Revolution in
Permanenz dekretiert; die Kommune wurde in der Isolierung besiegt. Die
revolutionäre Theorie kann daher noch nicht ihre eigene vollständige
Existenz erreichen. Darauf angewiesen zu sein, diese Theorie in der Absonderung
der Gelehrtenarbeit im British Museum zu verteidigen und zu präzisieren,
implizierte einen Verlust in der Theorie selbst. Gerade die auf die Zukunft
der Entwicklung der Arbeiterklasse bezogenen wissenschaftlichen Rechtfertigungen
und die mit ihnen verbundene organisatorische Praxis sollten in einem weiter
fortgeschrittenen Stadium zu Hindernissen für das proletarische Bewußtsein
werden.
- Die ganze theoretische Mangelhaftigkeit bei der wissenschaftlichen
Verteidigung der proletarischen Revolution kann, sowohl was den Inhalt
als was die Form der Darstellung angeht, auf eine Identifizierung des Proletariats
mit der Bourgeoisie unter dem Gesichtspunkt der revolutionären
Machtergreifung zurückgeführt werden.
- Die Tendenz, eine Beweisführung der wissenschaftlichen
Gesetzmäßigkeit der proletarischen Gewalt durch den Bezug auf
wiederholte Experimente der Vergangenheit zu begründen, verdunkelt
schon vom Manifest an das Marxsche Denken der Geschichte, indem
sie ihn dazu veranlaßt, ein lineares Bild der Entwicklung
der Produktionsweisen aufzustellen, die von Klassenkämpfen mitgerissen
wird, welche angeblich jedesmal "mit einer revolutionären Umgestaltung
der ganzen Gesellschaft … oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden
Klassen" enden. Aber ebenso wie in der beobachtbaren Realität
der Geschichte "die asiatische Produktionsweise", wie Marx an
anderer Stelle betonte, ihre Unbeweglichkeit trotz aller Klassenauseinandersetzungen
behalten hat, so wurden auch weder die Barone von den Aufständen der
Leibeigenen, noch die Freien von den Sklavenrevolten des Altertums je besiegt.
Im linearen Schema ist zunächst die Tatsache aus dem Blickfeld entschwunden,
daß die Bourgeoisie die einzige revolutionäre Klasse ist,
die jemals gesiegt hat und daß sie zugleich die einzige Klasse
ist, für die die Entwicklung der Wirtschaft Grund und Folge ihrer
Beschlagnahme der Gesellschaft war. Die gleiche Vereinfachung hat Marx
dazu verleitet, die wirtschaftliche Rolle des Staates bei der Verwaltung
einer Klassengesellschaft zu vernachlässigen. Wenn die aufsteigende
Bourgeoisie die Wirtschaft vom Staat zu befreien schien, dann nur insoweit,
als der alte Staat zugleich das Instrument einer Klassenunterdrückung
in einer statischen Wirtschaft war. Die Bourgeoisie hat ihre autonome
wirtschaftliche Macht in der mittelalterlichen Periode des Schwächerwerdens
des Staates, im Moment feudaler Zerstückelung gleichgewichtiger Gewalten
entwickelt. Aber der moderne Staat, der durch den Merkantilismus die Entwicklung
der Bourgeoisie zu unterstützen begann und der schließlich zur
Zeit des "laisse faire, laisser passer" zu ihrem Staat wurde,
wird sich später als Inhaber einer zentralen Macht in der kalkulierten
Verwaltung des wirtschaftlichen Prozesses zeigen. Marx konnte jedoch
im Bonapartismus diesen Entwurf der modernen staatlichen Bürokratie
beschreiben, nämlich die Fusion von Kapital und Staat, die Bildung
einer "nationalen Macht des Kapitals über die Arbeit, einer öffentlichen
Gewalt zur Unterdrückung der Arbeit", wo die Bourgeoisie auf
jedes geschichtliche Leben verzichtet, das nicht seine Reduzierung auf
die wirtschaftliche Geschichte der Dinge ist und gerne "neben den
anderen Klassen zur gleichen politischen Nichtigkeit verdammt" werden
will. Hier sind bereits die sozialpolitischen Grundlagen des modernen Spektakels
gelegt, das negativ das Proletariat als einzigen Bewerber um das geschichtliche
Leben definiert.
- Die zwei einzigen Klassen, die tatsächlich der Marxschen
Theorie entsprechen, die zwei reinen Klassen, zu denen die gesamte Analyse
in Das Kapital hinführt, die Bourgeoisie und das Proletariat,
sind auch die beiden einzigen revolutionären Klassen der Geschichte,
aber unter verschiedenen Bedingungen: die bürgerliche Revolution hat
stattgefunden, die proletarische Revolution ist ein Projekt, das auf der
Grundlage der vorangegangenen Revolutionen entstand, jedoch von ihr qualitativ
verschieden. Wenn man die Originalität der geschichtlichen
Rolle der Bourgeoisie übersieht, verdeckt man die konkrete Originalität
dieses proletarischen Projekts, das nur etwas erreichen kann, insofern
es seine eigenen Farben trägt und die "gewaltige Größe
seiner Aufgaben" kennt. Die Bourgeoisie ist zur Macht gelangt, weil
sie die Klasse der sich entwickelnden Wirtschaft ist. Das Proletariat kann
seinerseits die Macht sein, aber nur wenn es zur Klasse des Bewußtseins
wird. Das Reifen der Produktivkräfte kann eine solche Macht nicht
garantieren, und dies auch nicht auf dem Umweg der gesteigerten Enteignung,
die dieses Reifen begleitet. Die jakobinische Eroberung des Staates kann
nicht das Instrument des Proletariats sein. Keine Ideologie kann
ihm helfen, Teilzwecke in Gesamtzwecke zu verkleiden, denn es kann keine
Teilrealität aufbewahren, die ihm tatsächlich gehörte.
- Wenn Marx in einer bestimmten Periode seiner Teilnahme
am Kampf des Proletariats zu viel von der wissenschaftlichen Vorhersage
erwartet hat, so viel, daß er die intellektuelle Basis der Illusionen
des Ökonomismus schuf, so wissen wir doch, daß er persönlich
ihm nicht verfiel. In einem wohlbekannten Brief vom 7. Dezember 1867,
der einen Artikel begleitete, worin er selbst Das Kapital kritisiert
und den Engels in die Presse bringen sollte, als ob er von einem Gegner
stammte, hat Marx klar die Grenze seiner eigenen Wissenschaft dargelegt:
"… Die subjektive Tendenz des Verfassers dagegen - er
war vielleicht durch seine Parteistellung und Vergangenheit gebunden und
verpflichtet dazu -, d.h. die Manier, wie er sich und anderen das
Endresultat der jetzigen Bewegung, des jetzigen gesellschaftlichen Prozesses
vorstellt, hat mit seiner wirklichen Entwicklung gar nichts zu schaffen."
Also dadurch, daß er selbst die "tendenziellen Schlußfolgerungen"
seiner objektiven Analyse denunziert und durch die Ironie des "vielleicht"
in Bezug auf die außerwissenschaftlichen Entscheidungen, zu denen
er verpflichtet gewesen sei, zeigt Marx gleichzeitig den methodologischen
Schlüssel für die Verschmelzung der beiden Aspekte.
- Im geschichtlichen Kampf selbst muß die Verschmelzung
des Erkennens mit dem Handeln verwirklicht werden, so daß jede dieser
Seiten die andere zur Garantie ihrer eigenen Wahrheit macht. Die Herausbildung
der proletarischen Klasse als Subjekt ist die Organisation der revolutionären
Kämpfe und die Organisation der Gesellschaft im revolutionären
Augenblick: hier müssen die praktischen Bedingungen des Bewußtseins
vorhanden sein, in denen sich die Theorie der Praxis bestätigt,
indem sie zu praktischer Theorie wird. Diese zentrale Frage der Organisation
wurde jedoch von der revolutionären Theorie in der Epoche am wenigsten
in Betracht gezogen, in der die Arbeiterbewegung entstand, d.h. als diese
Theorie noch den aus dem Denken der Geschichte stammenden einheitlichen
Charakter besaß (und sie hatte es sich gerade zur Aufgabe gemacht,
ihn bis zu einer einheitlichen geschichtlichen Praxis zu entwickeln). Diese
Frage ist im Gegenteil der Ort der Inkonsequenz dieser Theorie,
die die Wiederbelebung staatlicher und hierarchischer Anwendungsmethoden
zuließ, die der bürgerlichen Revolution entlehnt wurden. Die
Organisationsformen der Arbeiterbewegung, die auf der Grundlage dieses
Verzichtes der Theorie entwickelt wurden, haben ihrerseits dahin tendiert,
die Erhaltung einer einheitlichen Theorie zu verhindern, indem sie diese
in spezialisierte und parzellierte Kenntnisse auflösten. Diese ideologische
Entfremdung der Theorie ist folglich außerstande, die praktische
Bewährung des von ihr verratenen einheitlichen geschichtlichen Denkens
wiederzuerkennen, wenn eine solche Bewährung im spontanen Kampf der
Arbeiter plötzlich hervortritt; sie kann lediglich dazu beitragen,
ihre Äußerung und ihre Erinnerung zu unterdrücken. Diese
im Kampf aufgetauchten geschichtlichen Formen sind jedoch gerade das praktische
Milieu, das der Theorie fehlte, um wahr zu sein. Sie sind eine Forderung
der Theorie; die jedoch nicht theoretisch formuliert worden war. Der Sowjet
war keine Entdeckung der Theorie. Und schon die höchste theoretische
Wahrheit der Internationalen Arbeiter Assoziation war ihr eigenes arbeitendes
Dasein.
- Die ersten Erfolge des Kampfes der Internationale brachten
sie dazu, sich von den konfusen Einflüssen der herrschenden Ideologie
zu befreien, die in ihr fortbestanden. Aber die Niederlage und die Unterdrückung,
die sie bald erfuhr, stellten einen Konflikt zwischen zwei Auffassungen
der proletarischen Revolution in den Vordergrund, die beide eine autoritäre
Dimension beinhalten, durch welche die bewußte Selbstbefreiung
der Klasse aufgegeben wird. Tatsächlich war der unversöhnlich
gewordene Streit zwischen Marxisten und Bakunisten zweifach, indem er zugleich
die Macht in der revolutionären Gesellschaft und die gegenwärtige
Organisation der Bewegung betraf, und beim Übergang von dem einen
dieser Aspekte zu dem anderen kehren sich die Positionen der Gegner um.
Bakunin bekämpfte die lllusion einer Abschaffung der Klassen durch
den autoritären Gebrauch der Staatsmacht, weil er die Neubildung einer
herrschenden bürokratischen Klasse und die Diktatur der Gelehrtesten
oder derer, die dafür gehalten werden, voraussah. Marx, der glaubte,
daß ein untrennbares Reifen der wirtschaftlichen Widersprüche
und der demokratischen Erziehung der Arbeiter die Rolle des proletarischen
Staates auf eine einfache Phase der Legalisierung neuer gesellschaftlicher
Beziehungen, die sich objektiv durchsetzen, beschränken würde,
denunzierte bei Bakunin und seinen Anhängern den Autoritarismus einer
konspirativen Elite, die sich absichtlich über die Internationale
gestellt hatte, mit der extravaganten Absicht, der Gesellschaft die unverantwortliche
Diktatur der Revolutionärsten oder derer, die sich als solche werden
bezeichnet haben, aufzuzwingen. Bakunin sammelte tatsächlich seine
Anhänger in einer derartigen Perspektive: "Als unsichtbare Piloten
müssen wir den Volkssturm aus seiner Mitte heraus lenken, aber nicht
durch eine offensichtliche Gewalt, sondern durch die kollektive Diktatur
aller Verbündeten. Durch eine Diktatur ohne Schärpe, ohne
Titel und ohne offizielles Recht, die aber um so mächtiger ist, als
sie nicht den äußeren Schein der Gewalt besitzt". So haben
sich zwei entgegengesetzte ldeologien der Arbeiterrevolution bekämpft,
die beide eine zum Teil wahre Kritik enthielten, aber die Einheit des Denkens
der Geschichte verloren und sich selbst als ideologische Autorität
errichteten. Mächtige Organisationen, wie die deutsche Siozialdemokratie
und die Iberische Anarchistische Förderation, haben treu der einen
oder der anderen dieser Ideologien gedient; und überall unterschied
sich das Ergebnis weit von dem, was gewollt war.
- Den Zweck der proletarischen Revolution als unmittelbar
gegenwärtig anzusehen, bildet zugleich die Größe und
die Schwäche des wirklichen anarchistischen Kampfes (denn in seinen
individualistischen Varianten bleiben die Ansprüche des Anarchismus
lächerlich). Vom geschichtlichen Denken der modernen Klassenkämpfe
behält der kollektivistische Anarchismus einzig die Schlußfolgerung,
und seine absolute Forderung nach dieser Schlußfolgerung äußert
sich gleichfalls durch seine entschlossene Verachtung der Methode. Seine
Kritik des politischen Kampfes ist daher abstrakt geblieben, während
seine Wahl des wirtschaftlichen Kampfes selbst nur gemäß der
lllusion einer endgültigen Lösung behauptet wird, welche mit
einem Schlag am Tag des Generalstreiks oder des Aufstandes auf diesem Boden
erkämpft wird. Die Anarchisten haben ein Ideal zu verwirklichen.
Der Anarchismus ist die noch ideologische Negation des Staates und
der Klassen, d.h. der gesellschaftlichen Bedingungen selbst der abgesonderten
Ideologie. Er ist die Ideologie der reinen Freiheit, die alles gleichmacht
und jede Idee des geschichtlichen Übels beseitigt. Dieser Gesichtspunkt
der Fusion aller Teilforderungen hat dem Anarchismus das Verdienst eingebracht,
die Ablehnung aller bestehenden Verhältnisse für die Gesamtheit
des Lebens zu repräsentieren und nicht hinsichtlich einer privilegierten
kritischen Spezialisierung, aber da diese Fusion im Absoluten, nach der
individuellen Laune, vor ihrer tatsächlichen Verwirklichung, betrachtet
wird, hat sie den Anarchismus auch zu einer allzu leicht merklichen Zusammenhangslosigkeit
verdammt. Der Anarchismus hat nur in jedem Kampf seine gleiche einfache
totale Schlußfolgerung zu wiederholen und wieder aufs Spiel zu setzen,
denn diese erste Schlußfolgerung war von Anfang an mit der vollständigen
Vollendung der Bewegung gleichgesetzt worden. Bakunin konnte daher im Jahre
1873, als er die Föderation des Jura verließ, schreiben: "In
den letzten neun Jahren wurden innerhalb der Internationale mehr Ideen
entwickelt als nötig sind, um die Welt zu retten, wenn Ideen allein
die Welt retten könnten, und ich glaube nicht, daß irgend jemand
imstande ist, noch eine neue zu erfinden. Die Zeit der Ideen ist vorbei,
die Zeit für Tatsachen und Taten ist gekommen." Ohne Zweifel
behält diese Auffassung vom geschichtlichen Denken des Proletariats
diese Gewißheit, daß die Ideen praktisch werden müssen,
aber sie verläßt den geschichtlichen Boden, wenn sie voraussetzt,
daß die adäquaten Formen für diesen Übergang zur Praxis
schon gefunden sind und nicht mehr verändert werden.
- Die Anarchisten, die sich ausdrücklich von der Gesamtheit
der Arbeiterbewegung durch ihre ideologische Überzeugung unterscheiden,
reproduzieren untereinander diese Trennung der Kompetenzen, indem sie einen
günstigen Boden für die informelle Herrschaft der Propagandisten
und Verteidiger ihrer eigenen Ideologie über jede anarchistische Organisation
schaffen, und diese Spezialisten sind im allgemeinen um so mittelmäßiger,
als ihre intellektuelle Tätigkeit hauptsächlich darauf ausgeht,
einige endgültige Wahrheiten zu wiederholen. Die ideologische Achtung
vor der Einstimmigkeit in der Entscheidung hat vielmehr die unkontrollierte
Autorität von Spezialisten der Freiheit in der Organisation
selbst begünstigt, und der revolutionäre Anarchismus erwartet
vom befreiten Volk die gleiche Art von Einstimmigkeit, welche mit den gleichen
Mitteln erreicht wird. Im übrigen hat die Weigerung, den Gegensatz
zwischen den Bedingungen einer im derzeitigen Kampf gruppierten Minderheit
und denen der Gesellschaft freier Individuen in Betracht zu ziehen, eine
ständige Trennung der Anarchisten im Moment der gemeinsamen Entscheidung
genährt, wie das Beispiel einer Unzahl anarchistischer Aufstände
in Spanien zeigt, die örtlich begrenzt waren und örtlich niedergeschlagen
wurden.
- Die im echten Anarchismus mehr oder weniger ausdrücklich
unterhaltene Illusion ist das ständige nahe Bevorstehen einer Revolution,
die der Ideologie und der aus ihr abgeleiteten praktischen Organisationsform
durch ihre augenblickliche Vollendung Recht geben soll. Der Anarchismus
hat 1936 wirklich eine soziale Revolution und den fortgeschrittensten Entwurf
einer proletarischen Gewalt geleitet, den es jemals gegeben hat. In diesem
Umstande ist noch zu bemerken, daß einerseits das Signal eines allgemeinen
Aufstandes durch das Pronunciamento der Armee aufgezwungen worden war.
Indem diese Revolution in den ersten Tagen nicht vollendet worden war,
nämlich aufgrund der Existenz einer Franquistischen Macht in der Hälfte
des Landes, die stark vom Ausland unterstützt wurde, während
die restliche internationale proletarische Bewegung bereits besiegt war,
und aufgrund des Fortbestandes bürgerlicher Kräfte oder anderer
staatssozialistischer Arbeiterparteien im Lager der Republik, zeigte sich
andererseits die organisierte Anarchistenbewegung unfähig, die halben
Siege der Revolution auszudehnen oder selbst zu verteidigen. Ihre anerkannten
Chefs wurden Minister und Geiseln des bürgerlichen Staates, der die
Revolution zerschlug, um den Bürgerkrieg zu verlieren.
- Der "orthodoxe Marxismus" der II. Internationale
ist die wissenschaftliche Ideologie der sozialistischen Revolution, die
ihre ganze Wahrheit mit dem objektiven Prozeß in der Wirtschaft und
mit dem Fortschritt einer Anerkennung dieser Notwendigkeit in der von der
Organisation erzogenen Arbeiterklasse identisch setzt. Diese Ideologie
findet das Vertrauen in die pädagogische Beweisführung wieder,
das den utopischen Sozialismus charakterisiert hatte, ergänzt es aber
durch eine kontemplative Bezugnahme auf den Lauf der Geschichte:
eine derartige Haltung hat jedoch ebenso die Hegelsche Dimension einer
totalen Geschichte wie auch das unbewegliche Bild der Totalität verloren,
das in der utopischen Kritik (am stärksten bei Fourier) vorhanden
war. Aus einer solchen wissenschaftlichen Haltung, der natürlich nichts
anderes übrig blieb, als zumindest symmetrische sittliche Alternativen
wiederzubeleben, stammen die Albernheiten Hilferdings, wenn er präzisiert,
daß die Anerkennung der Notwendigkeit des Sozialismus keine "Anweisung
zu praktischem Verhalten ist. Denn etwas anderes ist es, eine Notwendigkeit
zu erkennen, etwas anderes, sich in den Dienst dieser Notwendigkeit zu
stellen" (Das Finanzkapital). Diejenigen, die verkannt haben,
daß für Marx und das revolutionäre Proletariat das einheitliche
geschichtliche Denken von einer anzunehmenden praktischen Haltung nicht
zu unterscheiden war, mußten normalerweise Opfer der Praxis werden,
die sie gleichzeitig angenommen hatten.
- Die Ideologie der sozialdemokratischen Organisation stellte
sie unter die Gewalt der Lehrer, die die Arbeiterklasse erzogen,
und die angenommene Organisationsform war die adäquate Form dieser
passiven Schulung. Die Teilnahme der Sozialisten der II. Internationale
an den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen war ohne Zweifel konkret,
aber zutiefst unkritisch. Sie wurde im Namen der revolutionären
Illusion, gemäß einer offenbar reformistischen Praxis
geführt. So sollte die revolutionäre Ideologie gerade durch den
Erfolg derer zerschlagen werden, die ihre Träger waren. Die Absonderung
der Abgeordneten und der Journalisten in der Bewegung verleitete diejenigen,
die ohnehin schon unter den bürgerlichen Intellektuellen abgeworben
worden waren, zur bürgerlichen Lebensweise. Die Gewerkschaftsbürokratie
machte gerade diejenigen, die aus den Kämpfen der Industriearbeiter
heraus abgeworben und aus ihnen herausgezogen worden waren, zu Maklern
der als Ware zu ihrem gerechten Preis zu verkaufenden Arbeitskraft. Damit
ihrer aller Tätigkeit etwas Revolutionäres behalten hätte,
wäre es erforderlich gewesen, daß der Kapitalismus in diesem
Moment außerstande gewesen wäre, diesen Reformismus, den er
politisch in ihrer legalistischen Agitation tolerierte, wirtschaftlich
zu tragen. Eine solche Unverträglichkeit wurde von ihrer Wissenschaft
gesichert und von der Geschichte jederzeit widerlegt.
