aus Krisis 10, Januar 1991
Ernst Lohoff
Ueber den logischen Zusammenhang von Krisen- und Revolutionstheorie
1. Krise der Revolutionstheorie
Die moderne buergerliche Gesellschaft treibt zielsicher in Richtung
Reproduktionsunfaehigkeit. Seit dem Bericht des Club of Rome ist die Einsicht in die
suizidalen Tendenzen der herrschenden Form von Weltgesellschaft auch tief ins
Alltagsbewusstsein eingesickert. Druckfrische Tatarenmeldungen aus Oekologie, Oekonomie
und Politik versorgen ein mittlerweile tief verwurzeltes diffuses und laengst nicht mehr
auf die oekologische Frage eindeutig zentriertes Krisengefuehl bestaendig mit neuer
Nahrung. Trotz der Haeufung objektiver Krisensymptome scheint die buergerliche
Verkehrsform auf der "subjektiven" Seite hingegen ungefaehrdeter denn je. Die
ehemals "systemoppositionellen" Stroemungen erweisen sich angesichts der realen
Probleme unserer Zeit als ebenso begriffs- wie hilflos und danken sang- und klanglos ab.
In ihrem desolaten geistigen und organisatorischen Zustand stellen sie keine
Herausforderung mehr dar, sondern liefern im Gegenteil noch die Legitimation fuer die
Fortschreibung des Status quo. Angesichts des Desasters oppositionellen Denkens kann sich
die herrschende buergerliche Vergesellschaftungsform ein bestechendes Argument zugute
halten. Sie gilt anerkanntermassen als alternativlos. Die Fundamentalopposition muss alle
Pfauenfedern lassen und schrumpft auf den anklagend erhobenen Zeigefinger zusammen. Sie
verkommt zur besinnlich-griesgraemlichen Untermalung, waehrend die Modernisierer und
Reformer besinnungslos ihr armseliges Geschaeftchen weiterverrichten.
In dieses ideologische Ensemble ordnet sich als ein Kernstueck die Misere des
marxistischen Denkens ein. Die langjaehrige Krise des Marxismus endete mit dessen
endgueltigem Konkurs. Das Debakel trifft allerdings nicht alle Bestandteile der Marxschen
Theorie gleichermassen. Der Bankrott des Marxismus besteht in erster Linie im klaeglichen
Scheitern seines revolutionaeren, die buergerlichen Verhaeltnisse transzendierenden
Anspruchs. Waehrend Marx als Theoretiker kapitalistischer Entwicklung posthum auch von
seinen Gegnern noch ab und an ob seiner analytischen Weitsicht mit Bluemchen versorgt
wird, ist seine Vision von der Aufhebung der buergerlichen Produktionsweise laengst als
der toteste aller toten Hunde abgeschrieben. Feuilltonisten und andere Leichenfledderer
brauchen auch heute nicht davor zurueckzuscheuen, sich aus den Gedanken von Marx ebenso
freundlich-freigiebig zu bedienen wie sie bei anderer Gelegenheit Aristoteles, Thomas von
Aquin oder die franzoesischen Aufklaerer ausschlachten. Seine
"Entfremdungstheorie" kann als Evergreen gelten. Nur eins verbietet sich bei
diesem Rekurs ebenso selbstverstaendlich wie zwingend - eine revolutionaere,
transbuergerliche Perspektive. Wer den Marxschen Gedanken einer moeglichen Aufhebung der
kapitalistischen Gesellschaft weiterspinnt, begeht einen unverzeihlichen faux pas und gibt
sich der Laecherlichkeit preis. Er stellt sich ausserhalb jedes "rationalen
Diskurses" und desavouiert sich mit dieser "eschatologischen
Heilserwartung" unabhaengig vom Begruendungszusammenhang, aus dem heraus er das
moegliche Ende der buergerlichen Gesellschaft proklamiert. Auch linken Ohren klingt die
Rede vom "transitorischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise"
reichlich obskur. Der Rest der Menschheitsgeschichte scheint zumindest auf absehbare Zeit
an die buergerliche Form gekoppelt und deren Beseitigung wird unweigerlich mit dem
Uebergang zur blanken Barbarei identifiziert 1
.
Dieses Grundmuster beschraenkt sich nicht auf die rechten und linken Apologeten der
buergerlichen Gesellschaft, es reproduziert sich auch dort, wo Theorie an ihrer kritischen
Spitze festhaelt und bestrebt ist sich dem stillen Einverstaendnis mit dem herrschenden
Status quo zu verweigern. Jener minoritaere Teil der aktuellen Marxrezeption, der keinen
Frieden mit der bestehenden Ordnung geschlossen hat, schlaegt sich vor der Zumutung so
etwas wie Revolution zu denken, adornitisch in die Buesche. In der von der Kritischen
Theorie inspirierten Lesart faellt das konsequente Insistieren auf Fundamentalkritik mit
dem Verzweifeln an jeder revolutionaeren, die negative Vergesellschaftung
transzendierenden Perspektive in eins. Die Aufhebung buergerlicher Herrschaft ist ebenso
dringend notwendig wie unmoeglich 2
. Diese Quintessenz hat sich zum Paradigma versteinert. Das Verschmelzen von Kritik und
Aussichtslosigkeit bedarf gewoehnlich gar keiner Herleitung und Begruendung mehr, es ist
als implizite Vorgabe jeder analytischen Bemuehung immer schon stillschweigend
vorausgesetzt 3
. Natuerlich gibt es keine Regel ohne Ausnahme. In unserem Fall traegt sie vor allem den
Namen Stefan Breuer. Er versucht in seiner "Krise der Revolutionstheorie" den
Zusammenhang zwischen Radikalkritik und entschiedener Ablehnung aller
"revolutionaristischen Illusionen" selbstaendig und explizit zu begruenden.
Dieser Ansatz hebt sich angenehm vom bewusstlosen Wiedergekaeue abgestandener Paradigmen
der Kritischen Theorie ab, mit dem die Apologeten der klassischen Frankfurter Schule es
sich in ihrer Verzweiflung an der revolutionaeren Perspektive ansonsten intellektuell
bequem machen, und verdient von daher besondere Beachtung.
Breuer macht bei seiner Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie zwei einander
diametral entgegengesetzte Theoriestraenge aus, die im Werk der Klassiker unvermittelt
nebeneinander existieren. Marx weist in seiner Fetischismuskritik einerseits nach, dass
die Herrschaft der Wertform nur Raum fuer konstituierte, der Botmaessigkeit des Kapitals
restlos unterworfenen Subjektivitaet laesst, andererseits vertritt er eine von diesem
Denkansatz vollkommen entkoppelte "arbeitsontologisch" argumentierende
Revolutionstheorie.
"Waehrend Marx - um eine Unterscheidung der aelteren Hegelinterpretation aufzugreifen
- der >esoterische <Marx mit einer Radikalitaet wie kein anderer Theoretiker die
abstrakt-repressive Natur der buergerlichen Vergesellschaftung aufdeckte, die alle ihr
nicht entsprechenden Lebens-, Verkehrs- und Produktionsweisen gewaltsam eliminierte denn
was war sie anderes als die>>voellige Unterjochung der Individualitaet unter
gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Maechten, ja von
uebermaechtigen Sachenannehmen , neigte der exoterische Marx zu einer Revokation seiner
Einsicht, dass Vergesellschaftung der Produktion in der kapitalistischen Produktionsweise
stets nur abstrakte Vergesellschaftung bedeuten konnte4 ".
Um das Proletariat als revolutionaeres Subjekt, und damit die revolutionaere Perspektive
ueberhaupt, zu retten, faellt Marx bei seinen revolutionstheoretischen Ueberlegungen genau
wie seine Epigonen hinter das von der Kritik der politischen Oekonomie gesetzte
Reflexionsniveau zurueck. Er behandelt statt dessen das Proletariat als eine dem Kapital
wesensfremde, ihm nur aeusserlich unterworfene Macht.
"Um kontrafaktisch weiterhin an seinen revolutionaeren Hoffnungen festhalten zu
koennen und sie zugleich auf objektive Prozesse zu gruenden...wich Marx vor den
Konsequenzen seiner eigenen Theorie zurueck und machte aus der spezifisch kapitalistischen
Form der Arbeit einen archimedischen Punkt jenseits aller Formbestimmtheit, von dem aus
die Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise gefuehrt werden konnte,und dessen
Existenz die Moeglichkeit der Entstehung eines neuen, wahrhaft humanen Subjekts verbuergte
5
".
Marx kann sich nach Breuer nur deshalb ueberhaupt eine transbuergerliche Perspektive
vorgaukeln, weil er bei seinen revolutionstheoretischen Ueberlegungen die Arbeit als
ontologischen Gegensatz zum Kapital behandelt und davon ausgeht, dass die Wesenheit Arbeit
in ihrem Kernbestand von der Herrschaft des Kapitals nicht affiziert wird. Genau dieser
Sichtweise aber entzieht die Analyse der Wertform, die Marx in seiner Kritik der
politischen Oekonomie als Grundform buergerlicher Vergesellschaftung dechiffriert, die
Basis! Der von Marx antizipierte Vormarsch der Wertbeziehung bricht die Unabhaengigkeit
der unmittelbaren Produzenten und degradiert die Arbeiter zu Anhaengseln des
Maschinensystems. Aus dem stolzen unabhaengigen Produzenten wird ein abhaengiges Raedchen
im kapitalistischen Getriebe, das sich nur noch als Bestandteil des variablen Kapitals,
also in den Verwertungsprozess integriert, verhalten kann. Dem proletarischen Interesse
wohnt unter diesen Bedingungen kein Jota revolutionaerer Potenz inne. Stefan Breuer
argumentiert hier aehnlich wie Wolfgang Pohrt, ein anderer Vertreter der Enkelgeneration
der Kritischen Theorie, in seiner "Theorie des Gebrauchswerts", und kommt auch
zu einem analogen Schluss. Die kommunistische Revolution war, wenn ueberhaupt je, dann nur
an der historischen Schnittstellt zwischen formeller und reeller Subsumtion denkmoeglich.
Diese Chance wurde aber verpasst, und so schliesst sich mit der Herstellung der reellen
Subsumtion der Arbeit unter das Kapital das kapitalistische Universum zur negativen, nicht
mehr aufhebbaren Totalitaet. Der Skandal Kapitalverhaeltnis verewigt sich durch seine
Verallgemeinerung. Es wird unueberwindlich, indem es die Arbeiterklasse als integralen
Bestandteil in sein Getriebe aufnimmt. Die Verselbstaendigung des Werts zum automatischen
Subjekt der Gesellschaft wird in der Interpretation Breuers zum Garanten fuer die
Stabilitaet der buergerlichen Form. Die Marxsche Revolutionstheorie, die Hoffnung auf ein
Ende des Kapitalverhaeltnisses, gilt ihm nur mehr als Fremdkoerper, der mit der ganzen
Stossrichtung der Kritik der politischen Oekonomie unvereinbar bleibt 6
.
2. Der januskoepfige Marx
Die Argumentation von Stefan Breuer trifft den traditionellen arbeitsontologisch
orientierten Marxismus ins Herz. Die Hoffnung auf die revolutionaere Aufhebung der
buergerlichen Gesellschaft durch eine dem Kapital entgegengesetzte proletarische Wesenheit
bricht sich tatsaechlich an der alles durchdringenden Kraft der Wertform. Hinter der vom
Arbeiterbewegungsmarxismus verherrlichten alle Werte schaffenden Arbeit, verbirgt sich
nichts weiter als die Logik des Kapitals unter anderem Gesichtspunkt 7
. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit bewegt sich innerhalb des gleichen wertfoermigen
Zusammenhangs, und so affirmiert der Konkurrenzkampf beider Standpunkte nur das
Grundverhaeltnis. Der arbeitsontologische Standpunkt ist ex definitione nicht dazu in der
Lage, die buergerliche Wirklichkeit zu transzendieren. Die Kritik der politischen
Oekonomie konsequent zu Ende gedacht schliesst die Vorstellung einer arbeiterstolzen
kommunistischen Revolution aus. Genau unter diesen klassenkampffetischistischen Auspizien
aber wurde die Marxsche Theorie von der Aufhebung der buergerlichen Gesellschaft
ausschliesslich geschichtstraechtig. Die faelschliche Identifizierung von
Selbstaffirmation der Arbeiterklasse und Aufhebung der buergerlichen Gesellschaft
bestimmte nicht nur die sowjetische Hammer und Sichelvariante des Marxismus, sie
wiederholte sich genauso in dessen sozialdemokratischer Version wie in all seinen
haeretischen Spielformen. Bis heute hat der Marxismus als Gegenbild zur aufzuhebenden
buergerlichen Gesellschaft nur die durch die reale Entwicklung laengst blamierte Chimaere
einer Ontologie der Arbeit zu bieten.
Wenn die Marxsche Theorie vom schliesslichen Ende des Kapitalverhaeltnisses sich in dieser
wohlbekannten Arbeiterbewegungsquintessenz erschoepfen wuerde, sie waere zu Recht der
Gnade des Vergessens ueberantwortet. Die reale historischen Entwicklung haette dann in der
Tat jene revolutionaere Emphase endgueltig erledigt, mit der die Marxsche Theorie einst
antrat. Unter diesen Umstaenden muesste die Hoffnung auf den Sturz der buergerlichen
Gesellschaft tatsaechlich zusammen mit der grossen historische Bewegung ein fuer allemal
erloeschen, der sie ein Jahrhundert als ideologisches Vehikel diente. Der Widerspruch von
Wertform und stofflichem Inhalt laesst sich in der Tat vom Standpunkt des unmittelbaren
Produzenten keineswegs aufrollen 8
. Allein, auch die Marxsche Theorie von der Aufhebung des Kapitalverhaeltnisses ist mit
der mittlerweile reichlich antiquierten Beschwoerung eines scheintranszendeten
arbeitsontologischen Standpunkts bestenfalls zur Haelfe getroffen. Die Kritik der
politischen Oekonomie, die Breuer und Konsorten auf ihrer eigenen pessimistisch gestimmten
Seite waehnen, oeffnet aus ihrer eigenen Logik heraus einen Parallelzugang zu einer
gaenzlich anders strukturierten Revolutionstheorie, die ohne die altbekannten
arbeiterbewegten Herrlichkeiten auskommen kann, ja sie durch ihre Stossrichtung radikal
negiert 9
.
Der doppelte Marx, den Stefan Breuer im Auge hat, existiert tatsaechlich. Die Trennlinie
zwischen den disparaten Teilen innerhalb der Marxschen Theorie verlaeuft allerdings etwas
anders, als sie Breuer verortet. Die revolutionstheoretische Perspektive ist nicht per se
als ein blosses Abfallprodukt Marxscher Arbeitertuemelei und zwangslaeufig an
arbeitsontologische Reminiszenzen gekoppelt. Auch die Marxsche Revolutionstheorie liegt
zumindest in nuce doppelt vor. Die Illusion einer revolutionaeren Arbeiterklasse kann
platzen, ohne dass damit Stabilitaet und ewiger Fruehling kapitalistischer Herrschaft
bewiesen waeren. Neben dem von der Arbeiterbewegung reichlich plattgetretenen Theoretiker
einer proletarischen Revolution verbirgt sich in den Tiefen der Kritik der politischen
Oekonomie eine weitere Alternativversion vom Ende des Kapitals, die bis heute weder
eingeloest geschweige denn falsifiziert ist. Waehrend Marx und Engels einerseits
tatsaechlich, ganz dem landlaeufigen Arbeiterbewegungsjargon gemaess, die Ueberwindung des
Kapitalverhaeltnisses von der Aktion des selbstbewussten Proletariats erwarteten, entwirft
Marx im "Kapital" und in den "Grundrissen" gleichzeitig dazu ein
anderes, in der Rezeptionsgeschichte vollkommen vergessenes Szenario vom Ende der
buergerlichen Gesellschaft. In dieser, allerdings mehr chiffrenhaft angedeuteten denn
ausgefuehrten Version bringt nicht die schwielige Proletenfaust das Kapital zur Strecke,
die wertfoermige Vergesellschaftung scheitert statt dessen an ihrer eigenen immanenten
Logik. Diese Vorstellung einer objektiven Schranke der buergerlichen Gesellschaft
prognostiziert die Selbstzersetzung der Keimform der buergerlichen Gesellschaft, der Wert-
und Warenform und zentriert sich logisch um das Obsoletwerden des unmittelbaren
Produzenten. Wert- und Warenform verlieren ihre Grundlage und damit ihre Lebensfaehigkeit,
"sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehoert hat, die grosse Quelle des
(stofflichen! Anmerkung E.L.) Reichtums zu sein" 10
, weil die unmittelbare Produktionsarbeit die lebendige Grundlage des Werts bildet. In
dieser, von der Kritik der politischen Oekonomie bestimmten Lesart, fallen der Untergang
des Kapitals und das sukzessive Zuruecktreten des unmittelbaren Produzenten zusammen. Mit
dieser Variante desavouiert Marx die gaengigen Arbeiterbewegungsraster vollkommen und
stellt sie auf den Kopf. Waehrend fuer jeden Arbeiterbewegungsmarxismus die unmittelbaren
Produktionsarbeiter ganz selbstverstaendlich den Kern der proletarischen Klassenmacht
bilden und ihm daher folgerichtig als das Allerheiligste gelten, erscheint hier
urploetzlich pikanterweise gerade der rapide Bedeutungsschwund der Kultfigur als conditio
sine qua non kommunistischer Umwaelzung!
Es faellt schwer diese einander diametral entgegengesetzten Argumentationslinien
zusammenzudenken. Marx gelang es nicht, den grundlegenden schreienden Widerspruch zwischen
beiden Betrachtungsweisen zu einem kohaerenten Ganzen zusammenzufuegen. Statt dessen
durchkreuzen sich in seinem Werk unvereinbare Theoriestraenge und der gigantische Torso
der Marxschen Theorie bleibt doppeldeutig. In seinem Werk stehen zwei Optionen vom
Untergang des Kapitalverhaeltnisses unvermittelt nebeneinander. Marx redet gleichermassen
von der Expropriation der Expropriateure durch die selbstbewussten Arbeitermassen wie von
der immanenten objektiven Schranke des Kapitals, ohne je mehr als eine provisorische
Verknuepfung beider Gesichtspunkte herstellen zu koennen 11
. Der Bezug zwischen dem Schlusspunkt der Kritik der politischen Oekonomie, dem objektiven
Krisenprozess, und dem soziologisch daherstolzierenden revolutionaeren Arbeitersubjekt
bleibt im gesamten Werk ein blinder Fleck und entsprechend unklar.
Dieser wenig befriedigende Umstand ist sicher nicht den mangelnden analytischen
Faehigkeiten von Marx geschuldet. Er hat seinen Grund in den realen historischen
Umstaenden, die in die Marxsche Theoriebildung miteingingen. Marx antizipierte zwei grosse
historische Prozesse. Er nahm zum einen die Emanzipationsbewegung der Arbeiterschaft
gedanklich vorweg, eine Bewegung, die zu seinen Lebzeiten noch in den Kinderschuhen
steckte. Er analysierte andererseits auf sehr hohem Abstraktionsniveau das objektive
Ausbrennen und die schliessliche Aufloesung der buergerlichen Gesellschaft und ihrer
Grundformen. Die crux, die uns Nachgeborenen den Bezug auf dieses zweite, heute virulent
werdenden Moment seiner Theorie immens erschwert, liegt nun darin, dass er beide
historische Prozesse nicht streng scheiden konnte, sondern sie als zusammengehoerigen
Komplex denken musste. Fuer ihn und seine Anhaenger sind Emanzipation der Arbeiterklasse
und Ende der buergerlichen Gesellschaft aneinander gekoppelt. Realiter fallen diese
entscheidenden Einschnitte aber nicht nur historisch um einige Menschenalter auseinander,
sondern auch logisch. Die Emanzipation der Arbeiter hat sich mittlerweile als Befreiung
der Arbeiter zu gleichberechtigten Staatsbuergern und Warenbesitzern laengst vollzogen,
das Ausbrennen der Wert- und Warenform und die ganze Brisanz, die in dieser Entwicklung
steckt, zeichnet sich erst heute am historischen Horizont ab. Die Zerstoerung der
buergerlichen Form ist nicht mit der Emanzipation der Arbeit, sondern mit der Befreiung
von ihr identisch. Weit davon entfernt die Wertlogik ausser Kraft zu setzen, entpuppte
sich die Emanzipation der Lohnarbeiter als ein Hauptkettenglied der Entfaltung der
Wertvergesellschaftung. Deren reale, empirisch greifbare Selbstzerstoerung tritt dagegen
erst mehr als hundert Jahre nach Marxens Tod in ihr akutes Stadium, und schliesst dabei
ganz selbstverstaendlich die Zersetzung aller Arbeiterherrlichkeit mit ein!
Fuer Marx war die illusorische Identifizierung von Arbeiteremanzipation und
kommunistischer Revolution wohl unvermeidlich. Auf der Suche nach Anknuepfungspunkten fuer
seine revolutionaere transbuergerliche Theorie im real sich vollziehenden historischen
Prozess, gab es in seiner Zeit nur einen denkbaren Bezugspunkt, und das war nun einmal die
Arbeiterbewegung. Die kommunistische Revolution konnte nur ein Gewaechs dieser sich
anbahnenden Emanzipationsbewegung sein, oder die kommunistische Perspektive war auf
absehbare Zeit gegenstandslos, ein unpraktikables Hirngespinst. Dementsprechend haelt Marx
die These einer objektiven,dem Kapital immanenten Schranke nur konsequent durch, solange
er sich auf hohem Abstraktionsniveau bewegt. Sobald er die Bruecke zur empirischen
Wirklichkeit seiner Epoche zu schlagen versucht, naehert er sich unweigerlich dem
gewohnten Arbeitersoziologismus 12
. Statt fuer seine Gegenwart zum Apologeten der buergerlichen Produktionsweise zu
konvertieren und ihr freiwillig eine unabsehbar hohe Lebenserwartung zu attestieren,
rettete Marx die revolutionaere Intention seiner Theorie, indem er seine Vision einer
nicht mehr warenfoermigen Reproduktion in die akut sich herausbildende Arbeiterbewegung
hineinprojizierte. Mangels objektiver empirischer Anknuepfungspunkte fuer das
Obsoletwerden der Wertbeziehung zu seinen Lebzeiten, formulierte Marx die theoretisch
anvisierte Abschaffung von Wert und Ware ersatzweise als subjektive Aufgabe und schrieb
sie der allmaehlich aufbluehenden Arbeiterbewegung ins Stammbuch.
Diese Lebensluege zentrierte sich im wesentlichen um ein Missverstaendnis. Marx hielt den
Ausschluss der Besitzer der Ware Arbeitskraft von den Segnungen der Waren-Demokratie fuer
ein Strukturmerkmal jeder kapitalistischen Gesellschaft. Die Emanzipation der Arbeiter
kann fuer Marx nur deshalb mit der Aufhebung der Geld- und Warenbeziehung zusammenfallen,
weil es sich die Arbeitermassen, anders als die Bourgeoisie, in den verdinglichten
Verhaeltnissen nicht bequem machen koennen. Er geht davon aus, dass den Eigentuemern der
Ware Arbeitskraft der Weg zur vollwertigen Mitgliedschaft innerhalb der Gemeinschaft
freier und gleicher Warenbesitzer, trotz aller Anstrengungen auf immer und ewig
verschlossen bleiben muss. In dieser fuer die Marxsche Interpretation paradigmatischen
Voraussetzung verschraenken sich ganz eigentuemlich das Rueckstaendige an den
handgreiflichen, empirischen Bedingungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit der
Fundamentalkritik der buergerlichen Gesellschaft. Marx muss gerade die spezifisch
unterstaendischen Merkmale, die sich in der proletarischen Existenzweise noch einmal
reproduzieren, hypostasieren und in die Zukunft verlaengern, um der Arbeiterschaft einen
revolutionaeren transbuergerlichen Charakter im Sinne seiner Fetischismusanalyse zuordnen
zu koennen. Damit verfehlt aber der Marxsche Antizipationsversuch den realen historischen
Trend. Die "soziale Frage" des 19.Jahrhunderts war der Unreife und
Unentwickeltheit der damaligen Verhaeltnisse geschuldet. Beim klassischen Arbeiterelend
handelte es sich bekanntermassen nur um ein Uebergangsphaenomen. Dieses Phaenomen war
innerhalb der kapitalistischen Logik ueberwindbar, und es wurde ueberwunden. Die grausamen
Friktionen, die die Kindertage des Kapitals begleiteten, verschwanden mit der Entwicklung
der Wertvergesellschaftung und die Arbeiterklasse entfaltete sich durch vielerlei Kaempfe
und Brueche hindurch zu dem was sie ihrem Begriff nach immer schon gewesen war. Sie
metamorphosierte vom unterstaendischen "Vierten Stand" zu einer spezifischen
Kategorie freier und gleicher Warenbesitzer.
Diese in der Logik seines Kapitalbegriffs enthaltenen Entwicklungstrends bekam Marx nicht
ins Visier. Gleichermassen von der himmelschreienden empirischen Misere wie von der
himmelstuermenden Hoffnung auf eine operationalisierbare revolutionaere Perspektive
geblendet, galten ihm die Arbeiter per se als die lebendige Negation der buergerlichen
Gesellschaft. Jeder Akt der Selbstbehauptung und Selbstaffirmation der Arbeiterschaft kann
in diesem Verstaendnis praktisch nur in einen Anschlag auf ihr elendes Arbeiterdasein
muenden. Die Differenz zwischen dem Kampf gegen das Elend der Arbeiterexistenz und dem
Kampf gegen die elende Arbeiterexistenz selber, fielen auf diese Weise unter den Tisch,
und so kamen die naiven Arbeitermassen zu der besonderen Ehre, bei Marx als die
privilegierten Traeger einer kommunistischen Umwaelzung figurieren zu duerfen. Diese von
der Geschichte gruendlich falsifizierte Sichtweise hat Marx strategisch verdichtet und in
die beliebte Parole "Selbstaufhebung des Proletariats" uebersetzt. Diese
Zauberformel zwingt theoretisch zusammen, was nicht zusammengehoert, und ermoeglicht es
Marx in seinen Schriften, am Gedanken der Aufhebung des unmittelbaren Produzenten
durchgehend festzuhalten und diesem Ziel dennoch die gegen jedes selbstaffirmative
Arbeiterbewusstsein gerichtete polemische Spitze abzubrechen 13
.
Diese Unzulaenglichkeit ist Marx selber allerdings kaum zum Vorwurf zu machen. Der
Versuch, die Kritik der buergerlichen Form auf einem Vergesellschaftungsniveau zu
konkretisieren, auf dem statt ihrer Beseitigung erst deren Herstellung auf dem
geschichtlichen Programm steht, fuehrte zwangslaeufig zu eigenartigen Verkehrungen. Was
Marx hoffnungsvoll bereits als Anzeichen fuer die beginnende Agonie der buergerlichen
Gesellschaft deutet, waren realiter nun einmal lediglich deren Geburtswehen, und dieser
Umstand hinterlaesst auch in seiner Theorie zwangslaeufig Spuren.
Wenn sich im Marxschen Werk die radikale Kritik der buergerlichen Form und der Kampf fuer
sie, via Arbeiterbewegung, zu einem vermengen, so ist es eben die Aufgabe einer
zeitgemaessen revolutionaeren Theorie das Amalgamierte auseinanderzudividieren, statt in
Ehrfurcht unser Brevier aus den Schriften der Klassiker wiederzukaeuen. Wollen wir an
deren revolutionaerer Intention festhalten, bleibt gar kein anderer Weg. Die falsche
Einheit von disparaten Gesichtspunkten macht die Marxsche Theorie in ihrer ueberlieferten
Fassung fuer die Beduerfnisse unserer Epoche unbrauchbar. Im Marxschen Werk ueberlagert
die Zukunftsmusik von ehedem, die Emanzipation der Lohnarbeit, die in der Fetischkritik
intonierte Melodie. In den Interpretationsmustern des Marxismus wird sie vollends
neutralisiert und verkommt zu dunkel-unklaren Sphaerenklaengen. Gerade diese scheinbar
mystischen Toene sind es aber, die allein akuten Zuendstoff fuer unsere scheinbar
undurchdringliche Wirklichkeit liefern und nicht nur die Herstellung eines durch und durch
verobjektivierten Verhaeltnisses erfassen koennen, sondern auch in der Lage sind, die in
diesem Versachlichungsprozess enthaltenen Bruchlinien aufzuspueren und nachzuzeichnen.
Erst die wertkritische Zuspitzung macht die Marxsche Theorie aus einem alten Hut zum
hochbrisanten Sprengstoff. Auf der Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel muessen
wir die alten, laengst zu Gebetsmuehlen heruntergekommenen Verknuepfungen von Revolution
und Arbeiterstandpunktsseligkeit rigoros kappen und statt dessen die Kritik des
Warenfetischs bis zu ihren krisen- und revolutionstheoretischen Implikationen
weitertreiben und konkretisieren. Es kann nur dann gelingen, eine durchschlagende
Revolutionstheorie zu reformulieren, wenn wir aus der konsequent durchgehaltenen Kritik
der politischen Oekonomie heraus den Zugang zum Problem der Ueberwindung der buergerlichen
Gesellschaft von neuem freischaufeln.
Die positive Reformulierung einer Revolutionstheorie auf der Hoehe unserer Zeit und des in
der Kritik der politischen Oekonomie gesetzten Reflexionsniveaus setzt die theoretische
Demontage der tradierten revolutionstheoretischen Raster voraus. Die Bilder, die sich der
ueberlieferte Marxismus vom Untergang des Kapitals machte, ueberlagern wie dicke Tuenche
die innere Logik und Struktur der Marxschen Kritik der politischen Oekonomie und
verstellen hermetisch den Zugang zu deren revolutionstheoretischer Aufloesung. Die Umrisse
einer zeitgemaessen Revolutionstheorie werden deshalb erst sichtbar, sobald wir ihre
Vorgaenger kritisch aufgearbeitet und uns die tradierten Denkgewohnheiten in Sachen
revolutionaeres Subjekt gruendlich vom Hals geschafft haben.
3. Zum logischen Status von Krisen- und Revolutionstheorie
Eins sollten wir bei der Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie nie vergessen. Wenn
Marx die buergerliche Produktionsweise untersucht, so handelt es sich dabei keineswegs um
eine alternative Wirtschaftstheorie, der es um die positive Darstellung der
Funktionsmechanismen der kapitalistischen Produktionsweise ginge, sondern um die Kritik
der politischen Oekonomie. Der Untertitel des Marxschen Hauptwerks bezeichnet das gesamte
Untersuchungsprogramm. Mit der Metamorphose der Marxschen Theorie zum Marxismus ging diese
fundamentalkritische Stossrichtung allerdings voellig verloren. Stellenwert und Bedeutung
der negativen Selbstcharakterisierung gerieten in der marxistischen Tradition in
Vergessenheit oder ueberlebten lediglich als entleerte Phrase. Soweit die Marxisten an der
kritischen Intention der Kritik der politischen Oekonomie festhielten, nahmen sie diese
mit Vorliebe auf ihre ideologiekritische Seite zurueck. Diese Reduktion verfehlt
allerdings die Marxsche Intention gruendlich. Denn wenn Marx gerade die negatorische
Stossrichtung seines Ansatzes zum Markenzeichen erhebt, so geht es ihm dabei nicht allein
um die radikale Enthuellung der Schwaechen konkurrierender theoretischer Ansaetze. Marx
begnuegt sich keineswegs damit, die zu seinen Lebzeiten vorherrschenden ideologischen und
wissenschaftlichen Vorstellungen ueber Oekonomie anzugreifen; seine Kritik zielt
gleichzeitig, und das ist das Entscheidende, auf den zu untersuchenden Gegenstand selber.
Marx nimmt das System der buergerlichen Oekonomie nicht als krudes vorausgesetztes Faktum,
seine Darstellung ist immer schon auf innere Widerspruechlichkeit und schliessliche
Aufloesung des "nationaloekonomischen Zustands" hin orientiert. Die Marxsche
Kapitalismusanalyse hat es sich von der ersten bis zur letzten Zeile zur ausschliesslichen
Aufgabe gemacht, jene Paradoxien herauszuarbeiten, die die buergerliche
Vergesellschaftungsform als unhaltbares, nur transitorisches Stadium menschlicher
Entwicklung kennzeichnen.
Dieser negative Charakter der Analyse verleiht der Krisentheorie ihren besonderen
Stellenwert im Marxschen Werk. Wenn es die Krise ist, die die Wahrheit der
kapitalistischen Produktionsweise enthuellt, kann die Analyse der wirklichen
Weltmarktkrisen nicht wie in positiven Wirtschaftstheorien als Appendix an der allgemeinen
Theorie des Kapitalverhaeltnisses kleben, sie wird selber zum uebergreifenden und
zusammenfassenden Moment. Marx hat die integrative Funktion der Krisentheorie in seinen
methodischen Ueberlegungen immer betont. So schreibt er etwa flogendes in den
"Theorien ueber den Mehrwert", um die Marschrichtung seiner Kritik der
politischen Oekonomie anzugeben:
"Und dies ist bei der Betrachtung der buergerlichen Oekonomie das Wichtige. Die
Weltmarktkrisen muessen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller
Widersprueche der buergerlichen Oekonomie gefasst werden. Die einzelnen Momente, die sich
also in diesen Krisen zusammenfassen, muessen also in jeder Sphaere der buergerlichen
Oekonomie hervortreten und entwickelt werden, und je weiter wir in ihr vordringen, muessen
einerseits neue Bestimmungen dieses Widerstreits entwickelt, andererseits die abstrakteren
Formen desselben als wiederkehrend und enthalten in den konkreteren nachgewiesen
werden"14
.
Die Krisentheorie wirft ihren Schatten auf das gesamte System der Kritik der politischen
Oekonomie und gibt dem Bau seine Faerbung. Die Beschaeftigung mit den
Weltmarktkonvulsionen, die das Finale furioso im urspruenglichen Aufbauplan der Marxschen
Oekonomiekritik bilden sollte, bringt kein neues apartes Thema aufs Tablett. Sie buendelt
nur noch einmal konkretisiert und im Brennspiegel all die Bestimmungen, die Marx auf
anderen abstrakteren Ebenen seiner theoretischen Aufarbeitung bereits vorab entwickelt hat
15
. Wenn Marx auf den ersten Seiten des "Kapitals" die einzelne Ware analysiert,
dabei den in der nackten Existenz der Ware gesetzten Zerfall der Einheit von Produktion
und Konsumtion herausarbeitet, der in seinem Gefolge die Verdopplung von Ware und Geld
hervortreibt, so hat er damit auch schon die abstrakteste Form der Krise herausgeschaelt.
"Indem die Austauschbarkeit der Ware ausser ihr als Geld existiert, ist sie etwas von
ihr Verschiedenes, ihr Fremdes geworden; mit dem sie erst gleichgesetzt werden muss, dem
sie also d'abord ungleich ist; waehrend die Gleichsetzung selbst von aeussren Bedingungen
abhaengig wird, also zufaellig" 16
.