- Dieser Widerspruch, dessen Realität Bernstein ehrlich
aufzeigen wollte, weil er der Sozialdemokrat war, der von der politischen
Ideologie am weitesten entfernt war und sich am offensten der Methodologie
der bürgerlichen Wissenschaft angeschlossen hatte, - diese Realität
wurde auch von der reformistischen Bewegung der englischen Arbeiter aufgezeigt,
indem sie auf eine revolutionäre Ideologie verzichtete -, sollte
dennoch erst durch die geschichtliche Entwicklung selbst unwiderlegbar
bewiesen werden. Bernstein hatte, obwohl er im übrigen voll von Illusionen
war, bestritten, daß eine Krise der kapitalistischen Produktion auf
wunderbare Weise die Sozialisten zur Tat zwingen würde, die nur durch
eine legitime Salbung die Erbschaft der Revolution antreten wollten. Der
Augenblick tiefgreifender gesellschaftlicher Umwälzung, der mit dem
ersten Weltkrieg eintrat, bewies zweimal, wenn er auch an Bewußtseinsbildung
fruchtbar war, daß die sozialdemokratische Hierarchie die deutschen
Arbeiter nicht revolutionär erzogen hatte, sie in keiner Weise zu
Theoretikern gemacht hatte: zuerst, als sich die große Mehrheit
der Partei dem imperialistischen Krieg anschloß und dann, als sie
in der Niederlage die spartakistischen Revolutionäre zermalmte. Der
Exarbeiter Ebert glaubte noch an die Sünde, denn er gab zu, die Revolution
"wie die Sünde" zu hassen. Und dieser gleiche Arbeiterführer
erwies sich später als guter Vorläufer der sozialistischen
Repräsentation, die sich wenig später dem Proletariat in
Rußland und anderswo als absoluter Feind entgegenstellen sollte,
als er das genaue Programm dieser neuen Entfremdung formulierte: "Sozialismus
heißt viel arbeiten."
- Lenin war als marxistischer Denker nur der konsequente
und treue Kautskyaner, der die revolutionäre Ideologie dieses
"orthodoxen Marxismus" unter den russischen Bedingungen anwandte,
die die reformistische Praxis nicht zuließen, welche im Gegenteil
von der II. Internationale durchgeführt wurde. Die äußere
Führung des Proletariats, die vermittels einer den zu "Berufsrevolutionären"
gewordenen Intellektuellen unterstellten, disziplinierten, geheimen Partei
handelt, besteht hier in einem Beruf, der mit keinem Führungsberuf
der kapitalistischen Gesellschaft paktieren will (übrigens war das
politische Regime des Zarismus außerstande, eine solche Öffnung
zu bieten, deren Basis in einem fortgeschrittenen Stadium der Macht der
Bourgeoisie besteht). Sie wird also zum Beruf der absoluten Führung
der Gesellschaft.
- Der autoritäre ideologische Radikalismus der Bolschewisten
hat sich mit dem Krieg und dem Zusammenbruch der internationalen Sozialdemokratie
angesichts des Krieges weltweit entfaltet. Das blutige Ende der demokratischen
Illusionen der Arbeiterbewegung hatte aus der ganzen Welt ein Rußland
gemacht, und der Bolschewismus, der den ersten revolutionären Bruch,
den diese Krisenepoche mit sich gebracht hatte, beherrschte, bot dem Proletariat
aller Länder sein hierarchisches und ideologisches Modell an, um mit
der herrschenden Klasse "russisch zu sprechen". Lenin hat dem
Marxismus der II. Internationale nicht vorgeworfen, eine revolutionäre
ldeologie zu sein, sondern keine mehr zu sein.
- Derselbe geschichtliche Moment, in dem der Bolschewismus
in Rußland für sich selbst siegte, und die Sozialdemokratie
siegreich für die alte Welt kämpfte, bezeichnet die vollendete
Entstehung einer Ordnung der Dinge, welche im Mittelpunkt der Herrschaft
des modernen Spektakels steht: die Arbeiterrepräsentation hat
sich radikal der Klasse entgegensetzt.
- "In allen früheren Revolutionen", schrieb
Rosa Luxemburg in der Roten Fahne vom 21. Dezember 1918, "traten
die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse gegen Klasse,
Programm gegen Programm … In der heutigen Revolution treten die Schutzgruppen
der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden
Klassen, sondern unter der Fahne einer "sozialdemokratischen Partei"
in die Schranken … Würde die Kardinalfrage der Revolution offen
und ehrlich: Kapitalismus oder Sozialismus lauten, ein Zweifeln, ein Schwanken
wäre in der großen Masse des Proletariats heute unmöglich".
So entdeckte die radikale Strömung des deutschen Proletariats wenige
Tage vor ihrer Zerstörung das Geheimnis der neuen Bedingungen, die
der gesamte vorherige Prozeß (zu dem die Arbeiterrepräsentation
erheblich beigetragen hatte) geschaffen hatte: die spektakuläre Organisation
der Verteidigung der bestehenden Ordnung, das gesellschaftliche Reich des
Scheins, wo keine "Kardinalfrage" mehr "offen und ehrlich"
gestellt werden kann. Die revolutionäre Repräsentation des Proletariats
war in diesem Stadium zugleich der Hauptfaktor und das zentrale Ergebnis
der allgemeinen Verfälschung der Gesellschaft geworden.
- Die Organisation des Proletariats nach dem bolschewistischen
Modell, die aus der russischen Rückständigkeit und dem Verzicht
der Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen Länder auf den revolutionären
Kampf entstanden war, traf auch in der russischen Rückständigkeit
alle Bedingungen, durch welche diese Organisationsform zur konterrevolutionären
Verkehrung geführt wurde, die sie bewußtlos in ihrem Urkeim
enthielt; und der wiederholte Verzicht der Masse der europäischen
Arbeiterbewegung auf das Hic Rhodus, hic salta der Periode 1918
-1920, dieser Verzicht, der die gewaltsame Zerstörung ihrer radikalen
Minderheit einschloß, begünstigte die vollständige Entwicklung
des Prozesses und so konnte sich dessen verlogenes Ergebnis vor der Welt
als die einzige proletarische Lösung behaupten. Die Ergreifung des
staatlichen Monopols der Repräsentation und der Verteidigung der Macht
der Arbeiter, die die bolschewistische Partei rechtfertigte, ließ
sie zu dem werden, was sie war: die Partei der Eigentümer
des Proletariats, die die vorherigen Formen des Eigentums im wesentlichen
beseitigte.
- Alle die Bedingungen der Liquidierung des Zarismus, die
in der stets unbefriedigenden theoretischen Debatte der verschiedenen Tendenzen
der russischen Sozialdemokratie seit zwanzig Jahren in Betracht gezogen
wurden - Schwäche der Bourgeoisie, Gewicht der Bauernmehrheit,
entscheidende Rolle eines konzentrierten und schlagkräftigen, aber
im Lande höchst minoritären Proletariats - zeigten endlich
ihre Lösung in der Praxis durch eine Gegebenheit, die in den Hypothesen
nicht vorhanden war: die revolutionäre Bürokratie, die das Proletariat
führte, gab, indem sie den Staat ergriff, der Gesellschaft eine neue
Klassenherrschaft. Die rein bürgerliche Revolution war unmöglich,
die "demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern" war sinnlos,
die proletarische Macht der Sowjets konnte sich nicht gleichzeitig gegen
die Klasse der besitzenden Bauern, gegen die nationale und internationale
weiße Reaktion und gegen ihre eigene Repräsentation behaupten,
welche als Arbeiterpartei der absoluten Herren des Staates, der Wirtschaft,
der Rede und bald auch des Denkens entäußert und entfremdet
war. Die Theorie der permanenten Revolution von Trotzki und Parvus, der
sich Lenin tatsächlich im April 1917 anschloß, war die einzige,
die für die im Verhältnis zur gesellschaftlichen Entwicklung
der Bourgeoisie zurückgebliebenen Länder wahr wurde, aber dies
erst nach der Einführung dieses unbekannten Faktors: der Klassengewalt
der Bürokratie. Die Konzentration der Diktatur in den Händen
der obersten Repräsentation der Ideologie wurde in den zahlreichen
Auseinandersetzungen innerhalb der bolschewistischen Führung am konsequentesten
von Lenin verteidigt. Lenin hatte gegenüber seinen Gegnern jedesmal
insofern Recht, als er die Lösung unterstützte, die die vorangegangenen
Entscheidungen der minoritären absoluten Macht implizierten: die den
Bauern staatlich verweigerte Demokratie mußte auch den Arbeitern
verweigert werden, was darauf hinauslief, sie auch den kommunistischen
Gewerkschaftsführern und in der ganzen Partei und schließlich
bis hoch in die Spitze der hierarchischen Partei zu verweigern. Auf dem
X. Kongreß, im Moment, in dem der Sowjet von Kronstadt mit Waffen
niedergeschlagen und unter Verleumdungen begraben worden war, kam Lenin
in der Auseinandersetzung mit den linksradikalen Bürokraten, die in
der "Arbeiteropposition" organisiert waren, zu dem Schluß,
dessen Logik Stalin bis hin zu einer vollkommenen Teilung der Welt fortführte:
"Hier oder dort mit einem Gewehr, aber nicht mit der Opposition …
Wir haben genug von der Opposition."
- Die Bürokratie, die als einzige Eigentümerin
eines Staatskapitalismus übriggeblieben war, sicherte nach
Kronstadt, zur Zeit der "neuen Wirtschaftspolitik", zuerst ihre
Macht im Inneren durch eine zeitweilige Allianz mit der Bauernschaft, so
wie sie sie nach außen verteidigte, indem sie die in den bürokratischen
Parteien der III. Internationale eingereihten Arbeiter als Hilfskraft der
russischen Diplomatie benutzte, um jede revolutionäre Bewegung zu
sabotieren und bürgerliche Regierungen zu unterstützen, von denen
sie einen Beistand in der Weltpolitik erwartete (die Macht der Kuomintang
im China 1925-1927, die Volksfront in Spanien und Frankreich usw.). Aber
die bürokratische Gesellschaft mußte ihre eigene Vollendung
mit Hilfe des Terrors über die Bauernschaft fortführen, um die
brutalste ursprünglichste kapitalistische Akkumulation der Geschichte
durchzuführen. Diese Industrialisierung der stalinistischen Epoche
enthüllt die letzte Realität der Bürokratie: Sie
ist die Fortsetzung der Macht, der Wirtschaft, die Rettung des Wesentlichen
der Warengesellschaft durch die Aufrechterhaltung der Arbeit als Ware.
Sie ist der Beweis der unabhängigen Wirtschaft, die die Gesellschaft
so weit beherrscht, daß sie für ihre eigenen Ziele die Klassenherrschaft
wiederherstellt, die sie notwendig braucht, was mit anderen Worten heißt,
daß die Bourgeoisie eine autonome Macht geschaffen hat, die, solange
diese Autonomie besteht, so weit gehen kann, daß sie ohne Bourgeoisie
auskommt. Die totalitäre Bürokratie ist nicht "die letzte
Klasse, die Eigentümer der Geschichte" wäre, wie Bruno Rizzi
meinte, sondern lediglich eine herrschende Ersatzklasse für
die Warenwirtschaft. Das geschwächte kapitalistische Privateigentum
wird durch ein vereinfachtes, nicht so verschiedenartiges, als kollektives
Eigentum der bürokratischen Klasse konzentriertes Nebenprodukt
ersetzt. Diese unterentwickelte Form einer herrschenden Klasse ist auch
der Ausdruck der wirtschaftlichen Unterentwicklung und kennt nur die Perspektive,
diesen Entwicklungsrückstand in bestimmten Gegenden der Welt einzuholen.
Die nach dem bürgerlichen Modell der Absonderung organisierte Arbeiterpartei
hat für diese Ergänzungsaufgabe der herrschenden Klasse den hierarchisch-staatlichen
Rahmen geschaffen. Anton Ciliga notierte in einem Gefängnis Stalins,
daß "die technischen Organisationsprobleme sich als gesellschaftliche
Probleme erwiesen" (Lenin und die Revolution).
- Die revolutionäre Ideologie, d.h. die Kohärenz
des Getrennten - dessen größte voluntaristische Anstrengung
der Leninismus bildet -, die die Verwaltung einer Realität innehat,
die sie abweist, wird mit dem Stalinismus wieder zu ihrer Wahrheit
in der Inkohärenz gelangen. In diesem Augenblick ist die Ideologie
keine Waffe mehr, sondern ein Ziel. Die Lüge, die nicht mehr widerlegt
wird, wird zum Wahnsinn. In der totalitären ideologischen Proklamation
ist die Realität ebenso wie der Zweck aufgelöst: alles, was sie
sagt, ist alles, was ist. Sie ist ein lokaler Primitivismus des Spektakels,
dessen Rolle jedoch in der Entwicklung des Weltspektakels wesentlich ist.
Die Ideologie, die sich hier materialisiert, hat nicht die Welt wirtschaftlich
verändert, wie der zum Stadium des Überflusses gelangte Kapitalismus:
sie hat lediglich die Wahrnehmung polizeilich verändert.
- Die machthabende totalitär-ideologische Klasse ist
die Macht einer verkehrten Welt: je stärker sie ist, um so mehr behauptet
sie, daß sie nicht existiert, und ihre Stärke dient ihr zunächst
dazu, ihre Nichtexistenz zu behaupten. Nur in diesem Punkt ist sie bescheiden,
denn ihre offizielle Nichtexistenz muß auch mit dem nec plus ultra
der geschichtlichen Entwicklung zusammenfallen, das man gleichzeitig
angeblich ihrer unfehlbaren Führung verdanken soll. Die überall
zur Schau gestellte Bürokratie muß für das Bewußtsein
die unsichtbare Klasse sein, so daß das ganze gesellschaftliche
Leben verrückt wird. Die gesellschaftliche Organisation der absoluten
Lüge folgt aus diesem grundlegenden Widerspruch.
- Der Stalinismus war die Schreckensherrschaft innerhalb
der bürokratischen Klasse selbst. Der Terrorismus, der die Macht dieser
Klasse begründet, muß auch diese Klasse treffen, denn sie hat
als besitzende Klasse keine juristische Garantie, keine anerkannte Existenz,
die sie auf jedes ihrer Mitglieder ausdehnen könnte. Ihr wirkliches
Eigentum ist versteckt, und sie ist nur mit Hilfe des falschen Bewußtseins
zur Eigentümerin geworden. Das falsche Bewußtsein behauptet
seine absolute Macht nur durch den absoluten Terror, in dem jede wahre
Begründung endlich verloren geht. Die Mitglieder der machthabenden
bürokratischen Klasse haben nur insofern kollektiv das Besitzungsrecht
über die Gesellschaft, als sie bei einer grundlegenden Lüge mitwirken:
Sie müssen die Rolle des eine sozialistische Gesellschaft führenden
Proletariats spielen; sie müssen die dem Text der ideologischen Untreue
treuen Schauspieler sein. Aber die wirkliche Mitwirkung bei diesem Verlogensein
muß selbst als eine wahrhaftige Mitwirkung anerkannt werden. Kein
Bürokrat kann individuell sein Recht auf die Macht behaupten, denn
sich als einen sozialistischen Proletarier zu erweisen, würde heißen,
sich als das Gegenteil eines Bürokraten zu zeigen; und sich als einen
Bürokraten zu erweisen, ist ihm unmöglich, denn die offizielle
Wahrheit der Bürokratie ist ihr Nichtsein. So befindet sich jeder
Bürokrat in der absoluten Abhängigkeit einer zentralen Garantie
der Ideologie, die eine kollektive Mitwirkung aller der Bürokraten
an ihrer "sozialistischen Macht" anerkennt, welche sie
nicht vernichtet. Wenn die Bürokraten insgesamt über alles
entscheiden, kann der Zusammenhalt ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration
ihrer terroristischen Macht in einer einzigen Person gesichert werden.
In dieser Person liegt die einzige praktische Wahrheit der machthabenden
Lüge: die unbestreitbare Festsetzung ihrer stets berichtigten Grenze.
In letzter Instanz bestimmt Stalin, wer schließlich besitzender Bürokrat
ist; d.h. wer als "machthabender Proletarier" oder als "vom
Mikado und Wallstreet gekaufter Verräter" bezeichnet werden muß.
Die bürokratischen Atome finden nur in der Person Stalins das gemeinsame
Wesen ihres Rechts. Stalin ist dieser Herr der Welt, der sich auf diese
Weise die absolute Person ist, für deren Bewußtsein kein höherer
Geist existiert. "Der Herr der Welt hat das wirkliche Bewußtsein
dessen, was er ist, der allgemeinen Macht der Wirklichkeit, in der zerstörenden
Gewalt, die er gegen das ihm gegenüber stehende Selbst seiner Untertanen
ausübt". Während er die Macht ist, die den Boden der Herrschaft
bestimmt, ist er ebenso "das zerstörende Wühlen in diesem
Boden".
- Wenn sich die durch den Besitz der absoluten Macht absolut
gewordene Theologie von einer parzellierten Kenntnis zu einer totalitären
Lüge verwandelt hat, ist das Denken der Geschichte so vollkommen vernichtet
worden, daß die Geschichte selbst auf der Ebene der empirischen Kenntnis
nicht mehr existieren kann. Die totalitäre bürokratische Gesellschaft
lebt in einer immerwährenden Gegenwart, in welcher für sie alles,
was geschehen ist, nur als für ihre Polizei zugänglicher Raum
existiert. Der schon von Napoleon formulierte Vorsatz, "die Energie
der Erinnerungen monarchisch zu leiten", hat in einer ständigen
Manipulation der Vergangenheit nicht nur in ihren Bedeutungen, sondern
auch in ihren Tatsachen seine volle Konkretisierung gefunden. Aber der
Preis dieser Befreiung von jeder geschichtlichen Realität ist
der Verlust des für die geschichtliche Gesellschaft des Kapitalismus
unentbehrlichen, rationellen Bezuges. Es ist bekannt, wieviel die wissenschaftliche
Anwendung der zum Wahnsinn gewordenen Ideologie die russische Wirtschaft
gekostet hat und sei es auch nur durch den Betrug Lyssenkos. Dieser Widerspruch
der eine industrialisierte Gesellschaft verwaltenden totalitären Bürokratie,
die zwischen ihrem Bedarf an Rationellem und ihrer Ablehnung des Rationellen
gefangen ist, bildet auch einen der Hauptmängel dieser Bürokratie
gegenüber der normalen kapitalistischen Entwicklung. So wie die Bürokratie
die Landwirtschaftsfrage schlechter lösen kann, als es die kapitalistische
Entwicklung vermag, so steht sie ihr schließlich ebenfalls in der
Industrieproduktion nach, welche autoritär auf der Basis des Irrealismus
und der verallgemeinerten Lüge geplant wird.
- Die revolutionäre Arbeiterbewegung zwischen den
beiden Kriegen wurde durch das vereinte Wirken der stalinistischen Bürokratie
und des faschistischen Totalitarismus, der seine Organisationsform der
in Rußland probierten totalitären Partei entlehnt hatte, vernichtet.
Der Faschismus war eine extremistische Verteidigung der von der Krise und
der proletarischen Subversion bedrohten bürgerlichen Wirtschaft, d.h.
er war der Belagerungszustand in der kapitalistischen Gesellschaft,
durch den sich diese Gesellschaft rettet und sich eine erste Notrationalisierung
gibt, indem sie den Staat in ihre Verwaltung massiv eingreifen läßt.
Aber eine solche Rationalisierung ist selbst mit der ungeheuren Irrationalität
ihres Mittels belastet. Wenn auch der Faschismus die Verteidigung der Hauptpunkte
der konservativ gewordenen bürgerlichen Ideologie (die Familie, das
Eigentum, die Sittenordnung, die Nation) übernimmt, indem er das Kleinbürgertum
mit den Arbeitslosen vereinigt, die aufgrund der Krise verwirrt oder durch
die Ohnmacht der sozialistischen Revolution enttäuscht sind, so ist
er selbst keineswegs durch und durch ideologisch. Er gibt sich als das,
was er ist: eine gewaltsame Auferstehung des Mythos, der die Teilnahme
an einer Gemeinschaft verlangt, die durch archaische Pseudowerte definiert
wird: die Rasse, das Blut, den Führer. Der Faschismus ist der technisch
ausgerüstete Archaismus. Sein verfaulter Ersatz des Mythos
wird im spektakulären Zusammenhang der modernsten Mittel des Dressierens
und der Täuschung wieder aufgenommen. So ist er einer der Faktoren
bei der Herausbildung des modernen Spektakelwesens, so wie ihn sein Anteil
an der Zerstörung der alten Arbeiterbewegung zu einer der Gründermächte
der gegenwärtigen Gesellschaft macht; aber da der Faschismus auch
die kostspieligste Form der Aufrechterhaltung der kapitalistischen
Ordnung ist, mußte er normalerweise, als er durch rationellere und
stärkere Formen dieser Ordnung beseitigt wurde, vom Vordergrund der
Bühne abtreten, auf der die kapitalistischen Staaten die großen
Rollen spielen.
- Als es der russischen Bürokratie endlich gelungen
war, sich der Reste des bürgerlichen Eigentums zu entledigen, die
ihre Herrschaft über die Wirtschaft behinderten, diese für ihren
eigenen Gebrauch zu entwickeln und im Ausland unter den Großmächten
anerkannt zu werden, will sie in Ruhe ihre eigene Welt genießen,
und deren Teil von Willkür abschaffen, der auf sie selbst wirkte:
sie denunziert den Stalinismus ihres Ursprungs. Aber eine derartige Denunziation
bleibt stalinistisch, willkürlich, unerklärt und ständig
berichtigt, denn die ideologische Lüge ihres Ursprungs kann niemals
offenbart werden. So kann sich die Bürokratie weder kulturell
noch politisch liberalisieren, denn ihr Bestehen als Klasse hängt
von ihrem ideologischen Monopol ab, das in seiner ganzen Schwere ihren
einzigen Eigentumstitel bildet. Die Ideologie hat zwar die Leidenschaft
ihrer positiven Behauptung verloren, aber was davon als gleichgültige
Trivialität übrigbleibt, hat noch die repressive Funktion, die
geringste Konkurrenz zu verbieten, und die Ganzheit des Denkens gefangenzuhalten.
Die Bürokratie ist daher mit einer Ideologie verknüpft, an die
niemand mehr glaubt. Was terroristisch war, ist lächerlich geworden,
aber diese Lächerlichkeit selbst kann sich nur dadurch aufrechterhalten,
daß sie im Hintergrund den Terrorismus aufbewahrt, von dem sie sich
freimachen möchte. So bekennt sich die Bürokratie gerade in dem
Moment, in dem sie auf dem Boden des Kapitalismus ihre Überlegenheit
beweisen will, als arme Verwandte des Kapitalismus. So wie ihre
tatsächliche Geschichte ihrem Recht widerspricht, und ihre auf plumpe
Weise aufrechterhaltene Unwissenheit ihren wissenschaftlichen Ansprüchen
zuwiderläuft, so wird ihr Plan, in der Produktion eines Warenüberflusses
mit der Bourgeoisie zu rivalisieren, dadurch behindert, daß ein derartiger
Überfluß in sich seine implizierte Ideologie trägt
und normalerweise von einer unendlich ausgedehnten Freiheit falscher spektakulärer
Wahlmöglichkeiten begleitet wird, von einer Pseudofreiheit, die mit
der bürokratischen Ideologie unvereinbar bleibt.
- In diesem Moment der Entwicklung bricht der ideologische
Eigentumstitel der Bürokratie bereits im Weltmaßstabe zusammen.
Die Macht, die sich national als grundlegend internationalistisches Modell
etabliert hatte, muß zugeben, daß sie nicht mehr behaupten
kann, ihre lügenhafte Kohäsion jenseits jeder nationalen Grenze
aufrechtzuerhalten. Die ungleiche Wirtschaftsentwicklung, die Bürokratien
mit konkurrierenden Interessen erfahren, denen es gelungen ist, ihren "Sozialismus"
außerhalb eines einzigen Landes zu besitzen, hat zur öffentlichen
und vollständigen Auseinandersetzung zwischen der russischen und der
chinesischen Lüge geführt. Von diesem Punkt an muß jede
Bürokratie, die an der Macht ist, oder jede totalitäre Partei,
die sich um die von der stalinistischen Periode in einigen nationalen Arbeiterklassen
hinterlassene Macht bewirbt, ihren eigenen Weg gehen. Der weltweite Zerfall
der Allianz der bürokratischen Mystifizierung, der zu den Äußerungen
der inneren Negation hinzutritt, die sich vor der Welt mit dem Arbeiteraufstand
in Ostberlin, der den Bürokraten ihre Forderung nach einer "Metallarbeiterregierung"
entgegensetzte, zu behaupten begannen, und die sogar einmal bis zur Macht
der Arbeiterräte in Ungarn führten, erwies sich in letzter Analyse
als der ungünstigste Faktor für die heutige Entwicklung der kapitalistischen
Gesellschaft. Die Bourgeoisie ist auf dem Wege, den Gegner zu verlieren,
der sie objektiv stützte, indem er jede Negation der bestehenden Ordnung
illusorisch vereinte. Eine solche Teilung der spektakulären Arbeit
sieht ihrem Ende entgegen, wenn sich die pseudorevolutionäre Rolle
ihrerseits teilt. Das spektakuläre Element der Auflösung der
Arbeiterbewegung wird selbst aufgelöst.
- Die leninistische Illusion hat heute nur noch in den
verschiedenen trotzkistischen Richtungen eine Basis, in denen die Identifizierung
des proletarischen Projektes mit einer hierarchischen Organisation der
Ideologie unerschütterlich die Erfahrungen all ihrer Ergebnisse überlebt.
Die Distanz, die den Trotzkismus von der revolutionären Kritik der
gegenwärtigen Gesellschaft trennt, erlaubt ihm auch seine respektvolle
Distanz gegenüber Positionen, die bereits falsch waren, als sie sich
in einem wirklichen Kampf abnutzten. Trotzki blieb bis 1927 mit der hohen
Bürokratie von Grund aus solidarisch und versuchte gleichzeitig, sich
ihrer zu bemächtigen, um sie zur Wiederaufnahme einer wirklichen bolschewistischen
Aktion im Ausland zu bewegen (es ist bekannt, daß er damals sogar
verleumderisch seinen Kampfgefährten Max Eastman verleugnete, um mitzuhelfen,
das berühmte "Testament Lenins" zu verheimlichen, das dieser
bekannt gemacht hatte). Trotzki wurde durch seine grundlegende Perspektive
verurteilt, denn im Moment, in dem die Bürokratie sich selbst in ihrem
Ergebnis als konterrevolutionäre Klasse im Inland erkennt, muß
sie sich auch dazu entscheiden, im Ausland im Namen der Revolution tatsächlich
konterrevolutionär zu sein, so wie im Inland. Der spätere
Kampf Trotzkis für eine IV. Internationale enthält die gleiche
Inkonsequenz. Er hat sich sein ganzes Leben lang geweigert, in der Bürokratie
die Macht einer getrennten Klasse anzuerkennen, weil er während der
zweiten russischen Revolution ein bedingungsloser Anhänger der bolschewistischen
Organisationsform geworden war. Als Lukacs 1923 in dieser Form die endlich
gefundene Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zeigte, bei der die Proletarier
nicht mehr "Zuschauer" der Ereignisse sind, die in ihrer
Organisation geschehen, sondern sie bewußt gewählt und erlebt
haben, beschrieb er als tatsächliche Verdienste der bolschewistischen
Partei all das, was die bolschewistische Partei nicht war. Lukacs
war noch, neben seiner tiefen theoretischen Arbeit, ein Ideologe, der im
Namen einer Macht sprach, die auf die vulgärste Weise außerhalb
der proletarischen Bewegung stand, und der glaubte und glauben ließ,
daß er sich selbst, mit seiner ganzen Persönlichkeit, in dieser
Macht befand, als ob er sich in seiner eigenen Macht befände.
Während in der Folge offen zu Tage trat, auf welche Weise diese Macht
ihre Knechte verleugnet und beseitigt, zeigte Lukacs, der sich ständig
selbst verleugnete, mit karikaturaler Deutlichkeit, womit genau er sich
identifiziert hatte: mit dem Gegenteil seiner selbst und all dessen,
was er in Geschichte und Klassenbewußtsein verteidigt hatte.
Lukacs bewahrheitet am besten die Grundregel, an der alle Intellektuellen
dieses Jahrhunderts zu beurteilen sind: an dem, was sie achten,
läßt sich ganz genau ihre eigene verachtenswerte Realität
ermessen. Lenin hatte diese Art von Illusionen über seine Tätigkeit
nicht gefördert, denn er gab zu, daß "eine politische Partei
nicht ihre Mitglieder überprüfen kann, um festzustellen, ob Widersprüche
zwischen deren Philosophie und dem Programm der Partei bestehen".
Die wirkliche Partei, deren Traumporträt Lukacs zur Unzeit dargestellt
hatte, war nur für die Ausführung einer präzisen Teilaufgabe
kohärent: d.h. für die Ergreifung der Macht im Staat.
- Weil die neoleninistische Illusion des heutigen Trotzkismus
von der Realität der modernen kapitalistischen Gesellschaft, der bürgerlichen
wie der bürokratischen, alle Augenblicke widerlegt wird, findet sie
natürlich in den formal unabhängigen "unterentwickelten"
Ländern einen bevorzugten Geltungsbereich, in denen die Illusionen
irgendeiner Variante des bürokratischen Staatssozialismus als einfache
Ideologie der Herrschaftsentwicklung von den lokalen herrschenden Klassen
bewußt manipuliert wird. Die zwitterhafte Zusammensetzung dieser
Klassen hängt mehr oder weniger deutlich einer Abstufung auf dem Spektrum
Bourgeoisie-Bürokratie an. Ihr Spiel im internationalen Maßstab
zwischen diesen beiden Polen der bestehenden kapitalistischen Gewalt und -
ebenso ihre ideologischen Kompromisse - insbesondere mit dem Islam -
die die zwitterhafte Realität ihrer gesellschaftlichen Basis ausdrücken,
nehmen vollends diesem letzten Nebenprodukt des ideologischen Sozialismus
jeden Ernst außer dem polizeilichen. Eine Bürokratie konnte
sich aus den Stammtruppen des nationalen Kampfes und des Agraraufstandes
der Bauern herausbilden: dann ist sie bestrebt, wie in China, das stalinistische
Industrialisierungsmodell in einer Gesellschaft anzuwenden, die weniger
entwickelt ist als das Rußland von 1917. Eine Bürokratie, die
dazu fähig ist, die Nation zu industrialisieren, kann sich aus dem
Kleinbürgertum bilden, als Kader der Armee die Macht ergreifen, wie
das Beispiel Ägyptens zeigt. An einigen Punkten, wie im Algerien am
Ende seines Krieges um die Unabhängigkeit, sucht die Bürokratie,
die sich während des Kampfes als parastaatliche Führung gebildet
hat, den Gleichgewichtspunkt eines Kompromisses, um mit einer schwachen
nationalen Bourgeoisie zu fusionieren. Schließlich bildet sich in
den ehemaligen Kolonien des schwarzen Afrikas, die offen mit der westlichen,
d.h. amerikanischen und europäischen Bourgeoisie verknüpft bleiben,
eine Bourgeoisie - zumeist aus der Macht der traditionellen Stammeshäuptlinge -
durch den Besitz des Staates: in diesen Ländern, in denen der
ausländische Imperialismus der wahre Herr der Wirtschaft bleibt, wird
ein Stadium erreicht, in dem die Compradores als Vergütung
für ihren Verkauf der Eingeborenenprodukte den Eingeborenenstaat als
Eigentum bekommen haben, welcher zwar gegenüber den lokalen Massen,
nicht aber gegenüber dem Imperialismus unabhängig ist. In diesem
Fall handelt es sich um eine künstliche Bourgeoisie, die nicht fähig
ist zu akkumulieren, sondern die bloß verschwendet und zwar
den ihr zukommenden Teil des Mehrwerts aus der lokalen Arbeit ebenso wie
die ausländischen Subsidien der Staaten oder der Monopole, die sie
schützen. Die Offensichtlichkeit der Unfähigkeit dieser bürgerlichen
Klassen, die normale wirtschaftliche Funktion der Bourgeoisie zu erfüllen,
führt dazu, daß sich gegenüber jeder dieser Klassen eine
Subversion nach dem mehr oder weniger den örtlichen Besonderheiten
angepaßten bürokratischen Modell bildet, die die Erbschaft der
Bourgeoisie übernehmen will. Aber der Erfolg selbst einer Bürokratie
bei ihrem Hauptprojekt der Industrialisierung enthielt notwendig die Perspektive
ihres geschichtlichen Scheiterns: wenn sie das Kapital akkumuliert, akkumuliert
sie auch das Proletariat, und erzeugt ihre eigene Widerlegung in einem
Land, in dem es noch nicht vorhanden war.
- In dieser komplexen und furchtbaren Entwicklung, die
die Epoche der Klassenkämpfe zu neuen Bedingungen geführt hat,
hat das Proletariat der industriellen Länder völlig die Behauptung
seiner selbständigen Perspektive und schließlich seine Illusionen,
doch nicht sein Sein verloren. Es ist nicht aufgehoben. Seine Existenz
in der gesteigerten Entfremdung des modernen Kapitalismus dauert unerbittlich
fort: dieses Proletariat besteht aus der ungeheuren Mehrzahl der Arbeiter,
die jede Macht über die Bestimmung ihres Lebens verloren haben und
sich, sobald sie das wissen, wieder als Proletariat definieren,
als das in dieser Gesellschaft wirkende Negative. Dieses Proletariat wird
objektiv durch den Prozeß des Verschwindens der Bauernschaft und
durch die Ausweitung der Logik in der Fabrikarbeit, die sich auf einen
großen Teil der "Dienstleistungen" und der intellektuellen
Berufe erstreckt, verstärkt. Subjektiv ist dieses Proletariat
noch von seinem praktischen Klassenbewußtsein entfernt, nicht nur
bei den Angestellten, sondern auch bei den Arbeitern, die erst die Machtlosigkeit
und die Mystifizierung der alten Politik entdeckt haben. Wenn das Proletariat
jedoch entdeckt, daß seine geäußerte eigene Kraft zur
fortwährenden Verstärkung der kapitalistischen Gesellschaft beiträgt,
nicht mehr nur in der Form seiner Arbeit, sondern auch in der Form der
Gewerkschaften, der Parteien oder der staatlichen Macht, die es zu seiner
Emanzipierung gebildet hatte, entdeckt es auch durch die konkrete geschichtliche
Erfahrung, daß es die Klasse ist, die jeder erstarrten Äußerung
und jeder Spezialisierung der Macht vollständig Feind ist. Es trägt
die Revolution, die nichts außerhalb ihrer lassen kann, die
Forderung nach der fortwährenden Herrschaft der Gegenwart über
die Vergangenheit und die totale Kritik der Trennung; dazu muß es
die adäquate Form in der Aktion finden. Keine quantitative Verbesserung
seines Elends, keine Illusion hierarchischer Integration ist ein dauerhaftes
Heilmittel für seine Unzufriedenheit, denn das Proletariat kann sich
nicht wahrhaftig in einem besonderen Unrecht anerkennen, das an ihm verübt
worden wäre und folglich ebensowenig in der Wiedergutmachung eines
besonderen Unrechts oder vieler dieser Unrechte, sondern nur in dem
Unrecht schlechthin, an den Rand des Lebens gedrängt zu sein.
- Aus den neuen unbegriffenen und von der spektakulären
Anordnung verfälschten Zeichen der Negation, die sich in den wirtschaftlich
fortgeschrittensten Ländern mehren, läßt sich bereits diese
Schlußfolgerung ziehen, daß eine neue Epoche begonnen hat.
Nach dem ersten Versuch der Arbeitersubversion ist es jetzt der kapitalistische
Überfluß, der gescheitert ist. Wenn die antigewerkschaftlichen
Kämpfe der westlichen Arbeiter zunächst von den Gewerkschaften
unterdrückt werden und wenn die aufständischen Strömungen
der Jugend einen ersten formlosen Protest erheben, in dem jedoch die Verweigerung
der alten spezialisierten Politik, der Kunst und des Alltagslebens unmittelbar
eingeschlossen ist, sind das schon die beiden Gesichter eines neuen spontanen
Kampfes, der unter verbrecherischer Erscheinungsform beginnt. Es sind die
ersten Vorzeichen des zweiten proletarischen Ansturms gegen die Klassengesellschaft.
Wenn die verlorenen Posten dieser noch bewegungslosen Armee wieder auf
diesem andersgewordenen und gleichgebliebenen Gelände stehen, folgen
sie einem neuen "General Ludd", der sie diesmal zur Zerstörung
der Maschinen des erlaubten Konsums losläßt.
- "Die endlich entdeckte politische Form, unter der
die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte",
hat in diesem Jahrhundert in den revolutionären Arbeiterräten
eine deutliche Gestalt angenommen, die in sich alle Funktionen der Entscheidung
und der Ausführung konzentrieren und sich vermittels von Vertretern
föderieren, die gegenüber der Basis verantwortlich und jederzeit
abrufbar sind. Ihre tatsächliche Existenz ist bisher erst ein kurzer
Versuch gewesen, der zugleich von den verschiedenen Kräften zur Verteidigung
der Klassengesellschaft, zu denen häufig auch ihr eigenes falsches
Bewußtsein zu zählen ist, bekämpft und besiegt wurde. Pannekoek
betonte gerade die Tatsache, daß die Wahl einer Macht der Arbeiterräte
eher "Probleme stellt" als eine Lösung bringt. Aber diese
Macht ist gerade der Ort, wo die Probleme der Revolution des Proletariats
ihre wahre Lösung finden können. Sie ist der Ort, wo die objektiven
Bedingungen des geschichtlichen Bewußtseins vereinigt sind; die Verwirklichung
der aktiven, direkten Mitteilung, wo die Spezialisierung, die Hierarchie
und die Trennung aufhören, wo die bestehenden Bedingungen in "Bedingungen
der Einheit" verwandelt worden sind. Hier kann das proletarische Subjekt
aus seinem Kampf gegen die Kontemplation hervortreten: sein Bewußtsein
ist der praktischen Organisation gleich, die es sich gegeben hat, denn
dieses Bewußtsein selbst ist untrennbar von dem kohärenten Eingriff
in die Geschichte.
- In der Macht der Räte, die jede andere Macht international
ersetzen muß, ist die proletarische Bewegung ihr eigenes Produkt
und dieses Produkt ist der Produzent selbst. Sie ist sich selbst ihr eigener
Zweck. Nur hier wird die spektakuläre Verneinung des Lebens ihrerseits
verneint.
- Das Auftauchen der Räte war die höchste Realität
der proletarischen Bewegung im ersten Viertel dieses Jahrhunderts, eine
Realität, die unbemerkt blieb oder entstellt wurde, weil sie mit dem
Rest einer Bewegung verschwand, die durch die Gesamtheit der damaligen
geschichtlichen Erfahrung verleugnet und beseitigt wurde. In dem neuen
Moment der proletarischen Kritik kehrt dieses Ergebnis als der einzige
unbesiegte Punkt der besiegten Bewegung wieder. Das geschichtliche Bewußtsein,
das weiß, daß es in ihm seinen einzigen Existenzraum hat, kann
es jetzt wiedererkennen, aber nicht mehr an der Peripherie dessen, was
zurückströmt, sondern im Zentrum dessen, was steigt.
- Eine vor der Macht der Räte bestehende revolutionäre
Organisation - die im Kampf ihre eigene Form wird finden müssen -
weiß bereits aus all diesen geschichtlichen Gründen, daß
sie die Klasse nicht repräsentiert. Sie muß sich selbst
nur als eine radikale Trennung von der Welt der Trennung erkennen.
- Die revolutionäre Organisation ist der kohärente
Ausdruck der Theorie der Praxis, die in nicht-einseitige Kommunikation
mit den praktischen Kämpfen tritt und zur praktischen Theorie wird.
Ihre eigene Praxis ist die Verallgemeinerung der Kommunikation und der
Kohärenz in diesen Kämpfen. In dem revolutionären Augenblick
der Auflösung der gesellschaftlichen Trennung muß diese Organisation
ihre eigene Auflösung als getrennte Organisation anerkennen.