"Insofern Kauf und Verkauf, die beiden wesentlichen Momente der Zirkulation,
gleichgueltig gegeneinander sind, in Raum und Zeit getrennt, brauchen sie keineswegs
zusammenzufallen. Ihre Gleichgueltigkeit kann zur Befestigung und scheinbaren
Selbstaendigkeit des einen gegen das andere fortgehn. Insofern sie aber beide wesentliche
Momente Eines Ganzen bilden, muss ein Moment eintreten, wo die selbstaendige Gestalt
gewaltsam gebrochen und die innre Einheit aeusserlich durch eine gewaltsame Explosion
hergestellt wird. So liegt schon in der Bestimmung des Geldes als Mittler, in dem
Auseinanderfallen des Austauschs in zwei Akte, der Keim der Krisen, wenigstens ihre
Moeglichkeit.."17
Wir sehen, die Beschaeftigung mit der Krise kapitalistischer Vergesellschaftung findet
sich nicht erst fragmentarisch im 3.Band des "Kapitals", sie beginnt in diesem,
wie in allen anderen zentralen Werken, in denen Marx seine Kritik der politischen
Oekonomie entwickelt, mit der ersten Zeile. Die Durchdringung der "metaphysischen
Mucken" der Warenform ist keine l'art pour l'art-Veranstaltung, sie beinhaltet
bereits die abstrakteste Form der Krisentheorie. Der architektonische Grundriss, in den
sich der gigantische Torso des Marxschen Werkes einfuegt, ist von vornherein auf den
krisentheoretischen Schlussstein hin ausgerichtet.
Den in der Marxschen Kritik der politischen Oekonomie konzipierten kohaerenten
Zusammenhang loest die Verharmlosung des "Kapital" zu einer positiven
marxistischen Wirtschaftswissenschaft rigoros auf. In den Haenden der Epigonen verliert
die Krisenproblematik ihre fokussierende Funktion und rueckt aus dem Zentrum der
theoretischen Anstrengung in den Anhang. Der kapitalistische Normalzustand erscheint,
zumal was die Grundformen dieser Gesellschaftsformation angeht, als die eine Sache, die
krisenhafte Stoerung des reibungslosen Ablaufs der Kapitalakkumulation als ein ganz
anderer theoretischer Gegenstand, den es gesondert abzuhandeln gilt. Die Marxsche Kritik
der politischen Oekonomie diffundiert zu einem Buendel wirtschaftswissenschaftlicher
Theoreme, und die debattierenden marxistischen Oekonomen hantieren mit diesem
Instrumentarium, indem sie mehr oder minder virtuos einzelne auseinanderdriftende
Bruchstuecke gegeneinander geltend machen. Die marxistische oekonomische Diskussion
gewinnt ihre Einheit nur mehr unter ideologischen Gesichtspunkten. Ghettoisiert und vom
buergerlichen Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen, bleiben die marxistischen Kontrahenten
aufeinander verwiesen. Der innertheoretische Zusammenhang duennt dagegen aus, und die
Verknuepfungen zwischen den abgetrennten Spielwiesen koennen zusehends lediglich
willkuerlich erzwungen werden. Dieser Umstand schlaegt sich in der klassischen
marxistischen Krisendebatte unuebersehbar nieder. Ueberakkumulations-, Unterkonsumtions-
und Disproportionalitaetstheoretiker reden vornehmlich konsequent aneinander vorbei.
Zusammenhalt und Identitaet marxistischer Oekonomie liegt nicht so sehr im
Diskussionsprozess begruendet, sie ruht vielmehr in dem, was als vermeintlich
selbstverstaendliche Vorgabe nicht mehr thematisiert wird, in den gemeinsamen Vorurteilen.
Der Hauptteil des Marxschen Werks, vor allem der 1.Band, bleibt so gut wie unumstritten
und damit unbeleuchtet. Die durchgaengige positivistische Verbiegung der Marxschen
Werttheorie zu einer Definitionsuebung 18
enthebt die marxistischen Oekonomen vor allem der Muehe, sich auf die allgemeinsten
Bestimmungen von Wert- und Warenform analytisch einzulassen. Die konkurrierenden
klassischen marxistischen Krisentheoriestraenge umspannen nicht das gesamte Feld der
Kritik der politischen Oekonomie, sie machen sich jeweils an bestimmten Teilproblemen im
zweiten und dritten Band des Marxschen "Kapital" fest, und blasen sie
ersatzweise zum Nonplusultra auf, um sich auf diesem beschraenkten Standpunkt einzuigeln.
Mit dem Verlust ihrer fetischismuskritischen Spitze buesst die Kritik der politischen
Oekonomie gleichzeitig die Faehigkeit ein, die Totalitaet der buergerlichen Verkehrsform
zu fassen und faellt einem unaufhaltsamen Erosionsprozess anheim.
Der negativ-kritische Grundzug des Marxschen Ansatzes bestimmt aber nicht nur die
Binnenbeziehungen aller Teilmomente innerhalb des Bezugssystems Kritik der politischen
Oekonomie und fuegt sie, um mit Marx zu sprechen, zu einem "artistischen Ganzen"
zusammen, er wirkt sich auch auf den Bau des Marxschen Gesamtwerks aus. An der kritischen
Stossrichtung haengt nicht nur die Kohaerenz der Kritik der politischen Oekonomie als
solcher, erst die negatorische Themamelodie gruppiert auch die Marxsche Gesamttheorie um
dieses Zentrum. Sobald der Wert zur positiv handhabbaren Groesse verkehrt wird, verwandelt
er sich im gleichen Atemzug auch zu einer rein inneroekonomischen Kategorie. Der von Marx
als Keimzelle der gesamten buergerlichen Gesellschaft apostrophierte "Wert"
buesst mit der rigorosen Beschraenkung des Gueltigkeitsbereiches seine Relevanz zur
Erklaerung ausseroekonomischer Phaenomene ein. So wird fuer die Behandlung der politischen
und ideologischen Sphaere die Entwicklung eigenstaendiger Kategoriensysteme unerlaesslich,
die entkoppelt und unabhaengig vom Wert eine eigene Logik entfalten. Sobald Theorie ohne
wertkritische Spitze operiert, wiederholt sie auf ihrem eigenen Boden blind und bewusstlos
die fuer die buergerliche Gesellschaft charakteristische Sphaerentrennung. Mit dem
Abschied von der Negation der Grundformen der buergerlichen Gesellschaft geht der
Kapitalismusanalyse jede Tiefendimension verloren und die Erfassung der inneren Gliederung
der Wirklichkeit, in deren Rahmen alle Oberflaechenphaenomene dieser Gesellschaft sich
aufeinander beziehen, weicht einem in Spezialdisziplinen aufgefaecherten Marxismus. Die
Verwandlung der Kritik der politischen Oekonomie in marxistische Oekonomie zerlegt das
Ganze der Wirklichkeit und schafft eine Vielzahl disparater Theoriefelder, die nach
jeweils eigenen Gesetzen zu funktionieren scheinen und nur durch aeusserliche
"Wechselwirkungen" aufeinander einzuwirken vermoegen. Nichts koennte der
vielbeschworenen Dialektik mehr Hohn sprechen als dieser sich weise gebende, hoelzerne
Mechanizismus. Wo der Marxismus sich als positive Theorie der buergerlichen Gesellschaft
kapriziert, reproduziert er in kruder und unausgegorener Weise auf seinem eigenen Boden
den buergerlichen Wissenschaftspluralismus und spreizt sich ins Unendliche auf.
Marxistische Soziologie, marxistische Staatstheorie, marxistische Religionstheorie,
marxistische Oekonomie, marxistische Anthropologie und marxistische Krisentheorie stehen
einander gegenueber und ihre Einheit rutscht aus der analytischen Stringenz ins Attribut
und damit ins Ideologische. Die historische Marxrezeption kann im wesentlichen als
frappierende Bestaetigung dieser Erosionslogik gelten. Konfrontiert mit unweigerlich
auseinanderstrebenden Theoriemomenten mussten Legionen von Epigonen bis heute auf einen
mechanischen Basis-Ueberbau-Schematismus zurueckgreifen um die auseinanderfallenden Zweige
marxistischen Denkens noch irgendwie unter das Primat einer positiv gewendeten Oekonomie
zu zwingen. Damit verfehlen sie aber das reale innere Band der buergerlichen Gesellschaft
vollkommen und fuegen nur aeusserlich und mit der Brechstange disparate Theoriesegmente
zusammen.
Das abschreckende Beispiel verdeutlicht die Quintessenz unserer Ueberlegungen. Der innere
theoretische Zusammenhang, der Griff nach der Totalitaet des gesellschaftlichen Getriebes,
haengt notwendig am negativ-kritischen Zugang und ist auf Gedeih und Verderb an ihn
gebunden. Die Keimzelle dieser Verkehrsform, Wert und Ware, um deren Analyse sich die
Kritik der politischen Oekonomie und die Marxsche Untersuchung der buergerlichen
Gesellschaft ueberhaupt rankt, wird nur vom Standpunkt ihrer Negation aus sichtbar. Die
Darstellung bleibt nur solange stringent, folgt einem roten Faden und zielt aufs Ganze,
solange Wert und Ware als zu erklaerende Grundraetsel zum Ausgangspunkt genommen und nicht
als selbstverstaendliche positive Tatsache unhinterfragt vorausgesetzt werden.
Wenn wir diese negatorische Stossrichtung in unserer Herangehensweise konsequent
durchhalten, und das Kapital statt als positive Entitaet ernsthaft als seinen eigenen
lebendigen Widerspruch behandeln, so hat dies immense Implikationen fuer den Stellenwert
der Marxschen Krisentheorie und ihre Stellung zu anderen Momenten der Marxschen Theorie.
Unter wertkritischem Blickwinkel streift Krisentheorie ihren subalternen Rang ab und wird
zum Einheit stiftenden Scharnier des ganzen Marxschen Werkes. Die krisentheoretische
Quintessenz der Marxschen Konzeption der Kritik der politischen Oekonomie entpuppt sich
nicht nur als deren Kulminations-, sondern gleichzeitig auch als ihr Umschlagspunkt zu
anderen scheinbar fremden Theoriesphaeren. Wo die Analyse der kapitalistischen
Bewegungsgesetze explizit in die Darstellung der realen Zersetzung des kapitalistischen
Mechanismus einmuendet, muss sie sich zur Theorie der Aufhebung der buergerlichen
Gesellschaft zuspitzen. Wenn das Kapital nicht an einem fremden Wesen, sondern letztlich
an sich selber scheitert, so kann Krisentheorie nicht selbstbescheiden bei sich zu Hause
bleiben, sie zieht aus ihrer eigenen Logik heraus die Umrisse einer spezifischen
Revolutionstheorie nach sich. Die Vorstellung einer objektiven immanenten Schranke
impliziert, zu Ende gedacht, die grundlegende Einheit von Revolutions- und Krisentheorie.
Dabei ist die Krisentheorie der umfassendere grundlegende Gesichtspunkt und die
Revolutionstheorie entspringt ihr als Spezifikation. Wer den Gedanken der objektiven
immanenten Schranke ernst nimmt und weitertreibt, muss gerade bei allen
revolutionstheoretischen Ueberlegungen von dieser Grundannahme ausgehen, auf sie
rekurrieren und Revolutionstheorie als Ausfluss der Krisenanalyse begreifen 19
. So etwas wie eine immanente Schranke vorausgesetzt, kann die Revolutionstheorie ihrem
ganzen Status nach nichts anderes als die Konkretion und Bewaehrung dieser Grundthese
sein, waehrend die Krisenanalyse nicht nur in sie eingeht, sondern ihr auch als logisches
prius immer schon vorausgesetzt ist. Am Ende einer Krisentheorie, die sich nicht damit
begnuegt, oekonomisches Spezialfach zu sein und einen allgemeinen, das ganze System der
Kritik der politischen Oekonomie umgreifenden Anspruch erhebt, steht der Uebergang zur
Theorie der kommunistischen Revolution, die die krisentheoretische Faerbung nicht abwirft,
sondern fortschreibt und konkretisiert.
4. Die Arbeiterklasse revolutionaeres Subjekt a priori
In der traditionellen Marxrezeption findet sich allerdings, wie auch nicht anders zu
erwarten, von dieser engen Verzahnung beider Theoriemomente nicht die geringste Spur. Im
Gegenteil, Krisenanalyse und Revolutionstheorie scheinen hier disparaten theoretischen
Sphaeren zugeordnet, die wenig bis nichts miteinander gemein haben. Eine Affinitaet zur
Organisationswissenschaft macht sich auf Schritt und Tritt bemerkbar, sobald sich der
traditionelle Marxismus revolutionstheoretischen Ueberlegungen zuwendet, die
Querverbindungen zur Krisentheorie dagegen verlieren sich im Uebergang von der Marxschen
Theorie zum Marxismus so gut wie vollstaendig. Krisentheorie verkommt zu einer wenig
praktischen und entsprechend subalternen Uebung fuer Oekonomiespezialisten. Im
Richtungsstreit der alten Arbeiterbewegung spielt die oekonomische Debatte insgesamt nur
die Rolle eines mehr oder minder vergessenen Nebenkriegsschauplatzes, und ihre
krisentheoretische Seite scheint erst recht jenseits von Gut und Boese im
Wolkenkuckucksheim angesiedelt.
Waehrend Marx mit der These einer immanenten objektiven Schranke, die dem
Kapitalverhaeltnis zu guter Letzt aus dessen eigener Logik heraus ein Ende setzt,
kryptisch die grundlegende Identitaet von Krise und Revolution proklamiert, verliert sich
bei den Nachfolgern der damit zwangslaeufig intendierte umgreifende Stellenwert der
Krisenanalyse restlos. Die himmelschreiende Diskrepanz zwischen der Marxschen Konzeption
einer immanenten objektiven Schranke und der marxistischen Vorstellungwelt und ihren
Phantasien zum Uebergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, ist innerhalb der marxistischen
Diskussion nie wirklich aufgebrochen und auch von keinem Aussenseiter ernsthaft
thematisiert worden. Keiner der Protagonisten stellte sich in den theoretischen
Diadochenkaempfen konsequent auf den Standpunkt des objektiven Endes des
Kapitalverhaeltnisses, und die Epigonen erlaubten einander, sich mit groesster
Leichtigkeit allzeit ueber eventuelle Lippenbekenntnisse hierzu hinwegzusetzen. Dieses
Verdikt trifft selbst noch die wenigen expliziten und in hoechsten Masse angefeindeten
Zusammenbruchstheoretiker in der marxistischen Debatte. Rosa Luxemburg, Henryk Grossmann
und dessen Erbverwalter Paul Mattick nahmen sich zwar lobenswerter Weise vor, den
Marxschen Grundgedanken einer dem Kapital immanenten Schranke zu explizieren, in ihren
Konsequenzen landeten sie aber gleich ihren "harmonistischen" Konkurrenten bei
der selbstbewussten aprioristischen Arbeitersubjektivitaet, die eine schlechte Welt zu
richten haette. Weil sie bei der Erstellung ihrer Zusammenbruchstheorien die wirkliche
absolute Schranke des Kapitals, die allein in der Selbstzerstoerung der grundlegenden
Gestalt kapitalistischer Reproduktion, der Waren- und Wertform liegen kann, nicht in den
Blick bekommen und sie statt dessen mit sekundaeren, rein binnenoekonomischen
Fragestellungen (Realisierungsproblem, Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate)
kurzschliessen, muessen sie, sobald sie die reale Aufloesung des Kapitalverhaeltnisses
skizzieren wollen, zur Beschwoerung der Arbeiterklasse als revolutionaerem Subjekt a
priori springen. Jeder Krisenobjektivismus, der sich auf abgeleitete Ebenen im Innenleben
einer positiven marxistischen Oekonomie kapriziert, schlaegt notwendig in Subjektivismus
um, sobald er sein eingesponnenes enges Terrain verlaesst, sich das theoretische Interesse
dem Akt der Aufhebung der buergerlichen Gesellschaft zuwendet. Weder der von Rosa
Luxemburg prognostizierte Tod des Kapitals am Aussterben ausserkapitalistischer Milieus,
noch die mathematischen Uebungen, mit denen Henryk Grossmann das Gesetz vom tendenziellen
Fall des Profitrate breittritt, koennen per se irgendeinen Hinweis auf die moegliche
Aufloesung der Misere zur sozialistischen Gesellschaft hin liefern. Sie sind ausserstande,
die Grundlage fuer die Konstituierung des revolutionaeren Subjekts anzugeben. Krise und
Untergang der buergerlichen Gesellschaft und die Herausbildung einer revolutionaeren
Gegenbewegung, die diesen Zustand ueberwinden kann, stehen einander innerhalb dieses
theoretischen Horizonts als aeusserliche und gleichgueltige Faktoren gegenueber. Zwischen
ihnen besteht kein innerer Zusammenhang. Die tausendfach beschworene Alternative
Sozialismus oder Barbarei droht jederzeit sich zur Barbarei hin aufzuloesen, denn nichts
garantiert, dass die Herausbildung einer selbstbewussten revolutionaeren Arbeiterklasse,
die das drohende Geschick allein wenden kann, mit der Durchkapitalisierung aller Laender
dieser Erde oder dem Verfall der allgemeinen Profitrate zeitlich korrelieren muss. An
diesem Punkt oeffnet der krisentheoretische Determinismus, der fuer gewoehnlich mit den
Namen Luxemburg und Grossmann in Verbindung gebracht wird, den Spielraum fuer sein
Pendant. Beide oekonomische Theoreme erfordern daher ihre Ergaenzung durch andersgeartete,
politisch-soziologisch strukturierte Theoreme 20
und enden in revolutionaerem Voluntarismus. Die marxistischen Zusammenbruchstheoretiker
koennen sich dieser, dem marxistischen Denken inhaerenten Stroemung nicht entziehen, ihre
Gegenspieler ueberlassen sich ihr von vornherein und treiben mit ihr wie tote Fische. In
der Sache hat sich der gesamte Marxismus von der Vorstellung einer dem Kapital immanenten
objektiven Schranke verabschiedet. In den seltensten Faellen (etwa bei Bernstein) geht
diese Abkehr allerdings mit einer expliziten Kritik dieses Grundaxioms der Marxschen
Kritik der politischen Oekonomie einher. Fuer gewoehnlich fuehlten sich die Marxisten mit
den Worten des grossen Meisters im Einklang 21
. Die Wortgetreuen beteten rund hundert Jahre lang bewusstlos herunter, dass "die
wahre Schranke der kapitalistischen Produktion..das Kapital selbst" 22
sei, aber ohne dass deswegen die Implikationen dieser Aussage ins Blickfeld geraten
waeren. Ebenso buchstabentreu wie pflichtbewusst leierten die marxistischen Theoretiker
ihr Bekenntnis zu diesem Grundaxiom der Marxschen Theorie herunter, um es de facto bei
allen analytischen Bemuehungen zu ignorieren. Der gewohnheitsmaessige Kotau vor den Worten
des grossen Meisters fuehrte, wann immer er sich theoretisch bewaehren wollte, nur zu
blamablen Resultaten. Mit all den zurechtgezimmerten Bezuegen und Deutungsmustern, mit
denen marxistische Theoretiker in den letzten hundert Jahren zu erklaeren versucht haben,
warum Marx davon ausgeht, dass das Kapital aus sich heraus ueber sich hinaustreibt und
sich schliesslich selber in die Luft sprengt, blieben nicht nur immer theoretisch
aeusserst duenn; schlimmer noch: Wo immer der traditionelle Marxismus den Marxschen
Gedanken von der absoluten Schranke des Kapitals einzuloesen meint, verkehrt er den bei
Marx anvisierten Zusammenhang in sein genaues Gegenteil und landet in krudem
Subjektivismus. Was auch immer den Gedanken einer immanenten objektiven Schranke
erlaeutern soll, war realiter nur dazu geeignet ihn zu dementieren.