- Die revolutionäre Organisation kann nur die einheitliche
Kritik der Gesellschaft sein, d.h. eine Kritik, die an keinem Punkt der
Welt mit irgendeiner Form von getrennter Macht paktiert, und eine Kritik,
die global gegen alle Aspekte des entfremdeten gesellschaftlichen Lebens
ausgesprochen wird. In dem Kampf der revolutionären Organisation gegen
die Klassengesellschaft sind die Waffen nichts anderes als das Wesen
der Kämpfer selbst: die revolutionäre Organisation kann in
sich nicht die Bedingungen der Entzweiung und der Hierarchie wieder erzeugen,
die die Bedingungen der herrschenden Gesellschaft sind. Sie muß fortwährend
gegen ihre Entstellung im herrschenden Spektakel kämpfen. Die einzige
Grenze der Teilnahme an der totalen Demokratie der revolutionären
Organisation ist die Anerkennung und die tatsächliche Selbstaneignung
der Kohärenz ihrer Kritik durch alle ihre Mitglieder, einer Kohärenz,
die sich in der eigentlichen kritischen Theorie und in deren Beziehung
zur praktischen Tätigkeit bewähren muß.
- Da die auf allen Ebenen immer weitergetriebene Verwirklichung
der kapitalistischen Entfremdung es den Arbeitern immer schwieriger macht,
ihr eigenes Elend zu erkennen und zu benennen und sie dadurch vor die Alternative
stellt, entweder ihr ganzes Elend oder nichts abzulehnen, hat die
revolutionäre Organisation lernen müssen, daß sie die
Entfremdung nicht mehr in entfremdeten Formen bekämpfen kann.
- Die proletarische Revolution hängt ganz und gar
von dieser Notwendigkeit ab, daß die Massen zum ersten Mal die Theorie
als Verständnis der menschlichen Praxis anerkennen und erleben müssen.
Sie fordert, daß die Arbeiter zu Dialektikern werden, und daß
sie der Praxis ihr Denken aufprägen; sie verlangt daher von den Männern
ohne Eigenschaften sehr viel mehr als die bürgerliche Revolution
von den qualifizierten Männern verlangte die sie zu ihrer Durchführung
beauftragte: denn das von einem Teil der bürgerlichen Klassen erzeugte,
parzellierte und ideologische Bewußtsein hatte jenen zentralen Teil
des gesellschaftlichen Lebens, die Wirtschaft, zur Grundlage, in der diese
Klasse bereits an der Macht war. Die eigene Entwicklung der Klassengesellschaft
zur spektakulären Organisation des Nicht-Lebens führt folglich
das revolutionäre Projekt dazu, sichtbar zu dem zu werden,
was es schon wesentlich war.
- Die revolutionäre Theorie ist jetzt jeder revolutionären
Ideologie Feind und sie weiß, daß sie es ist.
5. Kapitel
ZEIT UND GESCHICHTE
"Oh, edle Herrn, des Lebens Zeit ist kurz:
Wir treten Kön'ge nieder, wenn wir leben."
Shakespeare (Henry IV)
- Der Mensch, "das negative Wesen,
welches nur ist, insofern es Sein aufhebt", ist mit der Zeit identisch.
Die Aneignung seiner eigenen Natur durch den Menschen ist ebenfalls seine
Ergreifung der Entfaltung des Universums. "Die Geschichte selbst ist
ein wichtiger Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum
Menschen." (Marx). Umgekehrt hat diese "Naturgeschichte"
eine tatsächliche Existenz nur durch den Prozeß einer menschlichen
Geschichte, des einzigen Teils, der dieses geschichtliche Ganze wiederfindet,
wie das moderne Teleskop, das in der Zeit durch seine Reichweite
die fliehenden Nebelflecken an der Peripherie des Weltalls einholt. Die
Geschichte hat immer existiert, aber nicht immer in ihrer geschichtlichen
Form. Die Zeitigung des Menschen, wie sie durch die Vermittlung einer Gesellschaft
stattfindet, entspricht einer Vermenschlichung der Zeit. In dem geschichtlichen
Bewußtsein äußert sich die bewußtlose Bewegung der
Zeit und wird wahr.
- Die eigentlich geschichtliche Bewegung beginnt, wenn
auch noch verborgen, in der langsamen und unmerklichen Bildung "der
wirklichen Natur des Menschen", dieser "in der menschlichen Geschichte -
dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft - werdenden Natur",
aber die Gesellschaft, die sich dann einer Technik und einer Sprache bemeistert
hat, ist sich, wenn sie auch bereits das Produkt ihrer eigenen Geschichte
ist, nur einer immerwährenden Gegenwart bewußt. In dieser Gesellschaft
wird jede Kenntnis, die auf das Gedächtnis der Ältesten beschränkt
ist, stets von Lebenden getragen. Weder der Tod noch die Zeugung
werden als ein Gesetz der Zeit begriffen. Die Zeit steht still, wie ein
geschlossener Raum. Wenn eine komplexere Gesellschaft dazu kommt, sich
der Zeit bewußt zu werden, besteht ihre Arbeit vielmehr darin, diese
Zeit zu leugnen, denn sie sieht in der Zeit nicht das, was vergeht, sondern
das, was wiederkommt. Die statische Gesellschaft organisiert die Zeit nach
ihrer unmittelbaren Erfahrung der Natur, im Modell der zyklischen Zeit.
- Die zyklische Zeit ist bereits in der Erfahrung der Nomadenvölker
vorherrschend, denn vor ihnen finden sich in jedem Moment ihrer Wanderung
die gleichen Bedingungen wieder: Hegel bemerkt, daß "das Herumschweifen
der Nomaden nur formell ist, weil es in einförmige Kreise beschränkt
ist". Die Gesellschaft, die sich örtlich festsetzt und dabei
durch die Einrichtung individualisierter Orte dem Raum einen Inhalt gibt,
findet sich dadurch selbst im Inneren dieser Ortsbestimmung eingeschlossen.
Die zeitliche Rückkehr zu Orten, die sich gleichen, ist jetzt die
reine Wiederkehr der Zeit an einem gleichen Ort, die Wiederholung einer
Reihe von Gesten. Der Übergang vom Nomadentum der Hirten zur seßhaften
Landwirtschaft ist das Ende der inhaltslos-trägen Freiheit, der Beginn
der mühevollen Arbeit. Die von dem Rhythmus der Jahreszeiten beherrschte
agrarische Produktionsweise überhaupt ist die Basis der völlig
ausgebildeten Wiederkehr des Gleichen. Der Mythos ist die einheitliche
Konstruktion des Denkens, das die gesamte kosmische Ordnung um die Ordnung
herum garantiert, welche diese Gesellschaft tatsächlich bereits innerhalb
ihrer Grenzen verwirklicht hat.
- Die gesellschaftliche Aneignung der Zeit, die Erzeugung
des Menschen durch die menschliche Arbeit, entwickeln sich in einer in
Klassen geteilten Gesellschaft. Die Macht, die sich über der Knappheit
der Gesellschaft der zyklischen Arbeit gebildet hat, die Klasse, die diese
gesellschaftliche Arbeit organisiert und sich deren begrenzten Mehrwert
aneignet, eignet sich ebenso den zeitlichen Mehrwert ihrer Organisation
der gesellschaftlichen Zeit an: sie besitzt für sich allein die irreversible
Zeit des Lebendigen. Der einzige Reichtum, den es konzentriert in dem Bereich
der Macht geben kann, um materiell für festlichen Aufwand ausgegeben
zu werden, wird dabei auch als Vergeudung einer geschichtlichen Zeit
der Oberfläche der Gesellschaft ausgegeben. Die Eigentümer
des geschichtlichen Mehrwerts besitzen die Kenntnis und den Genuß
der erlebten Ereignisse. Diese Zeit, die von der kollektiven Organisation
der Zeit getrennt ist, welche mit der wiederholten Produktion der Grundlage
des gesellschaftlichen Lebens vorherrscht, fließt oberhalb ihrer
eigenen statischen Gemeinschaft. Es ist die Zeit des Abenteuers und des
Krieges, in der die Herren der zyklischen Gesellschaft ihre persönliche
Geschichte durchlaufen; es ist ebenso die Zeit, die in dem Zusammenstoß
zwischen fremden Gemeinschaften erscheint, die Störung der unveränderlichen
Ordnung der Gesellschaft. Die Geschichte ereignet sich folglich wie ein
fremder Faktor vor den Menschen, wie etwas, das sie nicht gewollt haben
und gegen das sie sich abgeschirmt glaubten. Aber auf diesem Umweg kehrt
auch die negative Unruhe des Menschlichen zurück, die am Ursprung
selbst der ganzen Entwicklung stand, welche eingeschlafen war.
- Die zyklische Zeit ist in sich selbst die Zeit ohne Konflikt.
Aber in dieser Kindheit der Zeit ist der Konflikt angelegt: die Geschichte
kämpft zunächst, um die Geschichte in der praktischen Tätigkeit
der Herren zu sein. Oberflächlich schafft diese Geschichte Irreversibles;
ihre Bewegung bildet die Zeit selbst, die sie ausschöpft, im Inneren
der unerschöpflichen Zeit der zyklischen Gesellschaft.
- Die "kalten Gesellschaften" sind diejenigen,
die ihren Teil Geschichte aufs äußerste verlangsamt haben; die
ihren Gegensatz zu der natürlichen und menschlichen Umgebung und ihre
inneren Gegensätze in ständigem Gleichgewicht gehalten haben.
Wenn die extreme Verschiedenartigkeit der zu diesem Zweck errichteten Institutionen
von der Plastizität der Selbstschöpfung der menschlichen Natur
zeugt, so erscheint dieses Zeugnis selbstverständlich nur dem außerhalb
stehenden Beobachter, dem aus der geschichtlichen Zeit zurückgekehrten
Ethnologen. In jeder dieser Gesellschaften hat eine endgültige
Strukturierung die Veränderung ausgeschlossen. Der absolute Konformismus
der bestehenden gesellschaftlichen Bräuche, mit denen sich alle die
menschlichen Möglichkeiten für immer identifiziert finden, kennt
als äußere Grenze nur die Furcht, in das formlose Tierwesen
zurückzufallen. Hier müssen die Menschen gleichbleiben, um im
Menschlichen zu bleiben.
- An der Schwelle einer Periode, die bis zum Erscheinen
der Industrie keine tiefgehenden Erschütterungen mehr erfahren wird,
bezeichnet die Geburt der politischen Macht, die in Beziehung zu den letzten
großen Revolutionen der Technik - wie dem Eisenguß -
zu stehen scheint, den Moment, der die Blutsverwandtschaft aufzulösen
beginnt. Von nun an tritt die Aufeinanderfolge der Generationen aus der
Sphäre des rein natürlichen Zyklischen heraus, um zu gerichtetem
Ereignis, zu Aufeinanderfolge von Mächten zu werden. Die irreversible
Zeit ist die Zeit desjenigen, der herrscht; und die Dynastien sind deren
erstes Maß. Die Schrift ist ihre Waffe. In der Schrift erreicht die
Sprache ihre volle unabhängige Wirklichkeit als Vermittlung zwischen
bewußten Wesen. Aber diese Unabhängigkeit ist mit der allgemeinen
Unabhängigkeit der getrennten Macht, als der die Gesellschaft bildenden
Vermittlung, identisch. Mit der Schrift erscheint ein Bewußtsein,
das nicht mehr in der unmittelbaren Beziehung zwischen den Lebenden getragen
und übertragen wird: ein unpersönliches Gedächtnis,
das der Verwaltung der Gesellschaft. "Die Schriftstücke sind
die Gedanken des Staates; die Archive sein Gedächtnis." (Novalis.)
- Die Chronik ist der Ausdruck der irreversiblen Zeit der
Macht und auch das Instrument, das das voluntaristische Fortschreiten dieser
Zeit, von ihrem früheren Verlauf ab, aufrechterhält; denn diese
Orientierung der Zeit muß mit der Kraft jeder einzelnen Macht zusammenbrechen;
und sie fällt wieder der gleichgültigen Vergessenheit der den
Bauernmassen allein bekannten zyklischen Zeit anheim, welche sich in dem
Zusammenbruch der Reiche und ihrer Chronologien niemals verändern.
Die Besitzer der Geschichte haben in die Zeit einen Sinn gesetzt:
eine Richtung, die auch eine Bedeutung ist. Aber diese Geschichte entfaltet
sich und vergeht gesondert: sie läßt die Tiefe der Gesellschaft
unbewegt, denn sie ist gerade das, was von der gemeinsamen Realität
getrennt bleibt. In dieser Hinsicht läßt sich die Geschichte
der Reiche des Orients für uns auf die Geschichte der Religionen zurückführen:
diese wieder verfallenen Chronologien haben nur die scheinbar autonome
Geschichte der Illusionen, die sie umhüllten, hinterlassen. Die Herren,
die unter dem Schutz des Mythos das Privateigentum an der Geschichte
im Besitz halten, besitzen es zunächst in der Art der Illusion:
in China und Ägypten hatten sie lange Zeit das Monopol der Unsterblichkeit
der Seele, wie ihre ersten anerkannten Dynastien die imaginäre Anordnung
der Vergangenheit sind. Aber dieser illusorische Besitz der Herren ist
auch der ganze zu jener Zeit mögliche Besitz einer gemeinsamen Geschichte
und ihrer eigenen Geschichte. Die Erweiterung ihrer tatsächlichen
Macht geht mit einer allgemeinen Verbreiterung des illusorischen mythischen
Besitzes einher. All dies ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß
die Herren in genau dem Maße, wie sie es übernahmen, mythisch
die Permanenz der zyklischen Zeit zu garantieren - wie zum Beispiel
in den jahreszeitlichen Riten der chinesischen Kaiser -, sich selbst
von derselben relativ befreit haben.
- Wenn die unerklärte dürre Chronologie der vergötterten
Macht, die zu ihren Dienern spricht, und die nur als irdische Ausführung
der Gebote des Mythos verstanden werden will, überwunden werden kann
und zur bewußten Geschichte wird, muß die wirkliche Teilnahme
an der Geschichte von umfassenden Gruppen erlebt worden sein. Aus dieser
praktischen Mitteilung zwischen denjenigen, die sich als die Besitzer einer
einzelnen Gegenwart anerkannt haben, die den qualitativen Reichtum
der Ereignisse als ihre Tätigkeit und als den Ort, worin sie standen -
ihre Epoche -, erfuhren, entsteht die allgemeine Sprache der geschichtlichen
Mitteilung. Diejenigen, für die die irreversible Zeit existiert hat,
entdecken in ihr zugleich die Denkwürdigkeit und das Drohen
der Vergessenheit: "Herodot aus Halikarnaß legt hier die
Ergebnisse seiner Untersuchung vor, damit die Zeit nicht die Werke der
Menschen auslöscht…"
- Das Nachdenken über die Geschichte ist nicht zu
trennen von dem Nachdenken über die Macht. Griechenland war
dieser Moment, in dem die Macht und deren Veränderung diskutiert und
begriffen wurden, die Demokratie der Herren der Gesellschaft. Hier
bestand das Gegenteil der Bedingungen, die der despotische Staat kannte,
in dem die Macht im unzugänglichen Dunkel seines konzentriertesten
Punktes stets nur mit sich selbst abrechnete: durch die Palastrevolution,
die bei Erfolg wie bei Mißerfolg gleichermaßen außer
Diskussion stehen. Jedoch existierte die aufgeteilte Macht der griechischen
Gemeinschaften nur in der Verausgabung eines gesellschaftlichen Lebens,
dessen Produktion getrennt und statisch in der Sklavenklasse verblieb.
Nur diejenigen, die nicht arbeiten, leben. Bei der Teilung der griechischen
Gemeinschaften, und bei dem Kampf um die Ausbeutung der fremden Städte,
wurde das Prinzip der Trennung, das jede von ihnen im Inneren begründete,
nach außen getragen. Griechenland, das die Weltgeschichte erträumt
hatte, gelang es nicht, sich angesichts der Invasion zu vereinen; es gelang
ihm nicht einmal, die Kalender seiner unabhängigen Städte zu
vereinigen. In Griechenland ist die geschichtliche Zeit bewußt geworden,
aber noch nicht selbstbewußt.
- Nach dem Verschwinden der örtlich günstigen
Bedingungen, die die griechischen Gemeinschaften gefunden hatten, wurde
der Rückschritt des westlichen geschichtlichen Denkens nicht von einer
Wiederherstellung der ehemaligen mythischen Organisationen begleitet. In
dem Aufeinanderstoßen der Mittelmeervölker, in der Bildung und
im Zusammenbruch des römischen Staats, tauchten halbgeschichtliche
Religionen auf, die zu grundlegenden Faktoren des neuen Bewußtseins
der Zeit und zur neuen Rüstung der getrennten Macht wurden.
- Die monotheistischen Religionen waren ein Kompromiß
zwischen dem Mythos und der Geschichte, zwischen der zyklischen Zeit, die
noch die Produktion beherrschte und der irreversiblen Zeit, in der die
Völker aufeinanderstoßen und sich wieder zusammensetzen. Die
aus dem Judentum hervorgegangenen Religionen sind die abstrakte universelle
Anerkennung der irreversiblen Zeit, die nun zwar demokratisiert ist und
allen offensteht, aber nur im Illusorischen. Die Zeit ist ganz und gar
auf ein einziges letztes Ereignis hin orientiert: "Das Reich Gottes
ist nah." Diese Religionen sind auf dem Boden der Geschichte entstanden
und haben sich auf ihm festgesetzt. Aber noch dort bleiben sie in radikalem
Gegensatz zur Geschichte. Die halbgeschichtliche Religion führt in
die Zeit einen qualitativen Ausgangspunkt ein, die Geburt Christi, die
Flucht Mohammeds, aber ihre irreversible Zeit - die eine tatsächliche
Akkumulation einleitet, die im Islam die Gestalt einer Eroberung und im
Christentum der Reformation die Gestalt einer Vermehrung des Kapitals wird
annehmen können - ist im religiösen Denken in Wirklichkeit
wie eine Zählung gegen den Strich umgekehrt: das Warten in
der abnehmenden Zeit auf den Zugang zur wahren anderen Welt, das Erwarten
des Jüngsten Gerichts. Die Ewigkeit ist aus der zyklischen Zeit herausgetreten.
Sie ist ihr Jenseits. Sie ist das Element, das die Irreversibilität
der Zeit herabsetzt, das die Geschichte in der Geschichte selbst abschafft,
indem sie sich als ein reines punktuelles Element, in das die zyklische
Zeit zurückgekehrt und verschwunden ist, auf die andere Seite der
irreversiblen Zeit stellt. Bossuet sagt noch: "Und mittels der
Zeit, die vergeht, gehen wir in die Ewigkeit ein, die nicht vergeht."
- Das Mittelalter, diese unvollendete mythische Welt, deren
Vollkommenheit außerhalb ihrer selbst lag, ist der Moment, in dem
die zyklische Zeit, die noch den Hauptteil der Produktion regelt, von der
Geschichte wirklich untergraben wird. Eine gewisse irreversible Zeitlichkeit
wird allen als Individuen zuerkannt, in der Aufeinanderfolge der Lebensalter,
in dem Leben, das als eine Reise angesehen wird, als Durchgang ohne Rückkehr
durch eine Welt, deren Sinn anderswo liegt: der Pilger ist der Mensch,
der aus dieser zyklischen Zeit heraustritt, um tatsächlich dieser
Reisende zu sein, der jeder Mensch als Zeichen ist. Das persönliche
geschichtliche Leben findet seine Vollendung stets in der Sphäre der
Macht, in der Teilnahme an den von der Macht geführten Kämpfen
und an den Kämpfen im Streit um die Macht; aber die irreversible Zeit
der Macht wird ins Unendliche geteilt bei der allgemeinen Vereinigung der
gerichteten Zeit der christlichen Zeitrechnung, in einer Welt des bewaffneten
Vertrauens, in der sich das Spiel der Herren um die Treue und das Bestreiten
der schuldigen Treue dreht. Diese feudale Gesellschaft, die aus dem Zusammentreffen
der "kriegerischen Organisation des Heerwesens während der Eroberung
selbst" und der "in den eroberten Ländern vorgefundenen
Produktivkräfte" (Die deutsche Ideologie) entstand -
und zur Organisation dieser Produktivkräfte muß man ihre religiöse
Sprache zählen -, hat die Herrschaft über die Gesellschaft
zwischen der Kirche und der staatlichen Macht geteilt, die ihrerseits in
den komplexen Beziehungen von Lehnsherrlichkeit und Vasallenschaft der
Grundlehen und der städtischen Gemeinden unterteilt war. In dieser
Verschiedenartigkeit des möglichen geschichtlichen Lebens enthüllte
sich die irreversible Zeit, durch welche bewußtlos die Tiefe der
Gesellschaft mitgerissen wurde, die von der Bourgeoisie in der Warenproduktion,
in der Gründung und Ausdehnung der Städte, in der kommerziellen
Entdeckung der Erde - dem praktischen Experimentieren, das jede mythische
Organisation des Kosmos für immer zerstört - erlebte Zeit,
allmählich als die unbekannte Arbeit der Epoche, als die große
offizielle geschichtliche Unternehmung dieser Welt mit den Kreuzzügen
gescheitert war.