Es faellt nicht sonderlich schwer zu erklaeren, warum keine der zahlreichen Facetten
marxistischer Theorie in der Lage war, den Gedanken einer objektiven Schranke
duchzuhalten. Der traditionelle Marxismus war in all seinen Spielformen wesentlich
Arbeiterbewegungsmarxismus. Das gesamte marxistische Denken musste sich durch das
Nadeloehr apologetischer Ueberhoehung des Arbeiterinteresses hindurchpressen. Die
Arbeiterklasse galt dem triumphierenden Marxismus uneingeschraenkt als Traeger der
besseren sozialistischen Zukunft. Diese Verherrlichung der Arbeiterklasse hatte aber ihren
Preis. Die Marxisten konnten kommunistische Bewegung und Arbeiteremanzipation nur in eins
setzen und die geliebte Arbeiterklasse mit den hoeheren Weihen eines revolutionaeren
Subjekts ausstatten, indem sie sie zu einer jenseits der buergerlichen Wirklichkeit
beheimateten Wesenheit verklaerten. Das Proletariat stand in der landlaeufigen
marxistischen Lesart fuer den ewigen Stoffwechsel von Mensch und Natur, fuer die reine
Gebrauchswertseite einer verkollektivierten Produktion. Es schien damit in seiner
Kernsubstanz den Irrungen und Wirrungen profitorientierter Privatproduktion enthoben. In
den Theoremen der alten Arbeiterbewegung verwandelt sich die Arbeiterklasse unweigerlich
in eine im Prinzip immer schon systemtranszendente Wesenheit, die der buergerlichen Form
nur aeusserlich unterworfen ist 23
. Die marxistischen Theoretiker hypostasierten das Proletariat zum ontischen Gegensatz zur
Herrschaft des Kapitals. Arbeiterklasse und Kapital erscheinen in den
traditionell-marxistischen Denkmustern nicht als die Pole ein und desselben
Verhaeltnisses, sondern als Verkoerperungen entgegengesetzter Prinzipien. Kapital und
Arbeit konstituieren nicht die gleiche Wirklichkeit, sondern verschiedene, die sich im
Grunde wechselseitig ausschliessen.
Diese Grundkonstellation bestimmt natuerlich nachhaltig auch die Denkschablonen, die sich
der Marxismus vom Ende des Kapitalverhaeltnisses zurechtschneidert. Die revolutionaere
Perspektive steht und faellt mit der proletarischen Unschuld. Der revolutionaere Beruf des
Proletariats entsprang in dieser Sichtweise nicht seiner Existenz als Moment der
buergerlichen Gesellschaft, es kam zu dieser Ehre, weil es im Grunde seiner Seele
ausserhalb des buergerlichen Verblendungszusammenhangs im Reich kraftstrotzender
Eigentlichkeit angesiedelt schien. Dementsprechend wird in diesem Interpretationsmuster
das Kapital nicht sich selber zum Schicksal, sein Los trifft es gewaltsam von aussen. Es
tritt ihm als ebenso aprioristisches wie feindliches Prinzip in der proletarischen Aktion
entgegen. Das Kapital faellt diesem sowohl simplen als auch stereotypen Gedankengang
zufolge dem Zugriff einer artfremden Arbeiter-Subjektivitaet zum Opfer. Gerade das
vermeintlich vom Kapital grundverschiedene Wesen der arbeitenden Klasse figuriert als
alleiniger Garant und conditio sine qua non der Beseitigung der buergerlichen
Gesellschaftsformation.
In dieser Aporie verhedderten sich unweigerlich alle Vorstellungen, die der traditionelle
Marxismus von der Aufloesung der kapitalistischen Produktionsweise im Laufe seiner
Geschichte entwickelt hat 24
. Im gesamten marxistischen Denken haengt die Hoffnung auf die nur transitorische Rolle
des Kapitalismus in der Menschheitsgeschichte an dieser immer unterstellten Zwei-Welten
Theorie 25
. Zum Subjekt revolutionaerer Umwaelzung wird sie gerade als die Inkarnation des ganz
Anderen, das dem Kapital und seiner inhaerenten Logik existentiell entgegengesetzt und
nicht von seiner Welt sein soll. Wo immer marxistisches Denken gezwungen ist, die
Arbeiterklasse als Moment der buergerlichen Gesellschaft anzuerkennen, muss es an der
Revolution verzweifeln 26
. Hoffnung auf die Aufloesung der buergerlichen Verkehrsform haengt im Marxismus am
Arbeiterheiligenschein. Die Ueberwindung des Kapitals scheint nur denkmoeglich, solange
ein archimedischer Punkt ausserhalb des kapitalistischen Sytems auszumachen ist, und das
Proletariat soll und muss diesen Part uebernehmen. Das ueberlieferte
Revolutionsverstaendnis wiederholt damit die klassische buergerliche Subjektillusion. Die
revolutionaere Subjektivaet wird nicht von den inneren Widerspruechen der
Wertvergesellschaftung freigesetzt, sie faellt aus dem transbuergerlichen Himmel. Die
Ueberlebensfaehigkeit der buergerlichen Gesellschaft haengt nicht von ihr selbst ab, sie
erscheint als Funktion der Lebenskraft und des Selbstbewusstseins einer ihm fremden
Subjektivitaet. Die Staerke des Kapitals ist die Schwaeche des Proletariats. Wo immer der
tradierte Marxismus das Ende des Kapitalismus ins Auge fassen will, wechselt er von einer
Betrachtungsweise, die auf der Analyse der inneren Logik des Kapitals zielt, in
transzendente Gefilde ueber. Sobald die Marxisten auf die apostrophierte, mit der
Fortexistenz des Kapitals unvereinbare Grenze zu sprechen kommen, deuten sie diese nicht
immanent, sondern verorten sie in letzter Instanz immer in dessen vermeintlichem
Kontrapunkt a priori, in der Arbeiterklasse. In den marxistischen Denkgewohnheiten ist das
Ende des Kapitalverhaeltnisses nicht nur mit der revolutionaeren Bewusstwerdung des
Proletariats kurzgeschlossen, der Arbeiterklasse kommt ihr revolutionaerer Charakter nur
in demselben Masse zu, wie die Verstrickung in die Haendel der schnoeden buergerlichen
Wirklichkeit an der Substanz proletarischen Daseins nichts aendert. Die revolutionaere
Arbeiterklasse verkoerpert eine hoehere Form kindlicher Unschuld 27
.
Ein revolutionaeres Subjekt, das auf diese Weise aus der objektiven Wirklichkeit der
schnoeden buergerlichen Gesellschaft ins Metaphysische entrueckt, kann auch nur mehr
gewaltsam mit dem Gedanken einer objektiven Schranke des Kapitals kurzgeschlossen werden.
Denn entweder ist es die subjektive Kraft des Proletariats, das Fleisch gewordene
sozialistische Prinzip, die dem Kapital als einer wesensfremden Macht ein Ende setzt, oder
es ist die buergerliche Form selber, die sich durch ihre Selbstentfaltung zur Strecke
bringt. Wo das Proletariat seinem arbeitsontologischen Wesen nach als revolutionaer gilt
und daher als Garant der kommunistischen Umwaelzung figuriert, ist fuer diese zweite
Option vom Zerfall des Kapitalverhaeltnisses, fuer seine objektive Krise, kein Platz. Wenn
die Verschmelzung von Marxismus und Arbeiteremanzipation paradigmatisch den theoretischen
Rahmen vorgeben, dann bleibt in diesem Bezugssystem kein Raum, um den Gedanken einer
objektiven Schranke theoretisch umzusetzen. Er kann nur unter die Vorherrschaft der
Arbeiterselbstherrlichkeit subsumiert und damit in sein Gegenteil pervertiert ueberleben.
Genau diesem Schicksal fiel die Vision einer dem Kapital immanenten Schranke zum Opfer. Im
arbeiterbewegten Universum ueberlebt der Gedanke einer objektiven Schranke nur als
Schatten und dem Schein nach. Das eilfertige Lippenbekenntnis geht mit einer gruendlichen
Metamorphose einher, die vom intendierten Gehalt nur eine Worthuelse uebrig laesst. Der
Versuch, zu verdeutlichen, was denn nun genau unter der absoluten immanenten Schranke des
Kapitals zu verstehen sei, fuehrte stante pede und unweigerlich zum Rekurs auf die
allseits vertraute und geliebte Arbeiterklasse.
Diese Lesart kann durchaus an bestimmte Ausfuehrungen im Marxschen Werk anknuepfen. Selbst
im "Kapital" rutscht Marx gelegentlich in die Arbeiterbewegungsdiktion.
Besonders eine Passage war beliebt, wenn es darum ging die transitorische Rolle des
Kapitals auf die klappernden Muehlen der Arbeiterbewegungsherrlichkeiten zu leiten. Was
Marx am Ende des 24. Kapitels des "Kapital" schrieb wurde tausendmal zitiert:
.azi
"Mit der bestaendig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses
Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, waechst die Masse des Elends, des
Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empoerung der stets
anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst
geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel
der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblueht ist. Die Zentralisation der
Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie
unvertraeglich werden mit ihrer kapitalistischen Huelle. Sie werden gesprengt. Die Stunde
des kapitalistischen Privateigentums schlaegt. Die Expropriateurs werden
expropriiert." 28
Was Marx in diesem Absatz seinen Epigonen schon in den Mund legt, kauen diese bis zum
Erbrechen und noch darueber hinaus ein Jahrhundert lang genuesslich wieder. In der
Vorstellungswelt der alten Arbeiterbewegung ist deshalb mit dem Untergang des Kapitalismus
zu rechnen, weil das Kapital bei der Herstellung und Ausdehnung seines
Herrschaftsbereiches nicht nur sich selber setzt, sondern in der lebendigen Arbeit
gleichzeitig auch sein Gegenprinzip bestaendig auf erweiterter Stufenleiter reproduziert.
Das Kapital ist an seinem eigenen Tod lediglich indirekt beteiligt. Es leitet seine
Abschaffung insofern ein, als es nicht in der Lage ist, den ganzen gesellschaftlichen Raum
auszufuellen und neben seiner selbst ein massenhaftes, seiner ganzen Natur nach zur
Transzendierung des kapitalistischen Systems genoetigtes, Proletariat erzeugt. Das Kapital
geht zugrunde, weil seine Expansion ungluecklicherweise an das Wachsen und Erstarken der
Arbeiterklasse gekoppelt ist. Es findet seine absolute Schranke den beiden populaersten
Varianten von arbeiterbewegtem Aberglauben zufolge im "stetigen Wachstum des
Proletariats an Kraft und Zahl", bzw. in der unaufhaltsamen "Verelendung der
arbeitenden Massen", die sie unweigerlich zum Aufstand treibt. Diese durch und durch
arbeitersubjektivistische Logik bringt der klassische Marxismus mit dem
"Objektivismus" der Marxschen Kritik der politischen Oekonomie zur
Scheindeckung, indem er sich auf "objektive Faktoren" kapriziert, die der
Wandlung von der "Klasse an sich" zur "Klasse fuer sich" foerderlich
sein sollen. Damit vertuscht der Marxismus aber nur notduerftig und in heilloser
Begriffverwirrung sein grundlegendes Quidproquo, die ungenierte Verkehrung der im
Proletariat gesetzten vermeintlichen Gegensubjektivitaet zur objektiven Schranke des
Kapitals. Statt die subjektivistisch-soziologistische Grundkonstellation zu ueberwinden,
vernebelt das marxistische Denken dieses Basisraster nur und zementiert es.
Arbeiterstandpunktssubjektivismus und kruder oekonomistischer Objektivismus schliessen
einander nicht nur nicht aus, sie bedingen einander im tradierten marxistischen Denken.
Besonders krass stoesst ihr geheimes einvernehmliches Miteinander im Werk von Karl Kautsky
auf. Er vereinigt in seiner Theoretikerperson geradezu klassisch beide Pole des
arbeiterseligen Universums. Einerseits fabuliert er fuer gewoehnlich genuesslich von den
"ehernen oekonomischen Notwendigkeiten", und geht in seinem Vulgaermaterialismus
sogar soweit, die hollaendische Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts mit der Entwicklung
des hollaendischen Wollhandels kurzzuschliessen, andererseits steht hinter diesem
Primitivoekonomismus ein blanker darwinistisch gestrickter Subjektivismus. In letzter
Instanz entspringt der Kampf der Arbeiter aus dem "Willen zu leben" und auch die
revolutionaere proletarische Bewegung hat diese ontologische Bestimmung zum Urquell ihrer
Kraft:
"Wenn nicht der Urgrund aller oekonomischen Notwendigkeit, der Wille zu leben, in den
Arbeitern aufs kraftvollste wirkte, wenn dieser Wille in ihnen erst kuenstlich geweckt
werden muesste, dann waere all unser Streben vergeblich. " 29
Der Untergang des Kapitals bleibt gerade bei dieser Vogelscheuche von marxistischem
Objektivismus im Grunde schon in der nackten biologischen Existenz der Arbeiterklasse
angelegt. Das Kapital zerschellt schliesslich am proletarischen Urgestein; es geht unter,
sobald die Arbeiterklasse mit sich, d.h. ihrem vorgeblich revolutionaeren Wesen ins Reine
kommt 30
.
Diese hanebuechene Reduktion der Marxschen Theorie ist, wie wir weiter oben schon gesehen
haben, bereits im Spannungsverhaeltnis zwischen dem "esoterischen" und
"exoterischen" Marx praeformiert, das das Marxsche Werk insgesamt
charakterisiert. Waehrend bei Marx der Positivbezug auf die reale Arbeiterbewegung und die
radikale Fetischismuskritik nebeneinander existieren, loesen seine arbeiterbewegten
Epigonen den unhaltbaren inneren Gegensatz ebenso zielsicher wie einseitig zugunsten der
Vision einer proletarischen Revolution auf. Ohne den geringsten Anflug von
Problembewusstsein ignorieren sie das dunkel-unverstaendliche fetischismuskritische Raunen
und werfen sich dafuer voll Inbrunst auf die Option einer triumphierenden und endlich zur
politischen Herrschaft gelangenden Arbeiterklasse. Die filigrane Zauberformel
"Selbstaufhebung des Proletariats", in der Marx mit einiger theoretischer
Akrobatik die selbstbewusste proletarische Aktion beschwoert, sie aber gleichzeitig an die
radikale Kritik des Arbeiterdaseins zurueckkoppelt, weicht im nachfolgenden
Arbeiterbewegungsmarxismus der simplen Affirmation eines positiv verstandenen
Arbeiterstandpunkts. Der unbedingte Glaube an den revolutionaeren Beruf der Arbeiterklasse
rutscht ins Ontologische. Das Proletariat gilt im Selbstverstaendnis der revolutionaeren
Arbeiterbewegung nicht mehr als die negative Seite der buergerlichen Gesellschaft, sie
wird zur positiven, bereits "an sich seienden" transbuergerlichen,
revolutionaeren Groesse verklaert. In dieser tief eingeschliffenen Lesart wird der
revolutionaere Charakter zum Wesensmerkmal der Arbeiterklasse. Jede Abweichung von dieser
zugeordneten Grundbestimmung kann daher nur mehr in die vom heutigen Standpunkt schon
pathologisch wirkenden Kategorien des mangelnden Bewusstseins, der boeswilligen
Manipulation und der ueblen Bestechung 31
eingeordnet werden.
5. Objekt-Subjekt-Dichotomie und Determinismus
Der Gedanke einer immanenten objektiven Schranke der kapitalistischen Produktionsweise
zielt auf deren Totalitaet. Er ist nur dann sinnvoll durchhaltbar, wenn der Begriff
Objektivitaet weit gefasst wird und die handelnden, von der Wertform erzeugten Subjekte,
konsequent mit einschliesst. So etwas wie eine objektive Schranke ist nur dann
denkmoeglich, wenn die von der Wertvergesellschaftung hervorgebrachten sozialen Klassen
als Bestandteil der objektiven Wirklichkeit und nicht als deren Widerpart gefasst werden.
Der Gedanke einer objektiven immanenten Schranke unterstellt stillschweigend die Analyse
des Konstituierungszusammenhangs mit, der die konkurrierenden Exekutoren der buergerlichen
Vergesellschaftung erzeugt. Der traditionelle Marxismus verfuegt an diesem Punkt ueber
keinerlei Problembewusstsein. Das Konstitutionsproblem verkommt in der ueberlieferten
Marxrezeption durchgaengig zur black box. Die Ausfuehrungen zum Thema im Marxschen Werk
quittieren die Marxisten konsequent mit Unverstaendnis und Desinteresse 32
. Sie haken diese entscheidende Schnittstelle revolutionaerer Theoriebildung, soweit sie
sie ueberhaupt wahrnehmen, unter der Rubrik esoterische Spitzfindigkeiten ab. Die Folgen
dieser Betriebsblindheit sind ebenso durchschlagend wie verheerend. Da der Marxismus die
Klassen und ihren Konkurrenzkampf ganz unbekuemmert als voraussetzungslose, nicht mehr
hintergehbare Entitaet behandelt und sich den Zugang zum Konstitutionsproblem hermetisch
versperrt, ist er ausserstande, die Frage nach dem Subjekt in die Analyse der objektiven
Wirklichkeit zu integrieren. Er kann sie nur mehr als gesonderte Spezialfrage, jenseits
einer objektiven Seite der historischen Entwicklung formulieren. Die Wirklichkeit
zerfaellt ihm unweigerlich in den unaufhebbaren Dualismus von Subjekt und Objekt. Wo immer
er auch auf die ihn umgebende Realitaet trifft, spaltet sie sich ihm im Handumdrehen in
auseinanderstrebende "subjektive" und "objektive Faktoren" 33
. Die Totalitaet des gesellschaftlichen Prozesses verliert sich im Dunkeln und weicht dem
mechanischen Wechselspiel einander aeusserlicher objektiver und subjektiver Faktoren. Alle
Versuche, die beiden auseinanderdriftenden Haelften wieder zusammenzubringen, gleichen
innerhalb dieses Universums dem Versuch der Quadratur des Kreises, und so praegt die
unaufgeloest durchgeschleppte Subjekt-Objekt-Dichotomie, von den Marxisten vorzugsweise
euphemistisch als "Dialektik" bezeichnet, das Antlitz des Marxismus bis zum
heutigen Tag.
Das Auftreten einer fremden, ausserhalb der handelnden Subjekte angesiedelten Wirklichkeit
knackt deren esoterisch-undurchdringlichen Status nicht auf, sondern bestaetigt ihn nur.
Die bis zum Exzess apostrophierte "Wechselwirkung" zwischen Subjekt und
umgebender Wirklichkeit bleibt allzeit brav mechanisch und belaesst das handelnde Subjekt
in seiner Kernsubstanz unangetastet im exterritorial-ontischen Vorraum. Der einigen
Theoretikern der alten Arbeiterbewegung zugeordnete Objektivismus fuegt sich bestens in
dieses Raster ein. Der Objektivismus
la Hilferding oder Kautsky ist keineswegs die
radikale Kritik des Subjektivismus, fuer den ihn seine Gegner und Anhaenger halten,
sondern dessen Zwillingsbruder. Das Grunddilemma von aprioristischem Subjekt und
aussermenschlichem, quasi naturgesetzlichem, gesellschaftlichem Prozess laesst sich eben
nicht durch Selbstbeschraenkung hintergehen. Wer sich auf inneroekonomisches Raesonnieren
zurueckzieht, durchstoesst den fatalen Zirkel nicht, er schafft nur eine schmerzhafte
Leerstelle. Die subjektivistische Gegenwende ist darin bereits praejudiziert. Was als
diametraler Gegensatz erscheint, bildet ein zusammengehoeriges Denkuniversum. Genauso wie
es enorme Schwierigkeiten bereitet, einen Magnetpol vom anderen zu isolieren, und sich bei
jeder Teilung die bipolare Struktur wiederherstellt, genauso wenig koennen Objektivismus
und Subjektivismus einander loswerden. Der Objektivismus schreit in seiner Konsequenz nach
der notwendigen Ergaenzung durch sein immanentes Gegenteil und findet sie denn auch.
Solange wir nicht zum Konstituierungsproblem durchstossen und damit den falschen Gegensatz
von Objekt und Subjekt aufloesen, bleibt das Gegenstueck zum Objektivismus, das unbedingte
Subjekt, das Geheimnis seines eigenen Vexierbildes. Weit davon entfernt, einander
verdraengen zu koennen, fuegen sich "objektivistische" und
"subjektivistische" Stroemungen im marxistischen Denken zu einer
zusammenhaengenden Weltsicht zusammen, und nur die Gewichtung beider Faktoren macht den
Streit zwischen den Konkurrenten aus 34
. Der Marxismus hat in seiner Geschichte den Kampf zwischen beiden Linien zu einer seiner
Lieblingsmelodien gemacht. Bliebe er ungestoert, so koennte er dieses Wechselspiel noch
jahrhundertelang fortsetzen, ohne dass aus dem im Grunde ewig gleichen Binnenkonflikt
heraus noch irgendein vorwaertstreibender Impuls zu erwarten waere.
Der traditionelle Marxismus transportierte sein Lebtag die buergerliche Subjektillusion.
In seinen Rastern steht dementsprechend fuer gewoehnlich das handelnde Subjekt, dessen
Bedingungszusammenhang unhinterfragt bleibt, fuer die aktive, veraendernde Seite. Das
Konstituierte erscheint als letztendliches Agens; die gesellschaftliche Objektivitaet
hingegen gibt den passiven Hintergrund ab. Sie stellt das Material, das die mit
unbedingten Willen begabten (Klassen)subjekte aus freier Schoepferkraft heraus
umgestalten. Wo marxistische Theoriestraenge dieser durchgaengigen Subjektvergottung
gegenueber den Selbstlauf des objektiven gesellschaftlichen Prozesses geltend machen,
gelingt es ihnen nicht, dieses Wahrnehmungsraster zu durchbrechen. Was sich als
innermarxistischer Gegenpol zum kruden Arbeiterbewegungssubjektivismus formiert, ist nur
ein quietistisches Zerrbild, das seinem Kontrapunkt in jeder Beziehung wuerdig und
ebenbuertig ist. Die marxistischen Oekonomisten, Lichtjahre davon entfernt, den
Konstituierungszusammenhang aufzurollen, druecken sich konsequent um das Subjektproblem.
Ihre Beschaeftigung mit determinierten Entwicklungen spart die determinierende
buergerliche Formbestimmung selber aus und beschraenkt sich auf die Untersuchung
vermeintlicher oder realer sozialer und oekonomischer Binnentrends. Diese Reduktion auf
abgeleitete Ebenen im System der Kritik der politischen Oekonomie geht mit einer fatalen
Positivwendung einher. Die aus ihrem Bezug auf die buergerliche Form herausgeloesten
ehernen oekonomischen Gesetze werden nicht als abzuschaffendes Uebel thematisiert, sie
gelten statt dessen als Verbuendete der sozialistischen Bewegung und als Garanten ihres
letztendlichen Triumphes. Voll Gottvertrauen ueberlaesst sich diese Sorte von Marxismus
dem determinierten Zusammenhang und erwartet, dass der blinde Selbstlauf aus sich heraus
ohne Rekurs auf die Subjekte schon so etwas wie eine sozialistische Gesellschaft
inaugurieren wuerde. Diese Sichtweise findet wohl im Hilferdingschen
"Finanzkapital" ihre bekannteste und folgenreichste Auspraegung. Nur ein
schmaler Grat trennt bei diesem Klassiker des Marxismus das kapitalistische
"Generalkartell", das er an die Wand zu malen sucht, von einer wahrhaft
sozialistischen Reproduktion. Und so waere ganz folgerichtig die blosse Uebernahme von
sechs bis sieben Berliner Grossbanken durch den Staat vollkommen zureichend, um das
imperialistische deutsche Kaiserreich in eine sozialistische Republik zu verwandeln. In
dieser Lesart reimt sich der Verweis auf die Determiniertheit des buergerlichen
Entwicklungsprozesses auf revolutionaeren Attentismus und fatalistische Zukunftshoffnung
und verschmilzt mit ihnen zu einem Gesamtkomplex.
Die tief eingefressene Positivkonnotation verfehlt allerdings nicht nur die Stossrichtung
der Marxschen Kritik der politischen Oekonomie, sie verkehrt sie schlicht und einfach in
ihr genaues Gegenteil. Die Marxsche Kritik der politischen Oekonomie intendiert keinen
determinierten Uebergang zu einer sozialistischen Reproduktion. Das Vorhandensein
objektiver gesellschaftlicher Zwangsgesetze ist ein Charakteristikum der buergerlichen
Entwicklungsstufe. Der Uebergang zu einer kommunistischen Gesellschaft faellt so mit dem
bewussten Sprung aus einer determinierten, von der Last der toten Arbeit bestimmten
Wirklichkeit in eine den Reflexionen und Wuenschen der Menschen erstmals zugaenglichen
Welt zusammen. Marx weist in seinen Schriften die Determiniertheit des gesellschaftlichen
Prozesses nicht nach, um damit die Subjekte von ihrer transzendierenden Aufgabe zu
entlasten. Die Marxsche Theorie, weit davon entfernt die deterministische Uebermacht des
Objektiven zu vergoettern und sich mit ihr ins stille Einvernehmen zu setzen, ist ihrem
ganzen Wesen nach gerade Kritik jeder Determiniertheit. Wenn Marx betont, dass unter
kapitalistischen Bedingungen die Subjekte lediglich auf wachsender Stufenleiter die
Zwangsgesetze der Wertvergesellschaftung exekutieren, und sich in der Folge auch die
gesamtgesellschaftlichen Resultate ihres Handelns von jedem subjektiven Wollen und
Begehren emanzipieren, so fuehrt er das keineswegs als Argument zur Verherrlichung und
schliesslichen Anerkennung objektiver gesellschaftlicher Gesetzmaessigkeiten an, sondern
konzentriert darin seine Kritik an der buergerlichen Vergesellschaftungsform! Das
Kapitalverhaeltnis muss gerade deshalb verschwinden, weil in ihm die menschlichen
Beziehungen die Form der Beziehungen von Sachen annehmen und in dieser
Gesellschaftsformation die menschlichen Produkte ueber ihre menschlichen Produzenten
triumphieren. Die buergerliche Gesellschaft setzt zu guter Letzt ihre eigene Aufhebung auf
die Tagesordnung, weil sie keine ihrer selbst bewusste konkrete menschliche Subjektivitaet
zulaesst, vielmehr unterschiedslos alle von ihr erzeugten Sozialkategorien ueber den
Leisten der abstrakten Wertform schlagen muss und so ihre eigene Entwicklung auch nicht in
den Griff bekommen kann. Auf den ersten Blick scheint diese Argumentation vielleicht auf
ein moralisches Verdikt hinauszulaufen, das in der Beschwoerung eines rein
voluntaristischen revolutionaeren Akts gipfelt. Sie beinhaltet aber in doppelter Hinsicht
mehr als das. Zum einen ist die Emanzipation der menschlichen Produkte von ihren
Produzenten nicht nur ein skandaloeser Zustand; mit der Verobjektivierung und
Verdinglichung des gesellschaftlichen Zusammenhangs ist gleichzeitig ,in noch sehr
abstrakter und allgemeiner Form, bereits auch die Krisenhaftigkeit kapitalistischer
Entwicklung gesetzt! Zum anderen bedeutet die Krise nicht einfach die blinde Negation der
bestehenden Ordnung und damit auswegsloses Chaos, sie steht selber fuer das angestaute
Emanzipationspotential! Sie enthaelt, negativ verpuppt und ins Katastrophische verkehrt,
die wesentlichen Bestimmungen einer kommunistischen Gesellschaft. Die Verobjektivierung
des gesellschaftlichen Zusammenhanges, die bedingungslose Unterwerfung der Subjekte unter
die Wertlogik, macht nicht die besondere Staerke, sondern die besondere Schwaeche und
Instabilitaet des Kapitalverhaeltnisses aus. Wenn Marx gegen die kapitalistische
Produktionsweise die Tatsache anfuehrt, dass in ihr den Menschen der Zugriff auf den
eigenen Zusammenhang entzogen wird und sie marionettenhaft auf Traeger einer fremden ihnen
vorausgesetzten Logik reduziert werden, so protestiert er damit gegen die unmenschliche
Irrationalitaet kapitalistischer Vergesellschaftung, er arbeitet gleichzeitig aber auch in
nuce ihre letztliche Unhaltbarkeit heraus. Eine Vergesellschaftungsform, die sich um den
Wert als das determinierende automatische Subjekt zentriert, muss sich zu guter Letzt ad
absurdum fuehren. Im Schatten, den die auf die Spitze getriebene wertfoermige
Vergesellschaftung auf die Erde wirft, sind bereits die Umrisse des Kommunismus zu
erkennen. Marx analysiert Wert und Verobjektivierung genau in diesem Sinn. Weder operiert
er positiv mit ihnen noch verzweifelt er an der Unaufloesbarkeit einer schlechten
Wirklichkeit. Der Gedankengang muendet in die Antizipation der Aufhebung des beschriebenen
Zustands. Die Kritik eines vom Wert durch und durch determininierten Gesellschaftzustands
spitzt sich zum Gedanken einer objektiven Schranke zu.
Wenn wir die Marxsche Kritik der politischen Oekonomie unter diesem Blickwinkel zu
reformulieren versuchen, so muss eins dabei von vornherein klar sein. Die objektive Krise
der kapitalistischen Form muss die Krise der vom Wert konstituierten Sozialkategorien mit
einschliessen. Die Krise des Werts ist unweigerlich auch die der abstrakten wertfoermigen
Subjektivitaet. Der gesellschaftliche Prozess setzt Momente revolutionaerer Subjektivitaet
nur in demselben Masse frei, wie er das abstrakte Ware-Geld-Subjekt zersetzt. Wenn wir die
totale Krise der Wertform und die darin enthaltene revolutionaere Perspektive aufzeigen
und konkretisieren wollen, so muessen wir untersuchen, wie die totale Krise der Wertform
auf die wertfoermig konstituierten Existenzweisen durchschlaegt, sie entleert und ins
Wanken bringt.
Die Frage nach der Genesis revolutionaerer Subjektivitaet wird nicht ueberfluessig, wenn
wir von einer dem Kapital immanenten objektiven Schranke ausgehen, sie stellt sich unter
gaenzlich veraenderten Vorzeichen jenseits aller aprioristischen Raster neu und damit erst
wirklich radikal. Der Rekurs auf die Fetischismuskritik als den Angelpunkt des Marxschen
Werkes bedeutet zwar den radikalen Abschied vom revolutionaeren Subjekt a priori, die
Frage nach revolutionaerer Subjektivitaet ist damit aber genausowenig erledigt wie eine
revolutionaere Perspektive.
6. Die negative Fortschreibung des Subjektmythos
Der marxistische Apriorismus hat viele Spielarten. Der klassische
Arbeiterbewegungsmarxismus ist nur sein aeltestes und naivstes Sediment. Die Kritik des
Apriorismus muss auch die abweichenden Versionen einschliessen, in denen das marxistische
Denken die praktische Entweihung des Arbeiterstandpunkts innerhalb seiner aprioristischen
Raster verarbeitet. Die Ueberhoehung des Arbeiterinteresses zur transbuergerlichen Gewalt
ist Ausgangspunkt, aber nicht Schlusspunkt unserer antiaprioristischen Ueberlegungen.
Wann immer sich der klassische Arbeiterbewegungsmarxismus mit der Ueberwindung des
Kapitalverhaeltnisses beschaeftigte, war die Arbeiterklasse als revolutionaeres Subjekt a
priori Dreh- und Angelpunkt. Jede revolutionaere Perspektive hatte die Deifizierung des
Proletariats zur Grundlage. Die Frage nach der Formbestimmung dagegen war fuer die
Theoretiker der 2. und 3. Internationale und ihre Adepten ein unbekanntes boehmisches
Dorf. Sie wiederholten statt dessen ohne Anflug von Problembewusstsein die buergerliche
Subjektillusion mit proletarischem Vorzeichen und besangen den Arbeiter als den
unbedingten und nicht hintergehbaren geschichtlichen Heros. Der geschichtliche Horizont
schien ebenso klar und deutlich vorgezeichnet wie strahlend. Der unaufhaltsame Zug der
selbstbewussten Arbeitermassen zur Sonne, zur Freiheit endet aber abrupt und unschoen. Das
Vertrauen in die selbstbewusste proletarische Kraft, die revolutionaere transbuergerliche
Emphase der Arbeiterbewegung, zerplatzte unter der eindringlichen Erfahrung von
Stalinismus, Faschismus und Wirtschaftswunder. Diese tiefen historischen Einschnitte
erschuetterten den aprioristischen Revolutionsoptimismus bis in seine Grundfesten und
machten ihm in seiner ungebrochenen Form ein fuer allemal den Garaus. Mit dem faelligen
Katzenjammer vollzog das marxistische revolutionstheoretische Denken eine einschneidende
Wende. Konfrontiert mit den Unbilden des realen historischen Prozesses schalteten die
sensibleren Elemente im oppositionellen Geistesleben vom reichlich derangierten
revolutionaeren Optimismus auf jene Trotzhaltung gegenueber der empirischen Entwicklung
um, die seitdem deren Diktion wesentlich charakterisiert. In Deutschland markiert vor
allem die Kritische Theorie und ihre Verbreitung diesen Umschlag. Die Vertreter der
Frankfurter Schule stossen sich energisch vom altvorderen Standpunkt einer sich
revolutionaer gerierenden Arbeiterapologetik ab. Den vorgaengigen Marxismen, die ihre
revolutionaere Hoffnung immer auf dem ontischen proletarischen Urgestein gegruendet haben,
halten sie die reale Integration der Arbeiterschaft, die Subsumtion der proletarischen
Massen unter die buergerliche Form entgegen. Am naiven Gottvertrauen in die revolutionaere
Reinheit des Proletariats verzweifend, machen die Kritischen Theoretiker, allen voran
Adorno und Horkheimer, gegenueber der hausbackenen arbeiterbewegungsmarxistischen
Konkurrenz die Reichweite und Tiefendimension kapitalistischer Fetischisierung geltend,
die auch die Arbeiterklasse in ihren Bann schlaegt. Die fortschreitende Verdinglichung,
die unaufhaltsame porentiefe Durchdringung aller gesellschaftlichen und individuellen
Beziehungen durch die Kapitallogik wird zum zentralen und unerschoepflichen Thema des
gesamten Theoriestrangs.