- Im Herbst des Mittelalters wird die irreversible Zeit,
die auf die Gesellschaft übergreift, von dem an der alten Ordnung
haftenden Bewußtsein in der Form einer Zwangsvorstellung vom Tod
empfunden. Darin liegt die Melancholie der Auflösung einer Welt, der
letzten, in der sich die Sicherheit des Mythos noch der Geschichte das
Gleichgewicht hielt; und für diese Melancholie bewegt sich alles Irdische
nur in Richtung auf seinen Verfall. Die großen Aufstände der
Bauern Europas sind auch ihr Versuch einer Antwort auf die Geschichte,
die sie gewaltsam aus dem patriarchalischen Schlaf riß, den die feudale
Vormundschaft gewährleistet hatte. Es ist die millenaristische Utopie
der irdischen Verwirklichung des Paradieses, in der in den Vordergrund
tritt, was am Anfang der halbgeschichtlichen Religion stand, als die christlichen
Gemeinden, wie der jüdische Messianismus, von dem sie herkamen, jene
Antworten auf die Unruhen und das Unglück der Epoche, die unmittelbar
bevorstehende Verwirklichung des Reichs Gottes erwarteten und in der antiken
Gesellschaft einen Faktor der Unruhe und der Subversion beitrugen. Als
das Christentum schließlich die Macht im Kaiserreich mitbesaß,
widerlegte es zu rechter Zeit als bloßen Aberglauben all das, was
von dieser Hoffnung übriggeblieben war: dies ist die Bedeutung der
Augustinischen Behauptung, dem Archetyp aller satisfecit der modernen
Ideologie, wonach die eingesessene Kirche bereits seit langem dieses Reich
war, von dem man gesprochen hatte. Der soziale Aufstand des millenaristischen
Bauerntums definiert sich natürlich zunächst als ein Wille zur
Zerstörung der Kirche. Aber der Millenarismus entfaltet sich in der
geschichtlichen Welt und nicht auf dem Boden des Mythos. Die modernen rovolutionären
Hoffnungen sind nicht, wie Norman Cohn in "Das Ringen um das Tausendjährige
Reich" zu beweisen glaubt, irrationale Folgen der religiösen
Leidenschaft des Millenarismus. Es ist ganz im Gegenteil der Millenarismus,
ein revolutionärer Klassenkampf, der zum letzten Mal die Sprache der
Religion gebraucht, der bereits eine moderne revolutionäre Tendenz
ist, welcher noch das Bewußtsein fehlt, nur geschichtlich
zu sein. Die Millenaristen mußten verlieren, weil sie die Revolution
nicht als ihr eigenes Tun anerkennen konnten. Die Tatsache, daß sie
um zu handeln ein äußeres Zeichen der Entscheidung Gottes abwarten,
ist die Übersetzung ins Denken einer Praxis, in der die aufständischen
Bauern Anführern folgen, die nicht aus ihren eigenen Reihen stammen.
Die Bauernklasse konnte kein richtiges Bewußtsein darüber erreichen,
wie die Gesellschaft funktionierte und wie ihr eigener Kampf zu führen
war: weil der Bauernklasse diese Bedingungen der Einheit in ihrer Handlung
und in ihrem Bewußtsein fehlten, ist es zu erklären, daß
sie ihr Projekt in den Bildern des Gartens von Eden ausdrückte und
ihre Kriege eben diesen Bildern gemäß führte.
- Der neue Besitz am geschichtlichen Leben, die Renaissance,
die im Altertum ihre Vergangenheit und ihr Recht findet, trägt in
sich den freudigen Bruch mit der Ewigkeit. Ihre irreversible Zeit ist die
Zeit der unendlichen Akkumulation der Kenntnisse und das geschichtliche
Bewußtsein, das aus der Erfahrung der demokratischen Gemeinschaften
und der Kräfte, die sie zerstören, entstanden ist, fängt
mit Machiavelli wieder an, über die entheiligte Macht nachzudenken,
das Unaussprechliche über den Staat auszusprechen. In dem überschäumenden
Leben der italienischen Städte, in der Kunst der Feste, erfährt
sich das Leben als Genießen des Vergehens der Zeit. Aber dieses Genießen
des Vergehens mußte auch selbst vergänglich sein. Das Lied von
Lorenzo de' Medici, das Burckhardt als "eine wehmütige Ahnung
der kurzen Herrlichkeit der Renaissance selbst" betrachtet, ist das
Eigenlob, das sich dieses zerbrechliche Fest der Geschichte hielt: "Wie
schön die Jugend ist - die so bald vergeht."
- Die ständige Bewegung der Monopolisierung des geschichtlichen
Lebens durch den Staat der absoluten Monarchie, der Übergangsform
zur vollständigen Herrschaft der Bürgerklasse, läßt
in seiner Wahrheit erscheinen, was die neue irreversible Zeit der Bourgeoisie
ist. Die Bourgeoisie ist mit der zum ersten Mal vom Zyklischen befreiten
Zeit der Arbeit verknüpft. Die Arbeit ist mit der Bourgeoisie
zur Arbeit geworden, die die geschichtlichen Bedingungen verändert.
Die Bourgeoisie ist die erste herrschende Klasse, für die die Arbeit
ein Wert ist. Und die Bourgeoisie, die jedes Privileg abschafft und nur
den Wert anerkennt, der aus der Ausbeutung der Arbeit entspringt, hat gerade
mit der Arbeit ihren eigenen Wert als herrschende Klasse identisch gesetzt
und macht den Fortschritt der Arbeit zu ihrem eigenen Fortschritt. Die
Klasse, die die Waren und das Kapital akkumuliert, verändert ständig
die Natur, indem sie die Arbeit selbst verändert, indem sie deren
Produktivität entfesselt. Jedes gesellschaftliche Leben hat sich bereits
in der ornamentalen Armut des Hofes konzentriert, dem Schmuck der kalten
staatlichen Verwaltung, die im "Königsberuf" gipfelt; und
jede besondere geschichtliche Freiheit mußte ihrem Verlust zustimmen.
Die Freiheit des irreversiblen zeitlichen Spiels der Feudalherren hat sich
in ihren letzten verlorenen Schlachten mit den Kriegen der Fronde oder
der Erhebung der Schotten für Karl-Eduard verbraucht. Die Welt hat
sich von Grund auf verändert.
- Der Sieg der Bourgeoisie ist der Sieg der zutiefst
geschichtlichen Zeit, weil sie die Zeit der wirtschaftlichen Produktion
ist, die die Gesellschaft fortwährend und von Grund auf verändert.
Solange die agrarische Produktion die Hauptarbeit bleibt, nährt die
zyklische Zeit, die auf dem Grund der Gesellschaft gegenwärtig bleibt,
die verbündeten Kräfte der Tradition, die die Bewegung
hemmen. Aber die irreversible Zeit der bürgerlichen Wirtschaft rottet
diese Überreste auf der ganzen weiten Welt aus. Die Geschichte, die
bis dahin als die alleinige Bewegung der Individuen der herrschenden Klasse
erschien und folglich als Geschichte von Ereignissen geschrieben wurde,
wird jetzt als die allgemeine Bewegung begriffen, und in dieser
strengen Bewegung werden die Individuen aufgeopfert. Die Geschichte, die
ihre Grundlage in der politischen Wirtschaft entdeckt, kennt jetzt die
Existenz dessen, was ihr Unbewußtes war, das aber trotzdem noch das
Unbewußte bleibt, das sie nicht ans Licht ziehen kann. Nur diese
blinde Vorgeschichte, ein neues Fatum, das kein Mensch beherrscht, wurde
durch die Warenwirtschaft demokratisiert.
- Die Geschichte, die in der ganzen Tiefe der Gesellschaft
gegenwärtig ist, tendiert dahin, sich an der Oberfläche zu verlieren.
Der Triumph der irreversiblen Zeit ist auch ihre Verwandlung in die Zeit
der Dinge, weil die Waffe zu ihrem Sieg gerade die Serienproduktion
von Gegenständen nach den Gesetzen der Ware war. Das Hauptprodukt,
das die Wirtschaft von einem seltenen Luxusartikel in ein gefährliches
Konsumgut verwandelte, ist daher die Geschichte, aber lediglich
als Geschichte der abstrakten Bewegung der Dinge, die jeden qualitativen
Gebrauch des Lebens beherrscht. Während die frühere zyklische
Zeit einen wachsenden Teil von Individuen und Gruppen erlebter geschichtlicher
Zeit in sich trug, tendiert die Herrschaft der irreversiblen Zeit der Produktion
dahin, diese erlebte Zeit gesellschaftlich abzuschaffen.
- So machte die Bourgeoisie die Gesellschaft mit einer
irreversiblen geschichtlichen Zeit bekannt und zwang sie ihr auf, verweigert
ihr aber deren Gebrauch. "Somit hat es eine Geschichte gegeben,
aber es gibt keine mehr", weil die Klasse der Besitzer der Wirtschaft,
die nicht mit der Wirtschaftsgeschichte brechen kann, auch jede
andere irreversible Verwendung der Zeit als eine unmittelbare Bedrohung
verdrängen muß. Die herrschende Klasse, die aus Spezialisten
des Besitzes der Dinge besteht, die dadurch selbst ein Besitz der Dinge
sind, muß ihr Schicksal mit der Aufrechterhaltung dieser verdinglichten
Geschichte verknüpfen, mit der Permanenz einer neuen Unbeweglichkeit
in der Geschichte. Zum ersten Mal ist der Arbeiter, der an der Basis
der Gesellschaft steht, der Geschichte nicht materiell fremd,
denn irreversibel bewegt sich jetzt die Basis der Gesellschaft. In der
Forderung, die geschichtliche Zeit, die es macht, zu erleben, findet
das Proletariat das einfache, unvergeßliche Zentrum seines revolutionären
Projektes; und jeder der bis heute zerschlagenen Versuche, dieses Projekt
durchzuführen, kennzeichnet einen möglichen Ausgangspunkt des
geschichtlichen neuen Lebens.
- Die irreversible Zeit der Bourgeoisie, der Herrin der
Macht, präsentierte sich zunächst unter ihrem eigenen Namen,
als einen absoluten Ursprung, als das Jahr 1 der Republik. Aber die revolutionäre
Ideologie der allgemeinen Freiheit, die die letzten Reste der mythischen
Organisation der Werte und jede traditionelle Regelung der Gesellschaft
beseitigt hatte, ließ bereits den wirklichen Willen sichtbar werden,
den sie mit einem römischen Gewand bekleidet hatte: die verallgemeinerte
Handelsfreiheit. Als die Gesellschaft der Ware dann herausfand,
daß sie die Passivität wiederherzustellen hatte, die sie gründlich
hatte erschüttern müssen, um ihre eigene reine Herrschaft zu
erreichten, fand sie in dem "Christentum, mit seinem Kultus des abstrakten
Menschen, … die entsprechendste Religionsform" (Das Kapital).
Die Bourgeoisie hat darauf mit dieser Religion einen Kompromiß geschlossen,
der sich auch in der Vorstellung der Zeit ausdrückt: als ihr eigener
Kalender aufgegeben wurde, schmiegte sich ihre irreversible Zeit wieder
der christlichen Zeitrechnung an, deren Folge sie fortsetzte.
- Mit der Entstehung des Kapitalismus wird die irreversible
Zeit weltweit vereinheitlicht. Die Weltgeschichte wird Wirklichkeit,
denn die ganze Welt wird unter der Entwicklung dieser Zeit versammelt.
Aber die Geschichte, die überall und zugleich dieselbe ist, ist erst
noch die innergeschichtliche Ablehnung der Geschichte. Es ist die in gleiche
abstrakte Stücke geschnittene Zeit der wirtschaftlichen Produktion,
die sich auf dem ganzen Planeten als der gleiche Tag äußert.
Die vereinheitlichte irreversible Zeit ist die Zeit des Weltmarkts und
folglich die des Weltspektakels.
- Die irreversible Zeit der Produktion ist zunächst
das Maß der Waren. Daher ist die Zeit, die sich offiziell über
die ganze Weite der Welt hin als die allgemeine Zeit der Gesellschaft
behauptet, indem sie nur die spezialisierten Interessen bedeutet, aus
denen sie gebildet wird, nur eine besondere Zeit.
6. Kapitel
DIE SPEKTAKULÄRE ZEIT
"Nichts gehört unser, als nur die Zeit, in welcher
selbst der lebt, der keine Wohnung hat."
Balthasar Gracian (Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit).
- Die Zeit der Produktion, die Zeit
als Ware, ist eine unendliche Akkumulation von äquivalenten Intervallen.
Sie ist die Abstraktion der irreversiblen Zeit, deren Abschnitte alle auf
dem Chronometer ihre alleinige quantitative Gleichheit beweisen müssen.
Diese Zeit ist in ihrer ganzen Wirklichkeit, was sie in ihrer Austauschbarkeit
ist. Bei dieser gesellschaftlichen Herrschaft der Zeit als Ware ist
"die Zeit alles, der Mensch nichts mehr; er ist höchstens noch
die Verkörperung der Zeit" (Das Elend der Philosophie).
Es ist die entwertete Zeit, die vollständige Umkehrung der Zeit als
"Raum der menschlichen Entwicklung".
- Die allgemeine Zeit der menschlichen Nichtentwicklung
existiert auch unter dem ergänzenden Aspekt einer konsumierbaren
Zeit, die von dieser bestimmten Produktion aus zum täglichen Leben
der Gesellschaft als eine pseudozyklische Zeit zurückkehrt.
- Die pseudozyklische Zeit ist in Wirklichkeit nur die
konsumierbare Verkleidung der Zeit der Produktion, der Zeit als
Ware. Sie enthält deren wesentlichen Charaktere: austauschbare homogene
Einheiten und die Abschaffung der qualitativen Dimension. Aber als Nebenprodukt
dieser Zeit, die zur Herstellung - und Aufrechterhaltung - der
Rückständigkeit des konkreten täglichen Lebens bestimmt
ist, muß sie mit Pseudowertungen besetzt sein und in einer Folge
scheinbar individualisierter Momente erscheinen.
- Die pseudozyklische Zeit ist die Zeit des Konsums des
modernen wirtschaftlichen Überlebens, des vermehrten Überlebens,
worin das tägliche Erlebte ohne Entscheidungsgewalt und unterworfen
bleibt, aber nicht mehr der natürlichen Ordnung, sondern der in der
entfremdeten Arbeit entwickelten Pseudonatur; und so findet diese Zeit
ganz natürlich den alten zyklischen Rhythmus wieder, der das
Überleben der vorindustriellen Gesellschaften regelte. Die pseudozyklische
Zeit stützt sich auf die Überreste der zyklischen Zeit und stellt
aus ihnen zugleich neue homologe Zusammensetzungen her: den Tag und die
Nacht, die wöchentliche Arbeit und Ruhe, die Wiederkehr der Ferienzeiten.
- Die pseudozyklische Zeit ist eine Zeit, die von der
Industrie verändert worden ist. Die Zeit, die ihre Basis in der
Produktion der Waren hat, ist selbst eine konsumierbare Ware, die alles,
was sich vorher, während der Auflösungsphase der alten einheitlichen
Gesellschaft in Privatleben, Wirtschaftsleben und politisches Leben gegliedert
hatte, sammelt. Die gesamte konsumierbare Zeit der modernen Gesellschaft
wird schließlich als Rohmaterial neuer verschiedenartiger Produkte
verarbeitet, die sich auf dem Markt als gesellschaftlich organisierte Zeitanwendungen
durchsetzen. "Das Produkt, das in einer für die Konsumtion fertigen
Form existiert, kann von neuem zum Rohmaterial eines anderen Produkts werden".
(Das Kapital)
- In seinem fortgeschrittensten Bereich kommt der konzentrierte
Kapitalismus immer mehr zum Verkauf von "komplett ausgestatteten"
Zeitblöcken, von denen jeder eine einzige vereinheitlichte Ware bildet,
die eine bestimmte Zahl verschiedener Waren in sich integriert hat. So
kann in der sich ausdehnenden Wirtschaft der "Dienstleistungen"
und der Freizeit die Zahlungsformel "alles inbegriffen" auftauchen,
für die spektakuläre Wohnung, die kollektiven Pseudoreisen der
Ferien, das Abonnement auf den kulturellen Konsum und den Verkauf selbst
der Geselligkeit in der Form von "erregenden Gesprächen"
und "Begegnungen mit Persönlichkeiten". Diese Art spektakulärer
Ware, die natürlich nur in Funktion der zunehmenden Knappheit der
entsprechenden Wirklichkeiten Geltung haben kann, gehört ebenso natürlich
zu den schrittmachenden Artikeln der Modernisierung der Verkaufstechniken,
indem sie auf Kredit zahlbar ist.
- Die konsumierbare pseudozyklische Zeit ist die spektakuläre
Zeit, als Zeit des Konsums der Bilder im engen Sinn und zugleich, in ihrem
ganzen Ausmaß, ein Bild des Konsums der Zeit. Die Zeit des Konsums
der Bilder, das Medium aller Waren, ist untrennbar das Feld, auf dem die
Instrumente des Spektakels ihre volle Wirkung ausüben, und das Ziel,
das diese Instrumente global als Ort und zentrale Gestalt aller besonderen
Arten des Konsums darstellen: es ist bekannt, daß der ständige
Zeitgewinn, den die moderne Gesellschaft erstrebt - sei es durch die
Schnelligkeit der Beförderungsmittel oder durch den Gebrauch von Fertigsuppen -
für die Bevölkerung der Vereinigten Staaten positiv darin zum
Ausdruck kommt, daß allein das Zuschauen des Fernsehens sie durchschnittlich
zwischen drei und sechs Stunden täglich beschäftigt. Das gesellschaftliche
Bild des Konsums der Zeit wird seinerseits ausschließlich von den
Momenten der Freizeit und der Ferienzeit beherrscht, Momente, die von
fern vorgestellt werden und die, wie jede spektakuläre Ware, durch
Postulat begehrenswert sind. Diese Ware wird hier ausdrücklich als
der Moment des wirklichen Lebens ausgegeben, dessen zyklische Wiederkehr
es abzuwarten gilt. Aber in diesen dem Leben zugewiesenen Momenten selbst
ist es noch das Spektakel, das sich zu sehen und zu reproduzieren gibt
und dabei eine noch stärkere Intensität erreicht. Was als das
wirkliche Leben vorgestellt wurde, erweist sich lediglich als das Leben,
das noch wirklicher spektakulär ist.
- Diese Epoche, die sich selbst ihre Zeit wesentlich als
die beschleunigte Wiederkehr vielfältiger Festlichkeiten zeigt, ist
ebenso eine Epoche ohne Feste. Was in der zyklischen Zeit der Moment der
Teilnahme einer Gemeinschaft an der luxuriösen Verausgabung des Lebens
war, ist der Gesellschaft ohne Gemeinschaft und ohne Luxus unmöglich.
Wenn ihre allgemein verbreiteten Pseudofeste, Parodien des Dialogs und
der Gabe, zu einer wirtschaftlichen Mehrausgabe anregen, bringen sie nur
die stets das Versprechen einer neuen Enttäuschung kompensierende
Enttäuschung ein. Die Zeit des modernen Überlebens muß
sich im Spektakel um so nachdrücklicher anpreisen als sich ihr Gebrauchswert
vermindert hat. Die Wirklichkeit der Zeit ist durch die Werbung für
die Zeit ersetzt worden.
- Während der Konsum der zyklischen Zeit der alten
Gesellschaften mit der wirklichen Arbeit dieser Gesellschaften übereinstimmte,
steht der pseudozyklische Konsum der entwickelten Wirtschaft im Widerspruch
zu der abstrakten irreversiblen Zeit ihrer Produktion. Während die
zyklische Zeit die wirklich erlebte Zeit der unbeweglichen Illusion war,
ist die spektakuläre Zeit die illusorisch erlebte Zeit der sich verändernden
Wirklichkeit.