So beeindruckend sich die Frankfurter Schule vom Arbeiterbewegungsmarxismus abhebt, so
wichtig und vorwaertstreibend ihre Kritik an der marxistischen
Arbeiterstandpunktsapologetik auch war, sie blieb unzureichend. Denn Adorno, Horkheimer
und die uebrigen Protagonisten der Kritischen Theorie kamen ueber das aprioristische
Subjektdenken nicht hinaus, sie verarbeiten den Zusammenbruch des aprioristisch
argumentierenden Arbeiterbewegungsmarxismus selber wiederum innerhalb des vertrauten
Schemas. Statt die Analyse des Konstitutionszusammenhangs bis zur Kritik des Apriorismus
ueberhaupt weiterzutreiben, verschob die Kritische Theorie nur den Ursprung des
aprioristischen Koordinatensystems. Die Kritischen Theoretiker ersetzen das blamierte
unbedingte Arbeitersubjekt, an dem sich die kapitalistische Wirklichkeit in der
arbeiterbewegungsmarxistischen Diktion zu messen hatte, durch Alternativversionen
aprioristischer Subjektivitaet.
Der archimedische Punkt ausserhalb bleibt dabei zwar schillernd, oft im Ungefaehren und
wird nicht selten nur implizit angegeben, in dieser Diffusitaet ist das aprioristische
Subjekt aber allgegenwaertig. Indem sie die reale historische Entwicklung unter dem Aspekt
der Subjektvernichtung wahrnehmen, unterstellen die Kritischen Theoretiker damit logisch
immer gleichzeitig eine schon vorgaengig vorhandene Subjektivitaet, die durch die
kapitalistische Ueberformung im nachhinein erst ausgeloescht wird 35
. So facettenreich die Frankfurter Schule und ihre Entwicklung war, so wiederholt sie
diese Grundkonstellation doch durchgaengig. Vom grundsaetzlichen Wahrnehmungsraster her
ist es nur von sekundaerer Bedeutung ob das ichstarke buergerliche Indivduum, das
Idealbild der Freudschen Psychoanalyse, als verblichenes Gegenbild zur totalen
Verdinglichung herhalten muss, oder ob die aprioristische Subjektivitaet mit der hellen
Seite der Aufklaerung identifiziert wird. In allen Faellen fuehrt erst die
subjektillusionaere Grundierung zu den pechschwarzen Toenen in denen die Kritischen
Theoretiker ihr Bild vom Siegeszug der Wertbeziehung halten. Das aprioristische Subjekt
figuiriert als die Messlatte an der sich das Faktische als das schlechte Faktische
enthuellt. Zum liquidierten Paradies stilisiert, gibt es den unvermeidlichen Kontrapunkt
zum diagnostizierten Subjektverfall ab. Die Kritische Theorie bleibt auf diese Weise
negativ auf das aprioristische revolutionaere Subjekt fixiert.
Der Unterschied zur Marxismusorthodoxie erschoepft sich wesentlich im Vorzeichenwechsel,
er trifft nicht die Grundstruktur. Im Arbeiterbewegungsmarxismus kam das aprioristische
Subjekt offensiv und naiv soziologistisch daher. Die Frankfurter Schule vernebelt es ins
Philosphische und/oder verschiebt es in die Vergangenheit. Wo im
Arbeiterbewegungsmarxismus am historischen Horizont eitler Sonnenschein herrschte, droht
bei den Frankfurtern stockdunkle Nacht. Das aendert aber nichts daran, dass es immer noch
ein und derselbe Denkhimmel ist, der uns da praesentiert wird.
Der Salto mortale rueckwaerts schuetzt das Grundraster vor der falsizifizierenden
empirischen Wirklichkeit und schafft die Grundlage fuer den nunmehr 40 Jahre dauernden
Altweibersommer des ergrauten und truebsinnig gewordenen systemoppositionell fuehlenden
Apriorismus. Statt die aprioristischen Raster abzustreifen, um den
Konstitutionszusammenhang auf die seiner eigenen Dynamik inhaerenten Bruchlinien
abzuklopfen, orientiert sich die Kritische Theorie bis in ihre Enkelgeneration hinein nach
rueckwaerts und schoepft ihr radikales Nein zur verdinglichten modernen buergerlichen
Gesellschaft aus Rueckerinnerung an den liberalistischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts
und einem aufs Mikrologische beschraenkten Messianismus 36
. In dieser Verarbeitungsform wahrt die Kritische Theorie im klaren Bruch mit der
klassischen Apotheose der Arbeitersubjektivitaet die Kontinuitaet des zugrundeliegenden
Kategoriensystems. Wie der klassische Marxismus, so kreist auch die kritische Haeresie,
wann immer sie sich dem Problem der Ueberwindung des Kapitalverhaeltnisses zuwendet,
unweigerlich um das revolutionaere Subjekt a priori. Das Zentralgestirn hat seine einstige
Leuchkraft eingebuesst und ist laengst zum weissen Zwerg geschrumpft, aber dennoch bleibt
jeder Gedanke an die Transzendierung der buergerlichen Gesellschaft bis zum heutigen Tag
in seinem Gravitationsfeld eingefangen. Veroedet und ohne Hoffnung auf Erloesung umlaufen
die restlichen Planeten theoretisch argumentierender Systemopposition bis zum heutigen Tag
beharrlich die verschrumpelte aprioristische Sonne. Die ernuechternde praktische Demontage
jener Revolutionshoffnung die sich aus der Apologetik des Arbeiterstandpunkts speist, hat
das aprioristische Sonnensystem nachhaltig veraendert aber nicht gesprengt.
Der Preis, den die Kritische Theorie und ihre Adepten fuer die unkritische Verlaengerung
des Apriorismus zu zahlen hat, ist hoch. Er besteht im endgueltigen Verlust jeder
revolutionaeren Perspektive. Wo der Ausbruch aus dem Verblendungszusammenhang an die Figur
eines aprioristischen Subjekts gekoppelt ist, muss die Darstellung der fortschreitenden
Versachlichung aller gesellschaftlichen Beziehungen logisch im Postulat der
Unaufhebbarkeit des kritisierten Verhaeltnisses gipfeln 37
. Weil die Kritische Theorie die entscheidende Widerspruchsebene nicht als dem
verobjektivierten Verhaeltnis immanent betrachtet, sondern sie statt dessen ganz
traditionell ihrem Wesen nach in den Gegensatz von aprioristischer Subjektivitaet und
Verdinglichung verlegt, verschwindet mit der Entfaltung des Kapitals die revolutionaere
Option im Orkus. Die immanenten objektiven Widersprueche moegen vielleicht fortexistieren.
Sie scheinen auf jeden Fall stillgestellt und unerheblich geworden, weil der subjektive
archimedische Punkt ausserhalb fehlt, an dem dieser Hebel ansetzen koennte um wirksam zu
werden. Im Laufe ihrer Entwicklung schliesst sich die schlechte kapitalistische
Wirklichkeit zur wasserdichten "negativen Totalitaet", weil sie die Diskrepanz
zwischen Subjektivitaet und dem objektiven gesellschaftlichen Prozess ausloescht. Der
Verweis auf den allgegenwaertigen Konstituierungszusammenhang, der allen in der
buergerlichen Gesellschaft existierenden Sozialkategorien zugrunde liegt, macht in diesem
Interpretationsmuster den Traum einer nicht verdinglichten kommunistischen Gesellschaft
gegenstandslos. Indem sie ihre radikale Kritik an der buergerlichen Gesellschaft nach
diesem Strickmuster formuliert, spricht die Kritische Theorie daher gleichzeitig das
Verdikt ueber ihre eigene historische Durchschlagskraft. Die Wirklichkeit, der sich Adorno
und die anderen gegenuebersehen, draengt nicht zum kritischen Gedanken, sondern mit aller
Gewalt von ihm weg 38
. Mit dem aprioristischen Subjekt verschwindet die Hoffnung auf die Aufhebbarkeit des
herrschenden Schlechtfaktischen aus dieser Welt. Die Kritischen Theoretiker sehen den
"nicht verdinglichten Rest" dahinschmelzen, und damit droht ihnen die
menschliche Geschichte schon in ihrer Vorgeschichte zu verenden. Weil die buergerliche
Gesellschaft unbedingte Subjektivitaet nicht zulaesst, verwandelt sie sich zum
monolithischen Block, der jede Negationsbewegung laengst verschluckt hat. Die Dynamik und
Rasanz der realen historischen Entwicklung verkommt zu einem ebenso grausamen wie
tautologisch-sinnlosen Prozess, der die Herrschaft des Kapitals bis zum Ende der Zeiten
nur mehr bestaendig auf erweiterter Stufenleiter reproduziert 39
.
So stimmig und in sich geschlossen diese Argumentation auch wirkt, so bruechig erweist
sich bei genauerem Hinsehen das zugrundeliegende Paradigma. Wenn die Kritische Theorie und
die Heerscharen ihrer Adepten die Entfaltung des Werts notorisch als fortschreitenden
Subjektivitaetsverlust deuten und beklagen, so sitzen sie einem Phantom auf. Die allzeit
ausgemalte "Vernichtung von... Subjektivitaet durch den Prozess der reellen
Subsumtion" 40
, "die Regression der Massen", "die tendenzielle Annaeherung ihrer
Erfahrungswelt an die der Lurche" 41
trifft die reale historische Entwicklung schon deshalb nicht, weil sie etwas als Verlust
deklariert, was vorab niemals existiert hat! In keiner Phase der Vergangenheit hatten die
Massen je ihre amphibische Existenzweise ueberwunden. Die Herstellung abstrakter
geldfoermiger Subjektivitaet bedeutet daher nicht die Vernichtung einer bereits
vorhandenen autochthonen Version. Gerade umgekehrt, als abstraktes buergerliches Geld- und
Warensubjekt erblickt das Individuum ueberhaupt erst das Licht der Welt! Individualitaet
und Subjektivitaet werden keineswegs vom Wert und seinen Emanationen historisch
verdraengt, sie sind selber, wenn auch in abstrakter, dem Warenfetisch unterworfener Form,
das genuine Produkt der Entfaltung der Wertbeziehung. Erst der Siegeszug der buergerlichen
Form zersetzt alles quasi-natuerliche und setzt an seine Stelle die bis dahin unbekannte
Frage nach dem Subjekt als Massenphaenomen. Vor dem Entstehen der buergerlichen
Gesellschaft, in den organischen auf unmittelbarer Herrschaft beruhenden Formationen kann
von sozialer Individualitaet genau genommen gar nicht die Rede sein 42
. Es bedarf schon eines geruettelten Masses an Idealisierung und Romantizismus, um in der
viehisch-waldurspruenglichen Existenzweise der vorbuergerlichen baeuerlichen Massen so
etwas wie Subjektivitaet ausmachen zu wollen. Die Menschen fuegten sich in diesen
Verhaeltnissen einfach bruchlos in vorgegebene Rollen ein und kamen gar nicht auf die
Idee, die vorgezeichneten Lebensgleise auch nur zu hinterfragen. Sie vegetierten statt
dessen in stumpfsinniger Selbstverstaendlichkeit dahin. Bauer und Baeuerin waren in ihrer
organischen Gebundenheit auf den sozialen Zusammenhang bezogen genausowenig Subjekt wie
die Kuh, mit der sie unter einem Dach lebten. Das bornierte, noch halb
staendisch-gebundene proletarische und kleinbuergerliche Elend des beginnenden
Jahrhunderts war ebenfalls kaum der geeignete Naehrboden, auf dem sich Individualitaet zur
Bluete haette entfalten koennen. So etwas wie individuelles Denken und Fuehlen konnte sich
vor dem 20. Jahrhundert nur in ganz wenigen gesellschaftlichen Nischen, vor allem im
Schoengeistigen halten, und markierte selbst wiederum schon die Morgendaemmerung
buergerlichen Denkens. Erst der Durchmarsch der Wertbeziehung loeste endlich die
organischen Verwachsungen auf, die bis dato die breite Masse der Menschen an ihren eng
eingezirkelten Lebenskreis gefesselt hatten und schuf mit zunehmender
Rollendifferenzierung und der Moeglichkeit alternativer Lebensentwuerfe die Voraussetzung
zur Entwicklung von Individualitaet und Subjektivitaet. Er oeffnet den Menschen einen bis
dahin ungeahnten Kosmos gesellschaftlicher und persoenlicher Moeglichkeiten. Waehrend in
vorkapitalistischen Formationen die Menschen nach Herkommen und Tradition sich in einen
ererbten und vorgezeichneten Lebenslauf einzufuegen hatten, konstituiert die Wertform eine
breite Palette von Existenzweisen, zwischen denen die modernen Individuen waehlen koennen
und muessen. Die Entfaltung abstrakter Geldsubjektivitaet bedeutet gegenueber dem status
quo ante daher einen gewaltigen Emanzipationsschub.
Die Befreiung von unmittelbar personalen Abhaengigkeitsverhaeltnissen, die Etablierung
abstrakter Geldsubjektivitaet ist allerdings keineswegs gleichbedeutend mit der
Herstellung idyllischer Zustaende. Die sukzessive Herausbildung des abstrakten Geld- und
Warensubjekts bricht sich unter gewaltsamen und opferreichen Friktionen Bahn, und an ihrem
Ende steht keine in sich abgerundete Existenz, sondern ins Unhaltbare gesteigerte
menschliche Selbstzerrissenheit. Das abstrakte, wertfoermig konstituierte Subjekt kann
sich nicht vollenden, ohne sich dabei in die Luft zu sprengen. Gleichgueltig gegen jeden
bestimmten Inhalt bringt die Herrschaft der Wertform eine unertraegliche Leere und
Beliebigkeit in die menschlichen Verhaeltnisse, die auf ihre Reproduktionsunfaehigkeit und
Aufloesung draengt. Ohne Zugriff auf den realen gesellschaftlichen Zusammenhang, den der
Wert als automatisches Subjekt den Menschen nur als aeusserlich fremde Zumutung
aufherrscht, bleibt die nach der Wertmelodie konstituierte Subjektivitaet prekaer und
ungastlich. An die Stelle der verdampften Gemuetlichkeit persoenlicher
Abhaengigkeitsverhaeltnisse rueckt ein gaehnender Abgrund, der das moderne buergerliche
Individuum in seinem labilen Gleichgewicht auf Schritt und Tritt bedroht. Das buergerliche
Denken reflektiert auf seine Weise diesen Umstand. In der Geistesgeschichte der Moderne
faellt die Frage nach dem Subjekt seit jeher mit der Bearbeitung der Krise des Subjekts
zusammen und heute hat sich dieser "philosophische Diskurs" banalisiert und bis
ins Massenbewusstsein verallgemeinert. Die grassierende Psycho- und Selbsterfahrungswelle
lebt von einer tiefreichenden und notwendigen Verunsicherung. Der Siegeszug der Wertform
saekularisiert und vermasst die Frage nach dem eigenen Selbst und holt sie vom Himmel
esoterisch-philosophischer Eroerterung auf die Erde. Das moderne monadisierte Subjekt
fuehlt sich als solches, indem es seiner selbst nicht sicher ist. Die Suche nach der
eigenen Subjektivitaet wird ein millionenfach erlittenes lebenspraktisches Problem. Die
erwachende Subjektivitaet kann sich selbst zunaechst nur als Sinnkrise und Krise des
Subjekts gewahr werden.
Vor diesem Hintergrund wird die romantisierende Form des Apriorismus verstaendlich. Weil
abstrakte Individualitaet nur als schreiender Widerspruch erfahren werden kann,
ideologisches Bewusstsein aber immer nach Befriedung streben muss, spaltet das
buergerliche Denken das nicht mehr hintergehbare Ideal der Subjektivitaet als
Naturkonstante vom realen Leiden an der abstrakten geldfoermigen Durchsetzungsform ab. Das
Ergebnis ist paradox. Die Regression in den Mutterschoss vorindividueller Verhaeltnisse
paart sich mit der Beschwoerung des Subjekts. Auf der Flucht vor diesem schmerzhaft
unertraeglichen Zustand rettet sich das moderne, an sich selbst leidende ideologische
Bewusstsein ins Reich der Projektion und macht das Arkadien der freien Subjektivitaet
ausgerechnet in Bedingungen aus, die jeden Anflug individueller Regung verunmoeglichen.
Kritizistisch-maekelnd malen sich die scheinkritischen Zeitgeiststroemungen in der
Vorvergangenheit eine eigentliche urspruengliche Subjektivitaet aus, um dann nach
Herzenslust und folgenlos ueber die nachtraegliche Entfremdung jammern zu koennen. In
dieser Verarbeitungsform verliert die Sehnsucht nach unbedingter Subjektivitaet ihre
Sprengkraft. Sie verwandelt sich in einen rueckwaertsgewandten Irrglauben und regrediert
zum zivilisationsmueden Mythos vom edlen Wilden. In der gegenwaertigen linken Debatte
treibt diese Figur besondere Blueten. Sie bewegt sich ueber weite Strecken in dieser durch
und durch reaktionaeren Bahn. Das Habermassche "Lebenswelttheorem" weist hier
ganz aehnliche Zuege auf wie die in feministischen und autonomen Kreisen weit verbreitete
Vorstellung von "Subsistenzproduktion" 43
. In all diesen Faellen haust Subjektivitaet und Individualitaet ausschliesslich in den
wirklichen oder vermeintlich vorwertfoermigen Beziehungen 44
.