- Was stets neu im Produktionsprozeß der Dinge ist,
findet sich nicht im Konsum wieder, der die erweiterte Wiederkehr des Gleichen
bleibt. Weil die tote Arbeit weiterhin über die lebendige Arbeit herrscht,
herrscht in der spektakulären Zeit die Vergangenheit über die
Gegenwart.
- Als andere Seite des Mangels des allgemeinen geschichtlichen
Lebens hat das individuelle Leben noch keine Geschichte. Die Pseudoereignisse,
die sich in der spektakulären Dramatisierung drängen, sind nicht
von denjenigen erlebt worden, die über sie informiert sind; und außerdem
gehen sie mit jedem Pulsschlag der spektakulären Maschinerie in der
Inflation ihres beschleunigten Ersatzes verloren. Andererseits steht das,
was wirklich erlebt wurde, in keiner Beziehung zu der offiziellen irreversiblen
Zeit der Gesellschaft, und in direktem Gegensatz zu dem pseudozyklischen
Rhythmus des konsumierbaren Nebenprodukts dieser Zeit. Dieses individuell
Erlebte des getrennten täglichen Lebens bleibt ohne Sprache, ohne
Begriff, ohne kritischen Zugang zu seiner eigenen Vergangenheit, die nirgendwo
aufbewahrt ist. Es wird nicht mitgeteilt. Es ist unbegriffen und vergessen
zugunsten des falschen spektakulären Gedächtnisses für das
Undenkwürdige.
- Das Spektakel, als gegenwärtige gesellschaftliche
Organisation der Lähmung der Geschichte und des Gedächtnisses,
des Verzichtes auf die Geschichte, der sich auf der Grundlage der geschichtlichen
Zeit aufbaut, ist das falsche Bewußtsein von der Zeit.
- Um die Arbeiter zu dem Stand "freier" Produzenten
und Konsumenten von Zeit als Ware hinzuführen, war die Vorbedingung
die gewaltsame Enteignung ihrer Zeit. Die spektakuläre Wiederkehr
der Zeit ist erst von dieser ersten Enteignung des Produzenten an möglich
geworden.
- Der unreduzierbare biologische Teil, der in der Arbeit
als Abhängigkeit von dem natürlichen Zyklischen des Wachens und
des Schlafens wie auch in der Handgreiflichkeit der individuellen irreversiblen
Zeit des Lebensverschleißes vorhanden bleibt, ist für die moderne
Produktion nur nebensächlich; und als solche werden diese Elemente
in den offiziellen Proklamationen der Produktionsbewegung und der konsumierbaren
Trophäen, die die erschwingliche Äußerung dieses unaufhörlichen
Sieges sind, vernachlässigt. Das im verfälschten Zentrum der
Bewegung seiner Welt immobilisierte zuschauende Bewußtsein kennt
in seinem Leben keinen Übergang mehr zu seiner Verwirklichung und
zu seinem Tod. Wer darauf verzichtet hat, sein Leben zu verausgaben, darf
sich nicht mehr seinen Tod eingestehen. Die Werbung der Lebensversicherungen
gibt lediglich zu verstehen, daß der schuldig ist, wer stirbt, ohne
die Regulierung des Systems nach diesem wirtschaftlichen Verlust gesichert
zu haben; und die Werbung des american way of death betont seine
Fähigkeit, bei dieser Begegnung den größten Teil des Scheins
des Lebens aufrechtzuerhalten. An der gesamten übrigen Front der
Werbebombardierungen ist es rundweg verboten zu altern. Danach würde
es darauf ankommen, bei jedem ein "Jugend-Kapital" zu bewahren,
das, obschon es nur wenig benutzt worden ist, nicht beanspruchen kann,
die dauerhafte und kumulative Realität des Finanzkapitals zu erwerben.
Diese gesellschaftliche Abwesenheit des Todes ist mit der gesellschaftlichen
Abwesenheit des Lebens identisch.
- Die Zeit ist die notwendige Entäußerung,
wie Hegel zeigte, die Sphäre, in der sich das Subjekt verwirklicht,
indem es sich verliert, anders wird, um die Wahrheit seiner selbst zu werden.
Aber ihr Gegenteil ist gerade die herrschende Entfremdung, die der Produzent
einer fremden Gegenwart erfährt. In dieser räumlichen
Entfremdung trennt die Gesellschaft das Subjekt an der Wurzel von der
Tätigkeit, die sie ihm raubt, zunächst aber von seiner eigenen
Zeit. Die überwindbare gesellschaftliche Entfremdung ist gerade diejenige,
die die Möglichkeiten und die Risiken der lebendigen Entäußerung
in der Zeit verwehrt und versteinert hat.
- Hinter den erscheinenden Moden, die einander an
der tändelhaften Oberfläche der kontemplierten pseudozyklischen
Zeit vernichten und wiederzusammensetzen, besteht der große Stil
der Epoche stets in dem, was durch die offensichtliche und geheime Notwendigkeit
der Revolution orientiert wird.
- Die natürliche Grundlage der Zeit, die sinnliche
Gegebenheit des Verfließens der Zeit, wird menschlich und gesellschaftlich,
indem sie für den Menschen existiert. Der bornierte Stand der
menschlichen Praxis, die Arbeit in ihren verschiedenen Stadien, hat bis
heute die Zeit als zyklische Zeit und als irreversible getrennte Zeit der
Wirtschaftsproduktion vermenschlicht und auch entmenscht. Das revolutionäre
Projekt einer klassenlosen Gesellschaft, eines verallgemeinerten geschichtlichen
Lebens, ist das Projekt eines Absterbens des gesellschaftlichen Zeitmaßes
zugunsten eines ludistischen Modells irreversibler Zeit der Individuen
und Gruppen, eines Modells, in dem gleichzeitig verbündete unabhängige
Zeiten vorhanden sind. Es ist das Programm einer totalen Verwirklichung
des Kommunismus, der "alles von den Individuen unabhängig Bestehende"
abschafft, in der Sphäre der Zeit.
- Die Welt besitzt schon den Traum von einer Zeit, von
der sie jetzt das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich
zu erleben.
7. Kapitel
DIE RAUMORDNUNG
"Und wer Herr einer bisher freien Stadt wird und
sie nicht vernichtet, mag darauf gefaßt sein, von ihr vernichtet
zu werden. Denn die Bürger können sich bei einer Empörung
stets auf ihre Freiheit und alte Verfassung berufen, welche weder die Zeit
noch empfangene Wohltaten in ihrem Gedächtnis auszulöschen vermögen.
Was für Maßregeln und Verkehrungen auch der Eroberer trifft:
wenn er die Einwohner nicht auseinanderreißt und zerstreut, vergessen
sie ihre Freiheit und Verfassung nie …"
Machiavelli (Der Fürst).
- Die kapitalistische Produktion hat
den Raum vereinheitlicht, der von keinen Außengesellschaften mehr
begrenzt ist. Diese Vereinheitlichung ist zugleich ein extensiver und intensiver
Prozeß der Banalisierung. So wie die Akkumulation der für
den abstrakten Raum des Marktes in Serie produzierten Waren alle regionalen
und gesetzlichen Schranken und alle korporativen Beschränkungen des
Mittelalters, die die Qualität der handwerksmäßigen
Produktion aufrechterhielten, brechen mußte, mußte sie auch
die Autonomie und die Qualität der Orte auflösen. Diese Macht
der Homogenisierung ist die schwere Artillerie, die alle chinesischen Mauern
in den Grund geschossen hat.
- Um immer identischer mit sich selbst zu werden, um sich
der unbeweglichen Eintönigkeit möglichst weit zu nähern,
wird der freie Raum der Ware nunmehr ständig verändert
und wiederaufgebaut.
- Diese Gesellschaft, die die geographische Entfernung
abschafft, nimmt im Inneren die Entfernung als spektakuläre Trennung
wieder auf.
- Das Nebenprodukt der Warenzirkulation, die als Konsum
betrachtete menschliche Zirkulation, d.h. der Tourismus, läßt
sich im wesentlichen auf die Muße zurückführen, das zu
besichtigen, was banal geworden ist. Die wirtschaftliche Erschließung
des Besuchs verschiedener Orte ist bereits von selbst die Garantie ihrer
Äquivalenz. Dieselbe Modernisierung, die der Reise die Zeit
entzogen hat, hat ihr auch die Realität des Raums entzogen.
- Die Gesellschaft, die ihre ganze Umgebung modelliert,
hat sich eine spezielle Technik geschaffen, um die konkrete Basis dieser
Aufgabengruppe zu bearbeiten: ihr Territorium selbst. Der Urbanismus ist
diese Inbesitznahme der natürlichen und menschlichen Umwelt durch
den Kapitalismus, der, indem er sich logisch zur absoluten Herrschaft entwickelt,
jetzt das Ganze des Raums als sein eigenes Bühnenbild umarbeiten
kann und muß.
- Das kapitalistische Erfordernis, das im Urbanismus als
sichtbarer Vereisung des Lebens befriedigt wird, kann - mit Hegelschen
Worten gesagt - als die absolute Vorherrschaft "des ruhigen Nebeneinander
des Raums" über "das unruhige Werden im Nacheinander der
Zeit" ausgedrückt werden.
- Wenn alle technischen Kräfte der kapitalistischen
Wirtschaft als trennungschaffende Kräfte zu verstehen sind, handelt
es sich im Fall des Urbanismus um die Ausrüstung ihrer allgemeinen
Basis, um die Bearbeitung des für ihre Entfaltung geeigneten Bodens;
um die Technik der Trennung selbst.
- Der Urbanismus ist die moderne Ausführung der ununterbrochenen
Aufgabe, die die Klassenherrschaft sicherstellt: die Aufrechterhaltung
der Atomisierung der Arbeiter, die durch die städtischen Produktionsbedingungen
gefährlich zusammengebracht worden waren. Der ständige
Kampf, der gegen alle Aspekte dieser Möglichkeit der Begegnung geführt
werden mußte, findet im Urbanismus sein bevorzugtes Feld. Die Bemühung
aller etablierten Mächte seit den Erfahrungen der französischen
Revolution, die Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung in den Straßen
zu vermehren, gipfelt schließlich in der Abschaffung der Straße.
"Mit den Massenkommunikationsmitteln über große Entfernungen
hat sich herausgestellt, daß die Isolierung der Bevölkerung
ein viel wirksameres Mittel der Kontrolle ist", stellt Lewis Mumford
in The City in History fest, wo er eine "von nun an bestehende
Einbahnwelt" beschreibt. Aber die allgemeine Isolierungsbewegung,
die die Realität des Urbanismus ist, muß auch eine kontrollierte
Wiedereingliederung der Arbeiter nach den planbaren Erfordernissen der
Produktion und des Konsums enthalten. Die Integration in das System muß
die isolierten Individuen als gemeinsam isolierte Individuen wieder
in Besitz nehmen: die Betriebe wie die Kulturzentren, die Feriendörfer
wie die großen Wohnsiedlungen sind speziell für die Ziele dieser
Pseudogemeinschaftlichkeit organisiert, die das vereinzelte Individuum
auch in die Familienzelle begleitet: die verallgemeinerte Verwendung
von Empfängern der Spektakelbotschaft bewirkt, daß seine Vereinzelung
von den herrschenden Bildern bevölkert wird, von Bildern, die erst
durch diese Vereinzelung ihre volle Macht erreichen.
- Zum ersten Mal ist eine neue Architektur, die in jeder
früheren Epoche der Befriedigung der herrschenden Klassen vorbehalten
war, direkt den Armen zugedacht. Das formale Elend und die riesenhafte
Ausdehnung dieser neuen Wohnungserfahrung sind die Folge ihres Massencharakters,
den sowohl ihre Bestimmung als auch die modernen Konstruktionsbedingungen
einschließen. Die autoritäre Entscheidung, die abstrakt
den Raum zu einem Raum der Abstrakten anordnet, steht natürlich im
Zentrum dieser modernen Konstruktionsbedingungen. Die gleiche Architektur
erscheint überall dort, wo die Industrialisierung der in dieser Hinsicht
zurückgebliebenen Länder beginnt, als der neuen gesellschaftlichen
Existenzweise - die es dort ansässig zu machen gilt - adäquates
Terrain. Die überschrittene Wachstumsschwelle der materiellen Macht
der Gesellschaft und die Verzögerung der bewußten Beherrschung
dieser Macht treten im Urbanismus genauso offen zu Tage wie in den Fragen
der thermonuklearen Bewaffnung und der Geburtenfrequenz - und im letzteren
Fall geht es so weit, daß die Möglichkeit einer Manipulation
der Erblichkeit bereits erreicht worden ist.
- Der gegenwärtige Moment ist bereits derjenige der
Selbstzerstörung des städtischen Milieus. Die Zersplitterung
der Städte auf das Land, das durch "formlose Massen städtischer
Überbleibsel" (Lewis Mumford) überwachsen wird, wird unmittelbar
von den Erfordernissen des Konsums geleitet. Die Diktatur des Automobils,
des Schrittmacherproduktes der ersten Phase des Warenüberflusses,
hat sich durch die Herrschaft der Autobahn, die die alten Zentren sprengt
und eine immer mehr geförderte Versprengung gebietet, in das Gelände
eingeprägt. Zugleich polarisieren sich vorübergehend die Momente
der unvollendeten Reorganisation des städtischen Gefüges um die
"Distributionsfabriken" herum, um die riesigen Supermarkets,
die auf dem nackten Gelände, auf einem Parkplatz-Sockel, errichtet
sind; und diese Tempel des überstürzten Konsums fliehen selbst
in der zentrifugalen Bewegung, die sie wieder abstößt, sobald
sie ihrerseits zu überlasteten Sekundärzentren geworden sind,
weil sie zu einer teilweisen Neuzusammensetzung der Ballung geführt
haben. Aber die technische Organisation des Konsums steht lediglich im
Vordergrund der allgemeinen Auflösung, die die Stadt auf diese Weise
dahingebracht hat, daß sie sich selbst konsumiert.
- Die Wirtschaftsgeschichte, die sich ganz und gar um den
Gegensatz Stadt - Land herum entwickelt hat, hat eine Erfolgsstufe
erreicht, die die beiden Seiten gleichzeitig vernichtet. Die heutige Lähmung
der gesamten geschichtlichen Entwicklung zugunsten der alleinigen Fortsetzung
der selbständigen Bewegung der Wirtschaft macht den Moment, in dem
die Stadt und das Land zu verschwinden beginnen, nicht zur Aufhebung
ihrer Entzweiung, sondern zu ihrem gleichzeitigen Zusammenbruch. Die
gegenseitige Abnutzung der Stadt und des Landes, das Produkt des Versagens
der geschichtlichen Bewegung, durch die die bestehende städtische
Wirklichkeit überwunden werden sollte, erscheint in der eklektischen
Mischung ihrer zerlegten Bestandteile, die die in der Industrialisierung
fortgeschrittensten Zonen überdeckt.
- Die Weltgeschichte ist in den Städten entstanden,
und sie ist in dem Moment des entscheidenden Sieges der Stadt über
das Land mündig geworden. Marx sieht es als eines der größten
revolutionären Verdienste der Bourgeoisie an, daß "sie
das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen hat", deren Luft
freimacht. Aber wenn die Geschichte der Stadt die Geschichte der Freiheit
ist, so war sie auch die Geschichte der Tyrannei, der staatlichen Verwaltung,
die das Land und die Stadt selbst kontrolliert. Die Stadt konnte bisher
nur der Kampfplatz der geschichtlichen Freiheit sein und nicht deren Besitz.
Die Stadt ist das Milieu der Geschichte, weil sie zugleich Konzentration
der gesellschaftlichen Macht, die das geschichtliche Unternehmen möglich
macht, und Bewußtsein der Vergangenheit ist. Die gegenwärtige
Tendenz zur Liquidierung der Stadt äußert daher nur auf eine
andere Weise die Verzögerung bei der Unterordnung der Wirtschaft unter
das geschichtliche Bewußtsein und bei einer Vereinigung der Gesellschaft,
die die Mächte wieder ergreift, die sich von ihr abgehoben haben.
- "Das Land bringt gerade die entgegengesetzte Tatsache,
die Isolierung und Vereinzelung, zur Anschauung" (Die deutsche
Ideologie). Der Urbanismus, der die Städte zerstört, baut
ein neues Pseudo-Land auf, in dem die natürlichen Verhältnisse
des alten Landes genauso wie die direkten und direkt in Frage gestellten
gesellschaftlichen Verhältnisse der geschichtlichen Stadt verloren
sind. Eine neue künstliche Bauernschaft wird durch die Bedingungen
der Siedlung und der spektakulären Kontrolle in dem heutigen "geordneten
Raum" geschaffen: die Verstreuung im Raum und die bornierte Mentalität,
die stets die Bauernschaft daran gehindert haben, eine unabhängige
Aktion zu unternehmen und sich als schöpferische geschichtliche Macht
zu behaupten, bilden wieder die Merkmale der Produzenten - und die
Bewegung einer Welt, die sie selbst erzeugen, bleibt ihnen genauso unerreichbar,
wie es der natürliche Rhythmus der Arbeiten für die Agrargesellschaft
war. Aber wenn diese Bauernschaft, die die unerschütterliche Basis
des "orientalischen Despotismus" war und deren Zersplitterung
selbst nach der bürokratischen Zentralisierung rief, als Produkt der
Wachstumsbedingungen der modernen staatlichen Bürokratisierung wieder
auftaucht, muß ihre Apathie diesmal geschichtlich erzeugt
und erhalten worden sein; die natürliche Unwissenheit hat dem
organisierten Spektakel des Irrtums Platz gemacht. Die "neuen Städte"
der technologischen Pseudobauernschaft prägen in das Terrain deutlich
den Bruch mit der geschichtlichen Zeit ein, auf die sie aufgebaut sind;
ihr Motto kann lauten: "Hier selbst wird nie etwas geschehen und hier
ist nie etwas geschehen". Weil die Geschichte, die es in den Städten
zu befreien gilt, in ihnen noch nicht befreit worden ist, gerade darum
beginnen die Kräfte der geschichtlichen Abwesenheit, ihre eigene
exklusive Landschaft zusammenzustellen.
- Die Geschichte, die diese dämmernde Welt bedroht,
ist auch die Kraft, die der erlebten Zeit den Raum unterwerfen kann. Die
proletarische Revolution ist diese Kritik der menschlichen Geographie,
durch die die Individuen und die Gemeinschaften die Landschaften und die
Ereignisse konstruieren müssen, die der Aneignung nicht mehr nur ihrer
Arbeit, sondern ihrer gesamten Geschichte entsprechen. In diesem bewegten
Raum des Spiels und der freigewählten Variationen der Spielregeln
kann die Autonomie des Ortes wiedergefunden werden, ohne eine neue ausschließende
Bindung an den Boden einzuführen, und dadurch die Wirklichkeit der
Reise und des als Reise verstandenen Lebens zurückbringen, einer Reise,
die in sich selbst all ihren Sinn hat.
- Die größte revolutionäre Idee über
den Urbanismus ist selbst weder urbanistisch noch technologisch oder ästhetisch.
Es ist die Entscheidung, den Raum nach den Bedürfnissen der Macht
der Arbeiterräte, der anti-staatlichen Diktatur des Proletariats,
des vollstreckbaren Dialogs vollständig wiederaufzubauen. Und die
Macht der Räte, die nur wirklich sein kann, wenn sie die Totalität
der bestehenden Bedingungen verändert, wird sich, wenn sie anerkannt
werden will und sich selbst in ihrer Welt erkennen will,
keine geringere Aufgabe stellen können.
8. Kapitel
DIE NEGATION UND DER KONSUM IN DER KULTUR
"Wir werden eine politische Revolution erleben? Wir,
die Zeitgenossen dieser Deutschen? Mein Freund, Sie glauben, was Sie wünschen…
Wenn ich Deutschland nach seiner bisherigen und nach seiner gegenwärtigen
Geschichte beurteile, so werden Sie mir nicht einwerfen, seine ganze Geschichte
sei verfälscht, und seine ganze jetzige Öffentlichkeit stelle
nicht den eigentlichen Zustand des Volkes dar. Lesen Sie die Zeitungen,
welche Sie wollen, überzeugen Sie sich, daß man nicht aufhört -
und Sie werden zugeben, daß die Zensur niemand hindert aufzuhören -,
die Freiheit und das Nationalglück zu loben, welches wir besitzen…"
Ruge (Brief an Marx, März 1843 ).