Der galoppierende Niveauverfall darf aber nicht darueber hinwegtaeuschen, dass diese
Sichtweise bereits in der von der Frankfurter Schule vertretenen Position praejudiziert
ist. Die kruden ideologischen Kuemmerformen, mit denen die linksoppositionellen Ideologen
operieren, popularisieren die Themamelodie, die, theoretisch reflektiert, Adorno und
Horkheimer intonieren. Die Kritische Theorie kann die ausweglosen Schrecken
kapitalistischer Herrschaft nur plastisch malen, weil sie fuer den historischen
Hintergrund irgendwo klammheimlich idyllische Toene mitverwendet. Die "Dialektik der
Aufklaerung", die den Sieg des rationalen Denkens an das Verhaengnis der
Barbarisierung koppelt, hat dieser Argumentation zufolge in der Vergangenheit
Konstellationen erzeugt, die der Entfaltung von Subjektivitaet und Individualitaet weit
guenstiger waren als die moderne Form der Vergesellschaftung. Allerdings schweifen
Horkheimer und Adorno auf der Suche nach einem handgreiflichen Gegenmodell zur modernen
buergerlichen Gesellschaft nicht wie die modernen Linksromantizisten zurueck in
praebuergerliche Vorvergangenheiten. Sie erwaehlen statt dessen die buergerliche Fruehform
fuer diese Funktion. Der Prozess der Aufklaerung ist in ihrer Interpretation nicht einfach
gleichzusetzen mit dem linearem Verfall menschlicher Selbstbestimmung, in seinem
zwieschlaechtigen Verlauf setzt er gleichzeitig die Bluete buergerlicher Kultur im
19.Jahrhundert als die eigentliche goldene Aera von Individualitaet und Subjektivitaet. Es
ist gerade der Kontrast mit der embryonalen Stufe der Wertvergesellschaftung, der die
Verallgemeinerung der abstrakten Wertbeziehung als Prozess fortschreitender Barbarisierung
enthuellt. Das verlorene Individuum der Kritischen Theorie ist nicht, und das macht ihre
Ueberlegenheit gegenueber ihren unbewussten und bewussten Adepten aus, der vorbuergerliche
in staendisch-organischer Bornierung vegetierende Mensch, sondern der klassische
Bildungsbuerger.
Auf dieser Grundlage scheint das Bild, das die Kritische Theorie von der Zerstoerung von
Individualitaet zeichnet, weit plausibler als die mythologisierenden Phantasien der
nachfolgenden Zivilisationsfluechtlinge. Stimmig und kohaerent ist aber auch diese
Variante der Beschwoerung eines besseren Gestern nur, wenn wir den klammheimlich
vollzogenen Ebenensprung uebersehen, der sich in den Arbeiten der Frankfurter Schule
regelmaessig wiederholt und konstitutiv fuer deren Kritik an der modernen buergerlichen
Gesellschaft ist. Die Verfallslinie, die Adorno und andere beim Uebergang zur Massenkultur
mit ihren genormten und sterilen Produkten ausmachen, laesst sich nur dann ziehen, wenn
wir die buergerliche Geistesentwicklung statt vom gesellschaftlichen Durchschnittsniveau
von ihren Vorzeigeexemplaren her betrachten. Die klassischen Geistesgroessen sterben im
Laufe der Entfaltung der Wertbeziehung in der Tat aus. Nach Kant und Hegel verflacht das
buergerliche Denken, verliert zusehends an Tiefe und Selbstreflexionsfaehigkeit und
erreicht im Positivismus und in der modernen Systemtheorie allmaehlich seinen Nullpunkt.
Mit dem theoretischen Gehalt des buergerlichen Geistesbetriebes versinkt auch jene kleine,
eng umgrenzte bildungsbeflissene Buergerschicht unwiederbringlich im Meer
"sekundaeren Analphabetentums", die den sozialen Untergrund einstiger Bluete
bildete. Dieser Trend darf allerdings nicht einfach mit der Entwicklung des
Massenbewusstseins identisch gesetzt werden, wie das die Frankfurter Schule unter der Hand
tut 45
. Das vielgepriesene klassische Bildungsbuergertum bildete nur eine ganz duenne
Firnisschicht auf einem Meer von Unwissen und Bornierung. Sie war keineswegs fuer das
gesellschaftliche Reflexionsniveau bestimmend. Fuer das Gros der Population beinhaltet die
Metamorphose zum "sekundaeren Analphabeten" ganz im Gegensatz zur Lesart der
Kritischen Theorie einen gewaltigen Sprung nach vorn, weil sie nicht nur metaphorisch,
sondern faktisch das primaere Analphabetentum zur Ausgangsbasis hat! Wenn wir die in ihrer
unmittelbaren Existenz bornierten, unwissenden Volksmassen, die noch zu Beginn des
Jahrhunderts die breite Grundlage des gesellschaftlichen Getriebes bildeten, zum Vergleich
heranziehen, dann stellen Massenkonsum und Massenkommunikation trotz aller Beschraenktheit
und Perversion sehr wohl einen radikalen Fortschritt dar. Wer sich vor Augen fuehrt, dass
die uebergrosse Mehrheit der Bevoelkerung nie in der Lage war, ueber den eigenen Kirchturm
hinauszuschauen und ihr Dasein in muffiger Bornierung verbrachte, der muss selbst noch dem
vielgeschmaehten Fernsehen eine den Horizont erweiternde Funktion zubilligen. Erst recht
gilt das fuer die Bildungsinstitutionen. Der Untergang des Humboldtschen Bildungsideals
ging mit der Vermassung von Qualifikationen und auch Kenntnissen ueber allgemeine
Zusammenhaenge einher, die in der bisherigen Geschichte keine Parallele hat. Die
Bundesdeutschen koennen sich heute nicht mehr als das "Volk der Dichter und
Denker" zelebrieren, dafuer bewegt sich aber der Anteil der "Gebildeten" an
der Gesamtbevoelkerung auch nicht mehr im Promillebereich. Wenn hierzulande mittlerweile
mehr als 50% einer Jahrgangsstufe im Laufe ihrer Schullaufbahn die Hochschulreife
erlangen, so bedeutet dies trotz der instrumentellen Zurichtung von Wissen gleichzeitig
die massenhafte Erzeugung geistiger Potenzen, ohne die eine kommunistische Gesellschaft
fuer immer Utopie bleiben muss.
Es ist keineswegs ausgemacht, dass das Kapitalverhaeltnis allzeit Abzugskanaele schaffen
kann, um die von ihm erzeugten menschlichen Kompetenzen systemkonform abzuleiten. Der
Tauschwert kann sich vom Gebrauchswert nicht emanzipieren und der tautologische
Selbstzweck der Verwertung des Werts nicht von den menschlichen Faehigkeiten, die er
massenhaft erzeugt und anwendet. Der grundlegende Widerspruch zwischen der Entwicklung
universeller Produktivkraefte unter der Aegide des Kapitals und den bornierten
buergerlichen Produktionsverhaeltnissen, der Gegensatz von stofflichem Inhalt und
Wertform, wiederholt sich zwangslaeufig an den Subjekten. Das Kapital schafft mit der
Verwissenschaftlichung und stofflichen Vergesellschaftung der Produktion gleichzeitig
seine Totengraeber, weil es die Produktivkraefte, deren es sich bedient, nicht in rein
sachlicher Form, sondern immer auch als menschliche Faehigkeit setzen muss. Aus den
Springquellen gesellschaftlichen Reichtums, die das Kapital oeffnet, stroemt nicht nur
eine Ueberfuelle an stofflichem Reichtum, sondern als dessen zugehoeriges Pendant auch ein
Mass von Kompetenzen und Beduerfnissen, die ueber die Wert- und Geldfoermigkeit des
gesellschaftlichen Zusammenhangs hinausschwappen. Die Inkongruenz zwischen modernen
Produktivkraeften und dem System abstrakter Reichtumsanhaeufung erscheint wieder als die
allmaehlich heranreifende Faehigkeit der Individuen, sich von den ihnen in dieser
Gesellschaft zugemuteten geldfoermigen Sozialkategorien und Rollen zu distanzieren.
Anmerkungen
1
Auf diese Matrix greift etwa Kurt Huebner in seiner Entgegnung auf Robert Kurz in der
"Konkret" vom April 90 zurueck. Mit schon bewundernswerter Ignoranz setzt er
dort kurzerhand fundamentale Wertkritik und Stalinismus in eins. Die einzig denkmoegliche
Variante der Aufhebung von Geld- und Warenform hat in dieser Interpretation Pol Pot
vorexerziert.
2
Diesem Muster bleibt auch die Zeitschrift "Kritik und Krise" treu. In ihrem
Sonderdruck zur Leipziger Buchmesse 1990 koennen wir zum Paradoxon der "Aktualitaet
des Kommunismus" lesen:"Die Notwendigkeit der Revolution befindet sich in
umgekehrt proportionalem Verhaeltnis zu ihrer Moeglichkeit."
3
Das gilt gleichermassen fuer die sozialpsychologisch orientierten Beitraege von Wolfgang
Pohrt wie fuer die Kulturkritik eines Christoph Tuercke.
4
Stefan Breuer, Krise der Revolutionstheorie, Frankfurt 1977, S.45
5
ebenda. S.49
6
Die gleiche These vertritt auch Helmut Koenig in seinem Buch "Geist und
Revolution". Auch er scheidet im Marxschen Werk fein saeuberlich zwischen
revolutionaeren Flausen und davon nicht beeintraechtigter handfester Analyse der
kapitalistischen Logik.
7
Ich habe diese Position zusammen mit Robert Kurz in dem Beitrag
"Klassenkampffetisch" in der "MK"7 dargestellt. Ich nehme den dort
entwickelten Faden in diesem Aufsatz wieder auf.
8
Breuer argumentiert allerdings reichlich kurzschluessig, wenn er aus diesem Sachverhalt
die Identitaet von Form und Inhalt schlechthin ableitet. Die zunehmende Vernetzung des
gesellschaftlichen Zusammenhangs unter dem Vorzeichen des Werts erschoepft sich eben nicht
nur in der Erzeugung gleichgeschalteter unmittelbarer Produktionsarbeit, sie setzt
gleichzeitig notwendig auch andere menschliche Potenzen, die sich nicht zwanglos und ein
fuer allemal der tautologischen Bewegung der Verwertung des Werts einfuegen. Die
Befriedung des unmittelbaren Produzenten durch Eingemeindung in den pax capitalistica ist
keineswegs das letzte Wort der Geschichte. Die fortschreitende stoffliche
Vergesellschaftung schiebt die Figur des unmittelbaren Produzenten, die lebendige
Grundlage des Kapitals zusehends in den Hintergrund und macht sie schliesslich obsolet.
Damit steuert das Kapital nicht nur zielsicher in seine Krise, es setzt parallel dazu
Fermente transbuergerlicher Subjektivitaet frei.
9
Stefan Breuer kann sie aus zwei Gruenden nicht ausmachen. Erstens haelt er ganz
selbstverstaendlich an der Vorstellung aprioristischer Subjektivitaet fest. Andererseits
spart er in seiner Rezeption der Kritik der politischen Oekonomie deren Gipfelpunkt - ihre
krisentheoretischen Implikationen - aus. In beidem bleibt er im Dunstkreis der Frankfurter
Schule stecken, der er ansonsten durchaus kritisch gegenuebersteht.
10
Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Oekonomie, Berlin/Ost, 1974, S. 595
11
Es muss einer nachfolgenden Arbeit ueberlassen bleiben, die These vom doppelten,
januskoepfigen Marx genauer zu entwickeln und auch philologisch zu belegen. Der geneigte
Leser muss sich hier zunaechst mit der nackten These begnuegen. Ihre solide Absicherung
wuerde aber den Rahmen dieses Thesenaufsatzes hoffnungslos sprengen.
12
Mehr noch als bei Marx springt dieses Abkippen in den Arbeiten seines Kompagnons ins Auge.
Das liegt aber sicher nicht daran, dass sich die Positionen von Engels und Marx
grundlegend unterschieden haetten, sondern resultiert wohl in allererster Linie aus der
Arbeitsteilung der beiden Klassiker. Gerade weil Engels viel mehr als Marx den Part der
Vermittlung und Popularisierung uebernommen hatte, geraet er zwangslaeufig in den Sog der
schnoeden empirischen Wirklichkeit, die sich partout noch nicht auf der Hoehe des
Marxschen Begriffs befindet. Marx selber bleibt bei der rein analytisch begrifflichen
Bestimmung diese Zumutung in weit hoeherem Masse erspart. Es ist zwar in gewissen Kreisen
populaer, aber wenig glaubhaft, dem reinen alles durchschauenden Marx ein doof-trotteliges
Faktotum namens Engels an die Seite zu stellen, das fuer alle Boecke ausschliesslich
verantwortlich zu machen waere. Seine wichtigsten und wohl auch fragwuerdigsten Schriften
verfasste Engels grossteils noch zu Lebzeiten von Marx unter dessen Aufsicht (etwa den
"Antiduehring") und wir koennen kaum annehmen, dass diese Schriften in dieser
Form veroeffentlicht worden waeren, wenn Marx Entscheidendes einzuwenden gehabt haette.
Aber das sei hier nur am Rande bemerkt.
13
Dieses theoretische Deutungsmuster wird bei Marx und Engels von einem fast schon mystisch
zu nennenden Vertrauen in die fiktiven revolutionaeren Instinkte insbesondere der
deutschen Arbeiter flankiert. Konfrontiert mit der realen Borniertheit der protegierten
sozialdemokratischen Bewegung kritisieren Marx und Engels in ihrem Briefwechsel ueber
Jahre hinweg konsequent bis aetzend die theoretischen "Eseleien" der deutschen
Sozialdemokraten. Trotzdem bleiben sie dieser Partei in der Erwartung treu, dass die
Arbeitermassen sich nicht von den Dummheiten ihrer Fuehrer affizieren lassen wuerden.
Realiter entsprachen der Bewusstseinsstand von Fuehrern und Gefuehrten einander recht
genau. Wer sich das Studium der Marx-Engels Briefe sparen will, dem vermittelt bereits die
klassische Engelsbiographie von Gustav Mayer zumindest einen Ueberblick ueber das
ausgesprochen gespannte Verhaeltnis der "Londoner Alten" zur gehaetschelten
Sozialdemokratie.
14
MEW 26.2, S. 510
15
16
Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Oekonomie, Berlin(Ost), 1974 S.66
17
Ebenda, S. 112
18
In meiner Kritik an Henryk Grossmanns Zusammenbruchstheorie in der "Marxistischen
Kritik" Nr. 5, habe ich die fuer den klassischen Marxismus konstitutive Umwandlung
der Marxschen Wertkritik zu einer Variante der Ricardianischen Werttheorie exemplarisch
dargestellt.
19
In den vom Standpunkt der fundamentalen Wertkritik in dieser Zeitschrift bereits
veroeffentlichten grundlegenden krisentheoretischen Beitraegen wird diese enge
Verknuepfung spuerbar. Die gleichen Entwicklungen, die die buergerliche Gesellschaft in
die strukturelle Krise fuehren, sind gleichzeitig die Voraussetzung fuer die
revolutionaere Aufhebung dieser Formation und die Grundlage einer nicht wertfoermigen
gesellschaftlichen Reproduktionsform. Wenn der allein tauschwertschaffende unmittelbare
Produzent sukzessive zuruecktritt, verliert damit nicht nur das System der Verwertung des
Werts seine lebendige Grundlage, parallel dazu bildet sich ein stofflich schon eng
vernetztes gesamtgesellschaftliches Aggregat heraus, das allein die Basis einer
kommunistischen Gesellschaft sein kann. Die Ausdehnung der wertmaessig unproduktiven
gesellschaftlichen Rahmensektoren (Infrastruktur, Ausbildungsbereich etc.) wird als faux
frais kapitalistischer Produktion zur erdrueckenden Last, in ihr erscheint aber auch eine
Stufe von stofflicher Vergesellschaftung, die die direkte Organisation des
gesellschaftlichen Zusammenhangs notwendig und erstmals in der Geschichte moeglich macht.
Die strukturelle ueberzyklische Arbeitslosigkeit der letzten Jahre charakterisiert mit den
Eintritt des Kapitals in seine Krisenepoche. Sie setzt aber gleichzeitig in verquerer
unmenschlicher Form die "disponible time", die nach Marx den wahren Reichtum
jeder Gesellschaft ausmacht. Was hier unter kapitalistischen Bedingungen zur Bedrohung
wird und negativ als Nichtzustand der "Arbeitslosigkeit" definiert ist, wird in
der kommunistischen Bewegung mit einem positiven Inhalt gefuellt ("produktiver
Muessiggang") und avanciert zum Zukunftsversprechen. Die Krise setzt in negativer
Form, unter katastrophischen Vorzeichen, Momente frei, die die kommunistische Revolution
zusammenbringen und positiv wenden muss, um den Aufbau einer neue Reproduktionsform zu
organisieren.
20
Henryk Grossmann versteht sich als Fachoekonom und ueberlaesst diese theoretische Aufgabe
bewusst lieber anderen. Rosa Luxemburg hat dagegen einen universaleren Anspruch. Ihre
theoretischen Anstrengungen verteilen sich auf beide Gebiete. Allerdings aendert das
nichts am Grundproblem, sondern laesst es nur noch krasser in einer Person hervortreten.
Kein inneres Band knuepft "Die Akkumulation des Kapitals" an die politischen
Schriften der Rosa Luxemburg. Beide Teile ihres Werks stehen einander aeusserlich
gegenueber. Darin zeigt sich die Groesse und die Beschraenktheit ihrer Position. Sie
wandelt zwischen den theoretischen Welten, in die das Universum der marxistischen Theorie
auseinanderbricht und sie kann in ihnen allen wertvolle Beitraege liefern. Sie schafft es
aber nicht, dieses Auseinanderdriften zu thematisieren und umzukehren.
21
Charakteristisch und daher in unserem Zusammenhang auch bemerkenswert ist die Position von
Rudolf Hilferding. Hilferding widerspricht explizit und energisch der Vorstellung einer
dem Kapital immanenten Schranke und nimmt dafuer auch noch die Autoritaet von Marx in
Anspruch. In seinem beruehmt-beruechtigen Referat "Die Aufgaben der Sozialdemokratie
in der Republik", gehalten 1927 auf dem sozialdemokratischen Parteitrag in Kiel,
findet sich folgende phaenotypische Passage: "Ich habe immer zu denen gehoert, die
jede oekonomische Zusammenbruchstheorie ablehnten, weil gerade Karl Marx den Nachweis
erbracht hat, dass eine solche oekonomische Zusammenbruchstheorie falsch ist...Wir sind
von jeher der Meinung gewesen, dass der Sturz des kapitalistischen Systems nicht irgendwie
fatalistisch zu erwarten ist, nicht aus inneren Gesetzen des Systems eintreten wird,
sondern dass der Sturz des kapitalistischen Systems die bewusste Tat der Arbeiterklasse
sein muss." Zitiert nach dem Protokoll der Verhandlungen des sozialdemokratischen
Parteitages 1927 in Kiel, Berlin 1929, S.165.