- Die Kultur ist, in der in Klassen
geteilten geschichtlichen Gesellschaft, die allgemeine Sphäre der
Erkenntnis und der Vorstellungen des Erlebten; d.h. sie ist jenes Vermögen
der Verallgemeinerung, das getrennt besteht, als Teilung der intellektuellen
Arbeit und als intellektuelle Arbeit der Teilung. Die Kultur hat sich von
der Einheit der Gesellschaft des Mythos abgehoben, "wenn die Macht
der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze
ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit
gewinnen…" (Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems).
Indem sie ihre Unabhängigkeit gewinnt, fängt die Kultur eine
imperialistische Bewegung der Bereicherung an, die gleichzeitig der Niedergang
ihrer Unabhängigkeit ist. Die Geschichte, die die relative Autonomie
der Kultur und die ideologischen Illusionen über diese Autonomie schafft,
drückt sich auch als Kulturgeschichte aus. Und die gesamte Eroberungsgeschichte
der Kultur läßt sich als die Geschichte der Offenbarung ihrer
Unzulänglichkeit, als ein Fortgang zu ihrer Selbstauflösung begreifen.
Die Kultur ist der Ort der Suche nach der verlorenen Einheit. Bei dieser
Suche nach der Einheit ist die Kultur als getrennte Sphäre gezwungen,
sich selbst zu verneinen.
- Der Kampf zwischen Tradition und Neuerung, der das innere
Entwicklungsprinzip der Kultur der geschichtlichen Gesellschaften ist,
kann nur durch den ständigen Sieg der Neuerung fortgeführt werden.
Die Neuerung in der Kultur wird indessen von nichts anderem getragen, als
von der totalen geschichtlichen Bewegung, die, indem sie sich ihrer Totalität
bewußt wird, nach der Aufhebung ihrer eigenen kulturellen Voraussetzungen
strebt und auf die Abschaffung jeder Trennung hingeht.
- Der Aufschwung der Erkenntnisse der Gesellschaft, der
das Begreifen der Geschichte als das Herz der Kultur beinhaltet, gelangt
zu einer unwiderruflichen Selbsterkenntnis, die durch die Zerstörung
Gottes ausgedrückt wird. Aber diese "Voraussetzung aller Kritik"
ist zugleich auch die erste Verpflichtung zu einer endlosen Kritik. Wo
keine Verhaltensregel mehr fortbestehen kann, wird die Kultur durch jedes
ihrer Resultate ihrer Auflösung näher gebracht. Wie die
Philosophie im Augenblick, in dem sie ihre volle Autonomie erlangt hat,
muß jede autonom gewordene Disziplin zusammenbrechen, und zwar zunächst
als Anspruch kohärenter Erklärung der gesellschaftlichen Totalität
und schließlich sogar als innerhalb ihrer eigenen Grenzen brauchbare
parzellierte Instrumentierung. Der Mangel an Rationalität der
getrennten Kultur ist das Element, das sie zu verschwinden verdammt, denn
in ihr ist der Sieg des Rationellen bereits als Forderung vorhanden.
- Die Kultur ist aus der Geschichte entstanden, die die
Lebensart der alten Welt aufgelöst hat, aber als getrennte Sphäre
ist sie noch nichts weiter, als das Verständnis und die sinnliche
Kommunikation, die in einer teilweise geschichtlichen Gesellschaft
partiell bleibt. Sie ist der Sinn einer allzuwenig sinnigen Welt.
- Das Ende der Kulturgeschichte äußert sich
auf zwei entgegengesetzten Seiten: im Projekt ihrer Aufhebung in der totalen
Geschichte und in der Veranstaltung ihrer Aufrechterhaltung als toter Gegenstand
in der spektakulären Kontemplation. Die eine dieser Bewegungen hat
ihr Schicksal mit der gesellschaftlichen Kritik, und die andere das ihre
mit der Verteidigung der Klassenherrschaft verknüpft.
- Jede der beiden Seiten des Endes der Kultur existiert
einheitlich sowohl in allen Aspekten der Erkenntnisse als in allen Aspekten
der sinnlichen Vorstellungen - existiert also in dem, was die Kunst
im allgemeinsten Sinne war. Im ersten Fall stehen einander die Akkumulation
fragmentarischer Kenntnisse, die darum unbrauchbar werden, weil die Billigung
der bestehenden Bedingungen auf ihre eigenen Kenntnisse schließlich
verzichten muß, und die Theorie der Praxis gegenüber, die die
einzige Inhaberin der Wahrheit aller Kenntnisse ist, indem sie als einzige
über das Geheimnis ihres Gebrauchs verfügt. Im zweiten Fall stehen
einander die kritische Selbstzerstörung der alten gemeinsamen Sprache
der Gesellschaft und ihre künstliche Wiederzusammensetzung im
Warenspektakel, die illusorische Vorstellung des Nichterlebten gegenüber.
- Die Gesellschaft muß, wenn sie die Gemeinschaft
der Gesellschaft des Mythos verliert, alle Bezugspunkte einer wirklich
gemeinsamen Sprache verlieren, bis zu dem Moment, da die Entzweiung der
untätigen Gemeinschaft durch das Gelangen zur wirklichen geschichtlichen
Gemeinschaft überwunden werden kann. Sobald sich die Kunst, die diese
gemeinsame Sprache der gesellschaftlichen Untätigkeit war, zur unabhängigen
Kunst im modernen Sinn herausbildet, wenn sie aus ihrem ursprünglichen
religiösen Universum hervortaucht und zur individuellen Produktion
getrennter Werke wird, erfährt sie als besonderer Fall die Bewegung,
die die Geschichte der gesamten getrennten Kultur beherrscht. Ihre unabhängige
Behauptung ist der Anfang ihrer Auflösung.
- Daß die Sprache der Kommunikation verloren wurde,
dies wird positiv durch die moderne Auflösungsbewegung aller
Kunst, durch ihre formale Vernichtung ausgedrückt. Was diese Bewegung
negativ ausdrückt, ist die Tatsache, daß eine gemeinsame
Sprache wiedergefunden werden muß - nicht mehr in der einseitigen
Schlußfolgerung, die für die Kunst der geschichtlichen Gesellschaft
immer zu spät kam, und anderen von dem sprach, was ohne
wirklichen Dialog erlebt wurde, und diese Mangelhaftigkeit des Lebens zuließ -,
aber auch daß diese Sprache in der Praxis wiedergefunden werden muß,
die die direkte Tätigkeit und deren Sprache in sich vereint. Es geht
darum, die Gemeinsamkeit des Dialogs und das Spiel mit der Zeit, die von
dem poetisch-künstlerischen Werk vorgestellt wurden, tatsächlich
zu besitzen.
- Wenn die unabhängig gewordene Kunst ihre Welt in
leuchtenden Farben malt, ist ein Moment des Lebens alt geworden, und mit
leuchtenden Farben läßt er sich nicht verjüngen, sondern
nur in der Erinnerung wachrufen. Die Größe der Kunst beginnt
erst mit der einbrechenden Dämmerung des Lebens zu erscheinen.
- Die geschichtliche Zeit, die auf die Kunst übergreift,
hat sich vom Barock an zunächst in der Sphäre der Kunst
selbst ausgedrückt. Das Barock ist die Kunst einer Welt, die ihr Zentrum
verloren hat: die vom Mittelalter anerkannte letzte mythische Ordnung im
Kosmos und in der irdischen Regierung - die Einheit des Christentums
und das Gespenst eines Kaiserreichs - ist zusammengebrochen. Die Kunst
der Veränderung muß in sich das ephemere Prinzip tragen,
das sie in der Welt vorfindet. Sie hat, so sagt Eugenio d'Ors, "das
Leben gegen die Ewigkeit" gewählt. Das Theater und das Fest,
das theatralische Fest, sind die herrschenden Momente der barocken Gestaltung,
in der jeder besondere künstlerische Ausdruck seinen Sinn erst durch
seine Verweisung auf das Bühnenbild eines konstruierten Ortes erhält,
auf eine Konstruktion, die ihr eigenes Vereinigungszentrum sein muß:
und dieses Zentrum ist das Vergehen, das als bedrohtes Gleichgewicht
in die dynamische Unordnung von allem eingeschrieben ist. Die manchmal
übertriebene Wichtigkeit, die der Begriff des Barocks in der zeitgenössischen
ästhetischen Diskussion erhalten hat, äußert das Bewußtwerden
der Unmöglichkeit eines künstlerischen Klassizismus: die Anstrengungen,
die zugunsten eines normativen Klassizismus oder Neoklassizismus seit drei
Jahrhunderten unternommen wurden, führten lediglich zu kurzen, künstlichen
Konstruktionen, die die äußere Sprache des Staates sprachen,
die Sprache der absoluten Monarchie oder der revolutionären Bourgeoisie
im römischen Gewand. Von der Romantik bis zum Kubismus folgte dem
allgemeinen Verlauf des Barocks schließlich eine immer stärker
individualisierte Kunst der Negation, die sich fortwährend erneuerte,
bis zur vollständigen Zerstückelung und Negation der künstlerischen
Sphäre. Das Verschwinden der geschichtlichen Kunst, die mit der internen
Kommunikation einer Elite verknüpft war, die ihre halbunabhängige
gesellschaftliche Basis in den teilweise ludistischen Bedingungen hatte,
die die letzten Aristokratien noch erlebten, äußert auch die
Tatsache, daß der Kapitalismus die erste Klassenherrschaft erfährt,
die ihren Mangel an jeder ontologischen Qualität bekennt; und deren
Macht, die in der bloßen Wirtschaftsverwaltung wurzelt, ebenso der
Verlust jeder menschlichen Meisterschaft ist. Das Barock als Ganzes,
das für die künstlerische Schöpfung eine seit langem
verlorene Einheit ist, findet sich gewissermaßen im jetzigen Konsum
der gesamten künstlerischen Vergangenheit wieder. Die geschichtliche
Kenntnis und Anerkennung der ganzen Kunst der Vergangenheit, die zurückblickend
zur Weltkunst erhoben wird, relativieren sie zu einer globalen Unordnung,
die ihrerseits auf einer höheren Stufe einen barocken Bau bildet,
in dem die Produktion einer barocken Kunst selbst und all ihre Wiedererscheinungen
verschmelzen müssen. Zum ersten Mal können die Künste aller
Zivilisationen und aller Epochen allesamt gekannt und zugelassen werden.
Diese "Er-lnnerung" der Geschichte der Kunst ist, indem sie möglich
wird, auch das Ende der Welt der Kunst. In dieser Epoche der Museen,
wenn es keine künstlerische Kommunikation mehr geben kann, können
alle alten Momente der Kunst gleichermaßen zugelassen werden, denn
kein Moment der Kunst leidet mehr, bei dem gegenwärtigen Verlust der
Kommunikationsbedingungen überhaupt, unter dem Verlust seiner
besonderen Kommunikationsbedingungen.
- In der Epoche ihrer Auflösung ist die Kunst als
negative Bewegung, die die Aufhebung der Kunst in einer geschichtlichen
Gesellschaft verfolgt, in der die Geschichte noch nicht erlebt wird, eine
Kunst der Veränderung und zugleich der reine Ausdruck der unmöglichen
Veränderung. Je grandioser ihre Forderung ist, um so mehr liegt ihre
wahre Verwirklichung jenseits ihrer. Diese Kunst ist gezwungenermaßen
Avantgarde und diese Kunst existiert nicht. Ihre Avantgarde
ist ihr Verschwinden.
- Der Dadaismus und der Surrealismus sind die beiden Strömungen,
die das Ende der modernen Kunst kennzeichneten. Sie sind, wenn auch nur
auf eine relativ bewußte Weise, Zeitgenossen des letzten großen
Sturmangriffs der revolutionären proletarischen Bewegung; und das
Scheitern dieser Bewegung, das sie gerade im künstlerischen Feld,
dessen Hinfälligkeit sie proklamiert hatten, eingeschlossen hielt,
ist der Hauptgrund für ihre Immobilisierung. Der Dadaismus und der
Surrealismus sind zugleich geschichtlich miteinander verknüpft und
stehen im Gegensatz zueinander. In diesem Gegensatz, der für jede
der beiden Strömungen auch den konsequentesten und radikalsten Teil
ihres Beitrags bildet, erscheint die innere Unzulänglichkeit ihrer
Kritik, die von der einen wie von der anderen nur einseitig entwickelt
wurde. Der Dadaismus wollte die Kunst aufheben, ohne sie zu verwirklichen;
und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie aufzuheben.
Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt,
daß die Aufhebung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen
Aspekte ein und derselben Überwindung der Kunst sind.
- Der spektakuläre Konsum, der die alte Kultur, die
angepaßte Wiederholung ihrer negativen Äußerung mit inbegriffen,
gefroren konserviert, wird offen in seinem kulturellen Bereich zu dem,
was er implizit in seiner Gesamtheit ist: die Kommunikation des Unmitteilbaren.
Die höchste Zerstörung der Sprache kann hier flach als ein offizieller
positiver Wert anerkannt werden, denn es geht nur darum, eine Versöhnung
mit dem herrschenden Zustand der Dinge zur Schau zu tragen, bei dem jede
Kommunikation freudig als abwesend proklamiert wird. Die kritische Wahrheit
dieser Zerstörung, als wirkliches Leben der modernen Kunst und Dichtung
ist natürlich versteckt, denn das Spektakel, dessen Funktion darin
besteht, in der Kultur die Geschichte in Vergessenheit zu bringen,
wendet in der Pseudoneuheit seiner modernistischen Mittel gerade die Strategie
an, die es im Grunde ausmacht. So kann sich eine Schule der Neo-Literatur
als neu ausgeben, die einfach zugibt, daß sie das Geschriebene um
seiner selbst willen betrachtet. Sonst versucht die modernste -und
mit der repressiven Praxis der allgemeinen Organisation der Gesellschaft
am engsten verbundene - Tendenz der spektakulären Kultur, neben
der bloßen Proklamation der hinreichenden Schönheit der Auflösung
des Kommunizierbaren, durch "Gesamtkunstwerke" aus den aufgelösten
Elementen ein komplexes neokünstlerisches Milieu wiederzusammenzusetzen;
besonders gilt das für die Bemühungen der Integrierung der künstlerischen
Trümmer und der technisch-ästhetischen Zwitter im Urbanismus.
Dies ist, auf die Ebene der spektakulären Pseudokultur, die Übertragung
jenes allgemeinen Projekts des entwickelten Kapitalismus, den Teilarbeiter
als "fest in die Gruppe integrierte Persönlichkeit" wieder
zu ergreifen, eine Tendenz, die von den jüngeren amerikanischen Soziologen
beschrieben wurde (Riesman, Whyte usw.). Es ist überall dasselbe Projekt
einer Neustrukturierung ohne Gemeinschaftlichkeit.
- Die Kultur, die ganz und gar zur Ware geworden ist, muß
auch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden. Clark Kerr,
einer der fortgeschrittensten Ideologen dieser Tendenz, hat errechnet,
daß der komplexe Produktions-, Distributions- und Konsumprozeß
der Kenntnisse schon 29 % des amerikanischen Nationalprodukts
jährlich mit Beschlag belegt; und er sieht voraus, daß die Kultur
in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die treibende Rolle in der
Wirtschaftsentwicklung spielen wird, die in der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts vom Kraftwagen und in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts von der Eisenbahn gespielt wurde.
- Die Gesamtheit der Kenntnisse, die sich zur Zeit als
Denken des Spektakels fortentwickelte, muß eine Gesellschaft
rechtfertigen, die keine Rechtfertigungen hat, und sich zu einer allgemeinen
Wissenschaft des falschen Bewußtseins herausbilden. Sie ist ganz
durch die Tatsache bedingt, daß sie ihre eigene materielle Grundlage
im spektakulären System weder denken kann noch will.
- Das Denken der gesellschaftlichen Organisation des Scheins
wird seinerseits durch die verallgemeinerte Hilfs-Kommunikation,
die es verteidigt, verdunkelt. Es weiß nicht, daß der Konflikt
der Vater aller Dinge seiner Welt ist. Die Spezialisten der Macht des Spektakels,
einer Macht, die im Inneren seines Systems einer Sprache ohne Antwort absolut
ist, sind durch ihre Erfahrung der Verachtung und des Gelingens der Verachtung
absolut korrumpiert; denn sie finden ihre Verachtung durch die Kenntnis
des verachtungswerten Menschen bestätigt, der der Zuschauer
wirklich ist.
- In dem spezialisierten Denken des spektakulären
Systems findet eine neue Teilung der Aufgaben je nachdem statt, wie die
Vervollkommnung dieses Systems selbst neue Probleme stellt: auf der einen
Seite unternimmt die moderne Soziologie, die die Trennung allein mit Hilfe
der begrifflichen und materiellen Instrumente der Trennung studiert, die
spektakuläre Kritik des Spektakels; auf der anderen Seite bildet
sich in den verschiedenen Disziplinen, in denen sich der Strukturalismus
einwurzelt, die Apologie des Spektakels zum Denken des Nichtdenkens,
zum berechtigten Vergessen der geschichtlichen Praxis heraus. Dennoch
sind die falsche Verzweiflung der undialektischen Kritik und der falsche
Optimismus der reinen Werbung des Systems als unterwürfiges Denken
identisch.
- Die Soziologie, die zunächst in den Vereinigten
Staaten damit begonnen hat, die mit der jetzigen Entwicklung geschaffenen
Existenzbedingungen zur Diskussion zu stellen, hat zwar zahlreiche empirische
Gegebenheiten anführen können, erkennt jedoch in keiner Weise
die Wahrheit ihres eigenen Gegenstandes, weil sie nicht in ihm selbst die
Kritik findet, die ihm immanent ist. Infolgedessen stützt sich die
aufrichtig reformistische Tendenz dieser Soziologie lediglich auf die Moral,
den gesunden Menschenverstand, auf höchst unpassende Appelle an die
Mäßigung usw. Weil eine derartige Kritik das Negative, das im
Zentrum ihrer Welt steht, nicht erkennt, beschreibt sie lediglich mit Nachdruck
eine Art negativen Überschusses, der ihr beklagenswerterweise die
Oberfläche dieser Welt zu überfüllen scheint, wie eine irrationelle
parasitäre Wucherung. Dieser entrüstete gute Wille, der es selbst
als solcher nicht weiter bringt als die äußere Form des Systems
zu tadeln, hält sich für kritisch und vergißt dabei den
wesentlich apologetischen Charakter seiner Voraussetzungen und seiner
Methode.
- Diejenigen, die die Aufforderung zur Verschwendung in
der Gesellschaft des wirtschaftlichen Überflusses als absurd oder
gefährlich denunzieren, wissen nicht, wozu die Verschwendung dient.
Sie verurteilen mit Undankbarkeit, im Namen der wirtschaftlichen Rationalität
die treuen irrationellen Wächter, ohne welche die Gewalt dieser wirtschaftlichen
Rationalität zusammenbrechen würde. Boorstin z.B., der in "Image"
den Warenkonsum des amerikanischen Spektakels beschreibt, erreicht niemals
den Begriff des Spektakels, weil er glaubt, das Privatleben oder die Idee
der "ehrlichen Ware" aus dieser unheilvollen Übertreibung
ausklammern zu können. Er versteht nicht, daß die Ware selbst
die Gesetze gemacht hat, deren "ehrliche" Anwendung ebenso zur
besonderen Realität des Privatlebens führt wie zu ihrer späteren
Rückeroberung durch den gesellschaftlichen Konsum von Bildern.
- Boorstin beschreibt die Übertreibungen einer Welt,
die uns fremd geworden ist, als Übertreibungen, die unserer Welt fremd
sind. Aber die "normale" Grundlage des gesellschaftlichen Lebens,
auf die er sich implizite bezieht, wenn er die oberflächliche Herrschaft
der Bilder, in der Sprache des psychologischen und moralischen Urteils,
als das Produkt "unserer extravaganten Ansprüche" bezeichnet,
besitzt weder in seinem Buch noch in seiner Epoche irgendeine Realität.
Gerade weil für Boorstin das wirkliche menschliche Leben, von dem
er spricht, in der Vergangenheit liegt, mit Einschluß der Vergangenheit
der religiösen Ergebung, kann er nicht die ganze Tiefe einer Gesellschaft
des Bildes begreifen. Die Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts
anderes als die Negation dieser Gesellschaft.
- Die Soziologie, die glaubt, eine getrennt funktionierende
industrielle Rationalität von der Gesamtheit des gesellschaftlichen
Lebens absondern zu können, kann bis dahin gehen, daß sie von
der globalen industriellen Bewegung die Techniken der Reproduktion und
der Übertragung absondert. So findet Boorstin den Grund der Ergebnisse,
die er ausmalt, in dem unglücklichen, gleichsam zufälligen Zusammentreffen
eines zu großen technischen Apparates zur Verbreitung der Bilder
mit einer zu großen Anziehungskraft, die die Pseudo-Sensation auf
die Menschen unserer Epoche ausübt. So läge der Grund für
das Spektakel in der Tatsache, daß der moderne Mensch zu sehr Zuschauer
sei. Boorstin begreift nicht, daß das Wuchern von vorgefertigten
"Pseudoereignissen", das er denunziert, aus der einfachen Tatsache
hervorgeht, daß die Menschen in der massiven Realität des jetzigen
gesellschaftlichen Lebens selbst keine Ereignisse erleben. Gerade weil
die Geschichte selbst in der modernen Gesellschaft wie ein Gespenst umgeht,
findet man Pseudogeschichte, die auf allen Ebenen des Konsums des Lebens
gebaut wird, um das bedrohte Gleichgewicht der heutigen eingefrorenen
Zeit zu erhalten.
- Die Behauptung der endgültigen Stabilität einer
kurzen Frostperiode der geschichtlichen Zeit ist die unleugbare, bewußtlos
und bewußt proklamierte Grundlage der heutigen Tendenz einer strukturalistischen
Systematisierung. Der Standpunkt, den das antigeschichtliche Denken
des Strukturalismus einnimmt, ist der der ewigen Gegenwart eines Systems,
das nie geschaffen wurde und nie enden wird. Der Traum der Diktatur einer
unbewußten vorgegebenen Struktur über jede gesellschaftliche
Praxis konnte mißbräuchlich aus den Strukturmodellen gezogen
werden, welche die Linguistik und die Ethnologie ausgearbeitet hatten (ja
sogar die Funktionsanalyse des Kapitalismus), Modelle, die bereits unter
diesen Umständen mißverstanden wurden, einfach deshalb,
weil ein akademisches Denken schnell befriedigter mittlerer Angestellter,
das vollständig in dem bewundernden Lob des bestehenden Systems versunken
ist, jede Realität einfach auf die Existenz des Systems zurückführt.
- Zum Verständnis der "strukturalistischen"
Kategorien, wie überhaupt bei jeder historischen sozialen Wissenschaft,
ist immer festzuhalten, daß die Kategorien Daseinsformen, Existenzbedingungen
ausdrücken. Sowenig man den Wert eines Individuums nach dem beurteilt,
was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man diese bestimmte Gesellschaft
bewerten - und bewundern -, indem man die Sprache, in der sie
zu sich selbst spricht, als unbestreitbar wahr annimmt. "Ebensowenig
kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen,
sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen
des materiellen Lebens … erklären …" Die Struktur ist
das Kind der gegenwärtigen Macht. Der Strukturalismus ist das vom
Staat garantierte Denken, das die gegenwärtigen Bedingungen der
spektakulären "Mitteilung" als ein Absolutes denkt. Seine
Art, den Code der Botschaften an sich selbst zu studieren, ist lediglich
das Produkt und die Anerkennung einer Gesellschaft, in der die Mitteilung
in der Form einer Kaskade hierarchischer Signale besteht. Es ist demnach
nicht der Strukturalismus, der zum Beweis der übergeschichtlichen
Gültigkeit der Gesellschaft des Spektakels dient; es ist im Gegenteil
die Gesellschaft des Spektakels, die sich als massive Realität durchsetzt
und zum Beweis des kalten Traums des Strukturalismus dient.
- Ohne Zweifel kann der kritische Begriff des Spektakels
auch in irgendeiner soziologisch-politischen rhetorischen Hohlformel
verbreitet werden, um abstrakt alles zu erklären und zu denunzieren,
und so der Verteidigung des spektakulären Systems dienen. Denn es
ist evident, daß keine Idee über das bestehende Spektakel, sondern
lediglich über die bestehenden Ideen vom Spektakel hinausführen
kann. Zur wirklichen Zerstörung der Gesellschaft des Spektakels bedarf
es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten. Die kritische
Theorie des Spektakels ist nur wahr, indem sie sich mit der praktischen
Strömung zur Negation in der Gesellschaft vereinigt, und diese Negation,
die Wiederaufnahme des revolutionären Klassenkampfes, wird sich ihrer
selbst bewußt werden, indem sie die Kritik des Spektakels entwickelt,
die die Theorie ihrer wirklichen Bedingungen, der praktischen Bedingungen
der gegenwärtigen Unterdrückung ist, und die umgekehrt das Geheimnis
dessen enthüllt, was sie zu sein vermag. Diese Theorie erwartet keine
Wunder von der Arbeiterklasse. Sie betrachtet die neue Formulierung und
Verwirklichung der proletarischen Forderungen als eine langwierige Aufgabe.
Um zwischen theoretischem und praktischem Kampf künstlich zu unterscheiden -
denn auf der hier definierten Grundlage läßt sich die Herausbildung
und die Mitteilung einer derartigen Theorie schon nicht ohne eine strenge
Praxis begreifen -, es steht fest, daß der dunkle und schwierige
Marsch der kritischen Theorie auch zum Schicksal der auf Gesellschaftsebene
handelnden praktischen Bewegung werden muß.
- Die kritische Theorie muß sich in ihrer
eigenen Sprache mitteilen. Diese Sprache ist die Sprache des Widerspruchs,
die in ihrer Form dialektisch sein muß, wie sie es in ihrem Inhalt
ist. Sie ist Kritik der Totalität und geschichtliche Kritik. Sie ist
kein "Nullpunkt des Schreibens", sondern seine Umkehrung. Sie
ist keine Negation des Stils, sondern der Stil der Negation.
- In ihrem Stil selbst ist die Darlegung der dialektischen
Theorie nach den Regeln der herrschenden Sprache und für den von ihnen
anerzogenen Geschmack ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in der
positiven Verwendung der bestehenden Begriffe zugleich auch das Verständnis
ihrer wiedergefundenen fließenden Bewegung, ihren notwendigen
Untergang einschließt.
- Dieser Stil, der seine eigene Kritik enthält, muß
die Herrschaft der gegenwärtigen Kritik über ihre ganze Vergangenheit
ausdrücken. Durch ihn bezeugt die Darlegungsweise der dialektischen
Theorie den negativen Geist, der in ihr steckt. Die Wahrheit ist nicht
"so, wie das Werkzeug von dem dortigen Gefäße wegbleibt …"
(Hegel.) Dieses theoretische Bewußtsein der Bewegung, in dem die
Spur der Bewegung selbst gegenwärtig sein muß, äußert
sich durch die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen den
Begriffen und durch die Entwendung aller Errungenschaften der früheren
Kritik. Die Umkehrung des Genitivs ist dieser in der Form des Denkens aufbewahrte
Ausdruck der geschichtlichen Revolutionen, der als der epigrammatische
Stil Hegels betrachtet wurde. Als der junge Marx, dem systematischen Gebrauch
Feuerbachs entsprechend, den Ersatz des Subjekts durch das Prädikat
empfahl, gelangte er zu der konsequentesten Anwendung dieses aufrührerischen
Stils, der aus der Philosophie des Elends das Elend der Philosophie
hervorzieht. Die Entwendung führt die vergangenen kritischen Folgerungen,
die zu ehrenwerten Wahrheiten erstarrt sind, d.h. in Lügen verwandelt
wurden, wieder der Subversion zu. Die Entwendung wurde bereits von Kierkegaard
bewußt gebraucht und dabei von ihm selbst denunziert: "Wie du
dich aber auch drehen und wenden magst: wie der Saft immer in der Speisekammer
endet, so kommst du immer dahin, ein kleines Wort einzumischen, das nicht
dein Eigentum ist und das durch die Erinnerung stört, die es erweckt."
(Philosophische Brocken.) Es ist die Verpflichtung zur Entfernung
von dem, was zur offiziellen Wahrheit verfälscht wurde, die diese
Anwendung der Entwendung bestimmt, zu der sich Kierkegaard in dem gleichen
Buch auf folgende Weise bekennt: "Nur eine Bemerkung will ich noch
machen in Bezug auf deine vielen Anspielungen, die alle darauf abzielten,
daß ich entlehnte Äußerungen in das Gesagte mischte. Ich
leugne nicht, daß dies der Fall ist, und will jetzt auch nicht verheimlichen,
daß es mit Absicht geschah und daß ich im nächsten Abschnitt
dieses Stückes, falls ich je einen solchen schreibe, im Sinn habe,
die Sache bei ihrem richtigen Namen zu nennen und dem Problem ein historisches
Kostüm anzuziehen."
- Die Ideen verbessern sich. Die Bedeutung der Worte trägt
dazu bei. Das Plagiat ist notwendig. Der Fortschritt impliziert es. Es
hält sich dicht an den Satz eines Verfassers, bedient sich seiner
Ausdrücke, beseitigt eine falsche Idee, ersetzt sie durch die richtige.
- Die Entwendung ist das Gegenteil des Zitats, der theoretischen
Autorität, die stets bereits deswegen verfälscht ist, weil sie
Zitat geworden ist; weil sie zu einem aus seinem Zusammenhang, aus seiner
Bewegung und schließlich aus seiner Epoche als globalem Bezugsrahmen
und aus der bestimmten Option, die es innerhalb dieses Bezugsrahmens war -
sei diese richtig oder irrig erkannt - gerissenen Fragment geworden
ist. Die Entwendung ist die flüssige Sprache der Antiideologie. Sie
erscheint in der Kommunikation, die weiß, daß sie nicht beanspruchen
kann, irgendeine Garantie in sich selbst und endgültig zu besitzen.
Sie ist, im höchsten Grad, die Sprache, die kein früherer und
überkritischer Bezugspunkt bestätigen kann. Ihre eigene Kohärenz,
in ihr selbst und mit den praktikablen Tatsachen, kann im Gegenteil den
früheren Wahrheitskern, den sie wiederbringt, bestätigen. Die
Entwendung hat ihre Sache auf nichts gestellt, was außerhalb ihrer
eigenen Wahrheit als gegenwärtiger Kritik liegt.
- Was sich in der theoretischen Formulierung offen als
entwendet darstellt, indem es jede dauerhafte Autonomie der Sphäre
des ausgedrückten Theoretischen widerlegt, dadurch daß es in
sie durch diese Gewaltsamkeit die Tat eintreten läßt,
die jede bestehende Ordnung stört und beseitigt, weist darauf hin,
daß dieses Bestehen des Theoretischen in sich selbst nichts ist,
daß es sich erst mit der geschichtlichen Handlung kennen muß
und mit der geschichtlichen Korrektur, welche seine echte Treue
ist.
- Allein die wirkliche Negation der Kultur bewahrt deren
Sinn. Sie kann nicht mehr kulturell sein. So ist sie das, was irgendwie
auf der Ebene der Kultur bleibt, dies aber in einem ganz anderen Sinn.
- In der Sprache des Widerspruchs stellt sich die Kritik
der Kultur als vereinheitlicht dar: insofern sie das Ganze der Kultur -
ihre Erkenntnis wie ihre Poesie - beherrscht, und insofern sie sich
nicht mehr von der Kritik der gesellschaftlichen Totalität trennt.
Diese vereinheitlichte theoretische Kritik geht allein der vereinheitlichten
gesellschaftlichen Praxis entgegen.
9. Kapitel
DIE MATERIALISIERTE IDEOLOGIE
"Das Selbstbewußtsein ist an und für sich,
indem und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich
ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes."
Hegel (Phänomenologie des Geistes).
- Die Ideologie ist im konfliktorischen
Verlauf der Geschichte die Grundlage des Denkens einer Klassengesellschaft.
Die ideologischen Fakten waren niemals nur bloße Hirngespinste, sondern
das entstellte Bewußtsein der Realitäten und als solche wirkliche
Faktoren, die ihrerseits eine wirklich entstellende Wirkung ausübten;
um so mehr verschmilzt die mit dem konkreten Gelingen der autonom gewordenen
Wirtschaftsproduktion eintretende Materialisierung der Ideologie
in der Form des Spektakels praktisch die gesellschaftliche Realität
und eine Ideologie, die das ganze Wirkliche nach ihrem Modell zuschneiden
konnte.
- Wenn sich die Ideologie, die der abstrakte Wille
zum Allgemeinen und seine Illusion ist, durch die allgemeine Abstraktion
und die tatsächliche Diktatur der Illusion in der modernen Gesellschaft
legitimiert findet, ist sie nicht mehr der voluntaristische Kampf des Parzellierten,
sondern sein Triumph. Von da an nimmt der ideologische Anspruch eine Art
seichte positivistische Genauigkeit an: er ist nicht mehr eine geschichtliche
Wahl, sondern eine Evidenz. In dieser Behauptung haben sich die besonderen
Namen der Ideologien verflüchtigt. Selbst der Teil der im eigentlichen
Sinn ideologischen Arbeit im Dienst des Systems faßt sich nur noch
als Anerkennung eines "epistemologischen Sockels" auf, der jenseits
jedes ideologischen Phänomens stehen will. Die materialisierte Ideologie
selbst ist namenlos, so wie ohne nennbares geschichtliches Programm. Das
heißt mit anderen Worten, daß die Geschichte der Ideologien
zu Ende ist.
- Die Ideologie, deren ganze innere Logik sie zur "totalen
Ideologie" im Sinne Mannheims hinführte, der Despotismus des
Fragments, das sich als Pseudowissen eines erstarrten Ganzen durchsetzt,
als totalitäre Vision, ist jetzt im immobilisierten Spektakel
der Nichtgeschichte vollendet. Ihre Vollendung ist auch ihre Auflösung
in der Gesamtheit der Gesellschaft. Mit der praktischen Auflösung
dieser Gesellschaft muß auch die Ideologie verschwinden, die
letzte Unvernunft, die den Zugang zum geschichtlichen Leben blockiert.
- Das Spektakel ist die Ideologie schlechthin, weil es
das Wesen jedes ideologischen Systems in seiner Fülle darstellt und
äußert: die Verarmung, die Unterjochung und die Negation des
wirklichen Lebens. Das Spektakel ist materiell "der Ausdruck der Trennung
und der Entfremdung zwischen Mensch und Mensch". Die neue Potenz
des wechselseitigen Betrugs", die sich in ihm konzentriert hat,
hat ihre Grundlage in dieser Produktion, durch die "mit der Masse
der Gegenstände das Reich der fremden Wesen wächst, denen der
Mensch unterjocht ist". Das ist das höchste Stadium einer Expansion,
die das Bedürfnis gegen das Leben umgedreht hat. "Das Bedürfnis
des Geldes ist daher das wahre, von der Nationalökonomie produzierte
Bedürfnis und das einzige Bedürfnis, das sie produziert".
(Ökonomisch-philosophische Manuskripte.) Das Spektakel weitet
das Prinzip, das Hegel in der Jenaer Realphilosophie als dasjenige
des Geldes auffaßt, auf das gesamte gesellschaftliche Leben aus,
es ist "das sich in sich bewegende Leben des Toten".
- Im Gegensatz zu dem in den Thesen über Feuerbach
zusammengefaßten Projekt, die Verwirklichung der Philosophie
in der Praxis, die die Entgegensetzung zwischen Idealismus und Materialismus
aufhebt, erhält das Spektakel die ideologischen Charaktere des Materialismus
und des Idealismus und setzt sie in dem Pseudokonkreten seines Universums
durch. Die kontemplative Seite des alten Materialismus, der die Welt als
Vorstellung und nicht als Tätigkeit auffaßt -und der letzten
Endes die Materie idealisiert -, ist im Spektakel vollendet, wo konkrete
Dinge automatisch Herren über das gesellschaftliche Leben sind. Umgekehrt
vollendet sich auch die geträumte Tätigkeit des Idealismus
im Spektakel durch die technische Vermittlung von Zeichen und Signalen -
die letzten Endes ein abstraktes Ideal materialisieren.
- Der von Gabel (Ideologie und Schizophrenie) aufgestellte
Parallelismus von Ideologie und Schizophrenie muß in den Zusammenhang
dieses wirtschaftlichen Prozesses der Materialisierung der Ideologie gestellt
werden. Was die Ideologie bereits war, ist die Gesellschaft geworden. Die
Ausschaltung der Praxis, und das falsche antidialektische Bewußtsein,
das sie begleitet, das ist es, was in jeder Stunde des dem Spektakel unterworfenen,
täglichen Lebens durchgesetzt wird; was als eine systematische Organisation
des "Versagens der Begegnungsfunktion" und als deren Ersatz durch
ein halluzinatorisches gesellschaftliches Faktum zu begreifen ist:
das falsche Bewußtsein der Begegnung, die "Illusion der Begegnung".
In einer Gesellschaft, in der niemand mehr von den anderen anerkannt werden
kann, wird jedes Individuum unfähig, seine eigene Realität anzuerkennen.
Die Ideologie ist zu Hause; die Trennung hat ihre Welt gebaut.
- "In den klinischen Bildern der Schizophrenie",
sagt Gabel, "gehen Verfall der Dialektik der Ganzheit (mit der Auflösung
als äußerster Form) und Verfall des Werdens (mit der Katatonie
als äußerster Form) sehr gut zusammen." Das zuschauende
Bewußtsein, als Gefangener eines verflachten Universums, das durch
den Bildschirm des Spektakels beschränkt ist, hinter den sein
eigenes Leben verschleppt worden ist, kennt nur noch die Scheingesprächspartner,
die es einseitig mit ihrer Ware und der Politik ihrer Ware unterhalten.
Das Spektakel in seiner ganzen Ausdehnung ist sein eigenes "Spiegelzeichen".
Hier wird der Scheinabgang eines verallgemeinerten Autismus inszeniert.
- Das Spektakel, das die Verwischung der Grenzen von Ich
und Welt durch die Erdrückung des Ichs ist, das von der gleichzeitigen
An- und Abwesenheit der Welt belagert wird, ist ebenso die Verwischung
der Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung
jeder erlebten Wahrheit unter der von der Organisation des Scheins sichergestellten
wirklichen Anwesenheit der Falschheit. Wer passiv sein täglich
fremdes Schicksal erleidet, wird daher zu einem Wahnsinn getrieben, der
illusorisch auf dieses Schicksal reagiert, indem er sich mit magischen
Techniken behilft. Die Anerkennung und der Konsum der Waren stehen im Zentrum
dieser Pseudoantwort auf eine Mitteilung ohne Antwort. Das Bedürfnis
nach Nachahmung, das der Konsument empfindet, ist genau das infantile Bedürfnis,
das durch alle Aspekte seiner wesentlichen Enteignung bedingt wird. Nach
den Worten, die Gabel auf einer ganz anderen pathologischen Ebene anwendet,
"kompensiert hier das anormale Bedürfnis, sich zur Schau zu stellen,
ein quälendes Gefühl, am Rande des Lebens zu stehen".
- Wenn die Logik des falschen Bewußtseins sich nicht
selbst wahrheitsgemäß erkennen kann, so muß die Suche
nach der kritischen Wahrheit über das Spektakel auch eine wahre Kritik
sein. Sie muß praktisch unter den unversöhnlichen Feinden des
Spektakels kämpfen und zugeben, dort abwesend zu sein, wo sie abwesend
ist. Der abstrakte Wille zur unmittelbaren Wirksamkeit erkennt die Gesetze
des herrschenden Denkens, den ausschließlichen Gesichtspunkt der
Aktualität an, wenn er sich den Kompromittierungen des Reformismus
oder der gemeinsamen Aktion pseudorevolutionärer Trümmerhaufen
ergibt. Dadurch hat sich der Wahn in derselben Position wiederhergestellt,
die ihn zu bekämpfen beansprucht. Die über das Spektakel hinausgehende
Kritik muß viel mehr zu warten wissen.
- Sich von den materiellen Grundlagen der verkehrten Wahrheit
zu emanzipieren, darin besteht die Selbstemanzipation unserer Epoche. Diese
"geschichtliche Aufgabe, … die Wahrheit des Diesseits zu etablieren"
kann weder das isolierte Individuum noch die den Manipulationen unterworfene,
atomisierte Menge vollbringen, sondern immer noch die Klasse, die fähig
ist, die Auflösung aller Klassen zu sein, indem sie die Macht auf
die entfremdungsauflösende Form der verwirklichten Demokratie zurückführt,
auf den Rat, in dem die praktische Theorie sich selbst kontrolliert und
ihre Aktion sieht. Nur dort, wo die Individuen "unmittelbar mit der
Weltgeschichte verknüpft sind"; nur dort, wo sich der Dialog
bewaffnet hat, um seinen eigenen Bedingungen zum Sieg zu verhelfen.