22
MEW 25, S. 260.
23
Die unausweichliche Seligsprechung der unmittelbaren Produzenten hat natuerlich auch den
Blickwinkel bestimmt, unter dem der Marxismus den Produktionsprozess als solchen
wahrgenommen hat. Es ist in diesem Zusammenhang keineswegs ein Zufall, dass der
traditionelle Marxismus permanent dem Drang erlegen ist, das Kapital als blosses
Zirkulationsphaenomen zu betrachten, und, ohne einen Gedanken auf das Problem der
abstrakten Arbeit zu verschwenden, den Produktionsprozess als an sich zweckrationalen, nur
technischen Notwendigkeiten folgenden Stoffwechsel mit der Natur im Grunde genommen von
allen Graesslichkeiten des Kapitalverhaeltnisses freizusprechen. Explizit finden wir eine
solche zirkulationsbeschraenkte Position etwa bei Rudolph Hilferding, aber auch am anderen
Ende marxistischer Theorie, in den Arbeiten von Alfred Sohn-Rethel. Ihre Kritiker haben
sich von dieser Zirkulationsbornierung nur verbal, unter Hinweis auf den Wortlaut der
Marxschen Schriften distanziert, selten in der Sache.
24
Vergleiche in diesem Zusammenhang den Artikel "Der Klassenkampffetisch" in der
"MK"7, insbesondere S. 29-33.
25
Das zugrundeliegende Muster ist bis heute erhalten geblieben. So erklaert sich auch die
pessimistische Wendung, die sich in der Linken in den letzten Jahrzehnten breit gemacht
hat. Solange der Gedanke der Revolution an die Existenz eines aprioristischen
revolutionaeren Subjekts geknuepft bleibt, jeder Fortschritt in der Wertvergesellschaftung
aber nach und nach alle Sozialkategorien als Emanationen der alles umgreifenden Wertform
enthuellt, muss die Aufhebung der buergerlichen Form mehr und mehr unmoeglich erscheinen.
Der Prozess der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital begruendet in dieser Logik
den Ewigkeitscharakter des Kapitals. Die Revolution war vielleicht einmal im 19.
Jahrhundert moeglich oder in der 3.Welt, sie ist es aber nicht mehr. Nicht nur die
Arbeiterklasse, auch die revolutionaeren Ersatzsubjekte (soziale Randgruppen, Frauen
etc.), haben die in sie gesetzten revolutionaeren Hoffnungen blamiert, und jede Neuauflage
des Apriorismus faellt von vorneherein von Mal zu Mal schaler und unglaubwuerdiger aus.
26
Dementsprechend war die Trennung zwischen eigentlicher revolutionaerer Mission und
schnoedem Alltagsgeschaeft, dem das Proletariat innerhalb des kapitalistischen Rahmens
ebenfalls noch nachzugehen hat, im Marxismus ein durchgaengiges Problem. Sie hat sich in
den unterschiedlichsten Verlaufsformen theoretisch und politisch reproduziert. Die
Unmoeglichkeit, vom reformistischen Kleinkrempel zur Entwicklung revolutionaerer
Strategien durchzustossen, die innere Blockade des Marxismus, zeigt sich besonders krass
im "revolutionaeren Attentismus" der 2. Internationale. Wir finden sie auf
anderer Ebene, aber genauso wieder, etwa in den theoretischen Verrenkungen von
Luk cs' "Geschichte und Klassenbewusstsein". Luk cs geht wie gewohnt
von einem an sich revolutionaeren Wesen des Proletariats aus, kann aber in der Empirie
kein rechtes Erscheinen dieses Wesens ausmachen. Im taeglichen Handeln ueberlagert die
kapitalistische Form dieses eigentliche Wesen, und Luk cs kann es nur dechiffrieren,
indem er auf die Methodenebene ausweicht und das Problem zu einem des Blickwinkels
verwaessert.
27
Das erklaert auch, warum so etwas wie eine revolutionaere Linke heute nicht mehr
existiert, und nur mehr voellig realitaetsblinde Exemplare verflossener Spezies an
tradierten Revolutionsmustern positiv ansetzen wollen. Gerade die Krisenerscheinungen
loeschen auch den letzten Schein eines aprioristischen revolutionaeren Subjekts aus und
ueberfuehren alle Sozialkategorien, gleichermassen Emanationen der Wertform zu sein.
Solange die Linke nach einem von der Herrschaft des Kapitals in seinen Grundfesten
unberuehrten Subjekt Ausschau halten muss, um sich die Aufhebung der buergerlichen
Gesellschaft vorstellen zu koennen, muss sie sie ob dieser schnoeden Realitaet zur
Denkunmoeglichkeit erklaeren und in Pessimismus verfallen.
28
MEW 23, S.790 f.
29
Karl Kautsky, Wille zur Macht
30
Das gleiche Problem, an dem die Glaubwuerdigkeit des revolutionaeren Marxismus zerbricht,
stellt sich allerdings auch, wenn die Arbeiterklasse als aprioristisches revolutionaeres
Subjekt durch andere, allesamt von der buergerlichen Form konstituierte Sozialkategorien
ersetzt wird. So etwas wie ein objektives Ende des Kapitalverhaeltnisses kann erst recht
nicht antizipiert werden, wenn Randgruppen, Frauen etc. fuer das versagende Proletariat in
die Bresche springen sollen. Das Kapitalverhaeltnis hat seine Tiefenwirkung und formt alle
Sozialcharaktere nach seinem Bilde. Die crux jeder traditionellen Revolutionsvorstellung
liegt bereits darin, dass sie ueberhaupt darauf angewiesen ist, so etwas wie ein
revolutionaeres Subjekt a prioiri anzunehmen. Die Herausbildung kommunistischer
Subjektivitaet bedeutet in Wirklichkeit gerade den Bruch mit allen vorgefundenen sozialen
Kategorien. Sie entspringt nicht der konsequenten Fortsetzung irgendeines von der Wertform
konstituierten Interesses, sie setzt gerade dort ein, wo deren Integrationskraft und
Faehigkeit zur Sinnstiftung ausbrennt.
31
In diese Rubrik faellt etwa die These Lenins von der Arbeiteraristokratie, die heute noch
in den Klagen der antiimperialistisch angehauchten Weltveraenderer und ihrer christlichen
Kollegen aus den 3. Welt-Gruppen widerhallt.
32
Diese bemerkenswerte Ignoranz kennzeichnet den Marxismus im uebrigen als eine ganz
vulgaere Wald- und Wiesenart des buergerlichen mainstreams in der Geistesgeschichte. Die
Aporien, in denen sich die Marxrezeption verfaengt, sind die gleichen, mit denen sich das
buergerliche Denken seit Kant abquaelt, ohne sie jedoch ueberwinden zu koennen.
33
Auf niedrigerem Niveau und bar jeden Problembewusstseins reproduziert sich hier das aus
der Kantschen "Kritik der reinen Vernunft" bekannte Verhaeltnis zwischen
erkennendem Subjekt und Erkenntnisgegenstand. Beide stehen einander wesensverschieden
gegenueber und nichts fuehrt aus dem aeusserlichen, die Substanz der Dinge aussparenden
Verhaeltnis heraus.
34
In den Hochzeiten der alten Arbeiterbewegungsseligkeit schien der ausdrueckliche Verweis
auf den Arbeiterstandpunkt und die revolutionaere Aktion der Arbeiterklasse als
ueberfluessig, weil selbstverstaendlich. Die fuehrenden theoretischen Koepfe der
Vorkriegssozialdemokratie konnten nur deshalb sich in den ehernen oekonomischen
Notwendigkeiten, die den Sieg des Sozialismus nach sich ziehen wuerden, ruecksichtslos
suhlen, weil sie dem Proletariat einen quasi ontologisch-revolutionaeren Charakter
anhefteten. Erst als diese Selbstverstaendlichkeit mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und
der Blamage der internationalen Arbeiterbewegung einen ersten tiefen Riss erlitt, musste
die im Marxismus immer schon enthaltene subjektivistische Unterstroemung sich explizit
bemerkbar machen. Was zum Problem geworden war, wurde ein zusaetzlicher Schwerpunkt
revolutionaerer Theorie. Fuer diesen Umbruch steht in erster Linie Lenin mit seiner
"revolutionaeren Organisationswissenschaft", aber auch der westliche Marxismus,
etwa Luk cs.
35
Diese Denkfigur reproduziert gleichzeitig auch die altehrwuerdige
Subjekt-Objekt-Dichotomie, die uns weiter oben bereits beschaeftigt hat. Die moderne
buergerliche Gesellschaft dementiert auf Schritt und Tritt platt empirisch die im
klassischen Marxismus proklamierte unbefleckte Unschuld der Subjekte. Die laengst
unausweichlich gewordene Desillusionierung hebelt aber das grundlegende Wahrnehmungsraster
nicht aus. Die dichotomische Zerteilung der Wirklichkeit in Subjekt und objektive Sphaere
erweist sich als ausgesprochen zaeher Brocken von bemerkenswerter Ueberlebensfaehigkeit,
und so handelt das marxistische Denken die praktische Blamage der
optimistisch-revolutionaeren Variante des Subjekt-Objekt-Dualismus eilfertig wiederum auf
dessen unhinterfragter Grundlage ab. Sobald der Marxismus dazu genoetigt ist anzuerkennen,
dass das Reich der handelnden Subjekte doch von dieser, vom Wert geformten Welt sei,
verstuemmelt er diese Erkenntnis und bricht ihr die inhaerente kritische Spitze. Er
uebersetzt das unabweisliche Erscheinen des Konstituierungszusammenhangs an seinen
Exekutoren in eine aeussere Zudringlichkeit. Der Glaube an das unbedingte Subjekt rettet
sich durch die Verdopplung von Subjektivitaet in vorausgesetzte eigentliche und eine
uneigentliche-unterworfene. Die Subjekt-Objekt-Schablone bleibt auf diese Weise auch dort
erhalten, wo das gewaltsame Eindringen des Verdinglichungszusammenhanges thematisiert
wird. Die Vertreter der Frankfurter Schule interpretieren Entfremdung, Verdinglichung und
den Endsieg objektivierter Gewalt als die gnadenlose sukzessive Eroberung der
Subjektsphaere durch die Objektivitaet. Im Habermasschen Lebenswelttheorem fabriziert
diese Sichtweise ihr zeitgenoessisches Auslaufmodell. Aber auch schon die unverduennte
Kritische Theorie laesst das gescheiterte unbedingte Subjekt ,selbstbescheiden und
pessimistisch geworden, als vermeintlich "nicht reduzierbaren subjektiven Rest"
ueberleben. Der Endsieg der falschen Objektivitaet, die Zerstoerung des unverdinglichten
Rests ist nur ein Grenzfall innerhalb der Objekt-Subjekt-Matrix. Die im
Arbeiterbewegungsmarxismus unterstellte unbedingte Subjektivitaet reuessiert damit auch in
der Kritischen Theorie und bewahrt ihre Stellung als entscheidende Triebfeder jeder
transzendierenden gesellschaftlichen Bewegung. Sie figuriert als Gradmesser des
vorhandenen Emanzipationspotentials, nur leider zeigt die Uhr nahezu auf Null.
36
Fuer diese beiden Aspekte der Kritischen Theorie stehen in erster Linie auf der einen
Seite der aeltere Horkheimer und andererseits der aeltere Adorno. Vergleiche in diesem
Zusammenhang: Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, Muenchen 1986.
37
Zumindest Adorno und Horkheimer sind ohne falsche Ausfluechte diesen Weg bis zu seinem
Ende gegangen. Ihre gnadenlose Konsequenz macht ihre Ueberlegenheit gegenueber dem
populaereren, aber dafuer auch eher flachen Herbert Marcuse aus. Adornos Kritik an der
buergerlichen Gesellschaft schuerft tiefer, weil er nicht dem Zwang nachgibt, sie in eine
praktische Perspektive zu stellen. Er verzichtet darauf, ein revolutionaeres
Subjektsubstitut irgendwo hervorzuzaubern, wie das Herbert Marcuse mit seinem obskuren
Randgruppentheorem tut.
38
Auf dieser Grundlage hat die Kritische Theorie natuerlich Probleme, sich selber zu
erklaeren. Sie kann sich nur-mehr als Auslaufmodell begreifen, als letztes Aufflackern des
Geistes vor dem Untergang im Meer bewusstloser Barbarei.
39
Diese Sicht schlaegt auch unangenehm auf den Habitus durch, mit dem sich die
zeitgenoessischen Adepten der kritischen Theorie mit Vorliebe der schnoeden Wirklichkeit
naehern. Der durchschnittliche, moderne Kritische Theoretiker geriert sich als
angeekelter, besserwisserischer Zuschauer, der vor jeder analytischen Anstrengung bereits
das Ergebnis seines Bemuehens im Grunde genommen sicher hat. Mit dieser sterilen Haltung
decken die Erben der Kritischen Theorie durchaus eine Facette des von ihnen so gern und
vehement kritisierten Zeitgeistes selber mit ab.
40
Stefan Breuer, Krise der Revolutionstheorie, S.15
41
Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklaerung, Frankfurt 1978, S. 36
42
Der Prozess der Subjektwerdung des Menschen hat verschiedene Ebenen, die analytisch streng
auseinanderzuhalten sind. Bezogen auf die erste Natur faellt der Uebergang des Menschen
zum Status des Subjekts schlicht und einfach mit der sukzessiven Entkopplung seines
Daseins von der Instinktgrundlage zusammen. Im selben Masse wie sich die menschliche
Gattung nach und nach aus dem uebrigen Tierreich heraushebt, verwandeln sich die
Einzelexemplare der Spezies dem blinden Naturprozess gegenueber zu Subjekten. Unter diesem
Gesichtspunkt sind Menschsein und Subjektsein synonyme Ausdruecke. Es fuehrt aber
vollkommen in die Irre, wenn wir diesen grundlegenden und tiefstliegenden Aspekt der
Genesis von Subjektivitaet kurzschluessig auf das Dasein der Einzelnen als soziale
Subjekte uebertragen. Bezogen auf ihren gesellschaftlichen Zusammenhang sind die Menschen
bis heute nicht zum Subjektstatus durchgestossen. Ihr gesellschaftlich soziales Dasein ist
ihren subjektiven Regungen vorausgesetzt. Er existiert als Fetischzusammenhang und ist
ihrem subjektiven Zugriff und ihrer Reflexionsfaehigkeit systematisch entzogen. Das gilt
gleichermassen fuer alle bisherigen sozialen Formationen, vom archaischen auf
Blutsverwandtschaft beruhenden System, bis zum modernen Geld- und Warenfetisch. Die
menschliche Vorgeschichte umfasst eine Vielzahl aufeinander folgender fetischistischer
Synthesesysteme, sie kennt aber keine konkrete Subjektivitaet. Mit der modernen
buergerlichen Gesellschaft findet die im Fetischismus gefangene menschliche Vorgeschichte
ihren Hoehepunkt und Abschluss. Die Krise abstrakter, vom Wert nach seinem Bilde
gestanzter, Ware- Geldsubjektivitaet fuehrt an die Schwelle konkreter Subjektivitaet. Der
erste Akt in dem sie sich manifestiert kann nur die Befreiung vom Fetischismus, die
kommunistische Revolution sein.
43
Unter diese Rubrik fallen unter anderen die Erguesse mit denen sich die Zeitschrift
"Autonomie" in ihrer Nummer 14 verabschiedet hat (vgl. dazu Nuno Tomatzky,
Militanter Empirismus und IWF-Kampagne, in der "MK" 6) und die Beitraege der
Bielefelder Feministinnen um Maria Mies und Claudia von Werlhof. "Frauen, die letzte
Kolonie".
44
Die Zeitschrift "Autonomie" etwa ordnet revolutionaere Subjektivitaet
ausschliesslich den praeproletarischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts zu. Diese
verschwindet mit der Verwandlung der unterstaendischen Massen zu Arbeitern. Sie ueberlebt
nur ausserhalb kapitalistischer Zudringlichkeit in einer synthetisch zurechtkonstruierten
"Subsistenzproduktion". Bei diesem Denkmuster handelt es sich keineswegs um eine
spezielle Marotte der Autonomie-Leute, sie ist weit verbreitet und charakterisiert unter
anderem auch die zeitweilig recht populaere Thompsonrezeption.
45
Dieser Unterschied ist besonders auch dort festzuhalten, wo sich Vertreter der Frankfurter
Schule mit den Psychostrukturen des modernen Individuums beschaeftigen. Wenn die
Kritischen Theoretiker auf diesem Gebiet einen kulturellen Abstieg ausmachen, nehmen sie
in stiller Regelmaessigkeit das Ideal eines autonomen, ichstarken Individuums als
Messlatte, wie es Sigmund Freud gepraegt hat. Sie bemerken dabei nicht, dass die
klassische Psychoanalyse die Verhaeltnisse einer kleinen buergerlichen Schicht
reflektiert, nie aber fuer die Masse der Bevoelkerung gegolten hat. Wenn etwa Marcuse in
"Der eindimensionale Mensch" die Umformung von Psychostrukturen mit dem
Schlagwort "repressive Entsublimierung" charakterisiert, dann trifft diese
Begriffsbildung die wirkliche Entwicklung schon deswegen nicht, weil eine diffizile
psychische Leistung wie Sublimierung immer das Privileg einer verschwindenden Minderheit
war. Da die dumpfe Masse der unmittelbaren Produzenten nie sublimiert hat, laesst sich mit
dem Schlagwort Entsublimierung natuerlich auch nicht die Grundtendenz beschreiben, nach
der sich die Massenpsyche historisch veraendert hat. Was nur als Raritaet vorhanden war,
kann auch nicht massenhaft zurueckgenommen werden.