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KOSOVO Antikriegsseite


Geschichtsrevisionismus und Krieg

von Karl Heinz Roth

"The World Turned Upside Down" - Die Welt stand Kopf: Mit dieser Metapher charakterisierte der Historiker Christopher Hill in den 1970er Jahren jenes emanzipatorische Aufbegehren, das in der englischen Revolution mit seinen radikalen Forderungen nach sozialer, wirtschaftlicher, politischer und religiös-kultureller Gleichheit zwischen den Menschen und Geschlechtern erstmalig zu seinem Ausdruck fand.[1] Diese Parolen haben die Geschichte der Neuzeit seither über Jahrhunderte in Atem gehalten.

Seit einigen Wochen steht diese Welt wieder einmal Kopf, aber im schreienden Gegensatz zu diesem ersten bedeutenden Revolutionsereignis der Neuzeit. Nicht Gleichheit wird eingefordert und keine Potentaten stürzen, sondern die Mächtigen von heute kehren gegenwärtig die dunkelsten Seiten der Weltgeschichte nach oben. Die Barbarei, die schon zweimal in diesem Jahrhundert Weltkriege mit ausgelöst hat, kehrt wieder - in Gestalt von "ethnischen Säuberungen" und grauenhaften Massakern, aber auch im fast rückstandslosen Wegbrennen von Flüchtlingstrecks und der Vernichtung der Insassen von Linienbussen und Schienenfahrzeugen im High Tech-Krieg. In solchen Konstellationen hat die kritische, der conditio humana verpflichtete, Geschichtsarbeit ihren Platz zu räumen. Nachgefragt werden statt ihrer historische Mythen, Begriffsumdeutungen und zynisch verfertigte Ikonen, die die Akteure der Gemetzel zu Menschenrechtsaposteln stilisieren und ihre Untaten als moralische Veranstaltungen im Dienst der Menschheit lobpreisen.

Der Geschichtsrevisionismus hat diesen Weg in die neue Barbarei entscheidend mitgebahnt. Seine Vordenker sind an ihrem insgeheim verfolgten Ziel angelangt und haben ihre Botschaft umzusetzen begonnen. Für sie ist der Krieg eine selbstverständliche Fortsetzung von Machtpolitik mit anderen, noch gewalttätiger zupackenden Mitteln. Bis sie so weit waren, mußten die Adepten des historischen Revisionismus in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten unterschiedliche Etappen durchlaufen. Mit diesen Entwicklungsphasen will ich mich im folgenden kritisch auseinandersetzen, und zwar in der Absicht, sie auf ihre Funktionen im Kontext der aktuellen Kriegspropaganda zurückzubeziehen und einen Beitrag zur Stärkung des Widerstands zu leisten. Denn erst in den vergangenen zwei Monaten hat sich das Bild gerundet. Seit der Geschichtsrevisionismus offen als Produzent und Lieferant von Kriegspropaganda daherkommt, überstürzen sich nicht nur die Selbstzeugnisse seiner Akteure, sondern gewinnt er auch in seinen Aussagen und Zielkonstruktionen an Schärfe und Klarheit. Wenn wir uns heute, in diesen Wochen des Kriegs, kritisch mit dem Geschichtsrevisionismus auseinandersetzen, dann geht es nicht mehr um einen wie politisch auch immer ausgetragenen Wissenschaftsstreit. Auf der Tagesordnung stehen Existenzfragen, die nicht wir aufwarfen, sondern die uns der zum Instrument der Psychologischen Kriegführung vollendete Geschichtsrevisionismus aufgezwungen hat.

1. Die mentale Eliminierung der sozialistischen Alternative

Am Anfang stand die mentale und institutionelle Beseitigung aller Ansätze zu einer sozialistischen und somit antiimperialistischen wie antinationalistischen Politik. Dabei können wir im Rückblick zwei Entwicklungsetappen unterscheiden.

In der ersten Phase ging es zunächst nur darum, den Realsozialismus zu delegitimieren. Dabei hatten die Geschichtsrevisionisten leichtes Spiel. Niemand bestreitet, daß die staatskapitalistischen Regimes Ost- und Südosteuropas sowie Ostasiens Ruinen der sozialistischen Utopie waren, die die großen geschichtlichen Alternativentwürfe zu einer befreiten und egalitären Gesellschaft unter sich begraben hatten. Aber weder unsere Trauer darüber noch unsere Kritik daran waren das Anliegen der Geschichtsrevisionisten, als sie sich daranmachten, die Elle der Totalitarismustheorie an den Realsozialismus anzulegen. Gleichwohl sind ihre Theoretiker dabei so vorgegangen, daß auch die durch den Realsozialismus zerstörten Alternativen einem allgemeinen Verdikt verfielen, weil sie ja mehr noch als dieser selbst als Ansätze zu einer eigentumslosen und herrschaftsfreien Gesellschaft Todfeinde der Gesellschaftsordnung der "freien Welt" darstellten.

Geschichtlich entstand die Totalitarismustheorie als antikommunistische Leitdoktrin des Kalten Kriegs. [2] Nach ihrem Desaster in der internationalen Sozialrevolte der 1960er Jahre wurde sie 1979/80 im Kontext des Raketen-Nachrüstungsbeschlusses der NATO neu aufgelegt. Ihre endgültige Wiedergeburt erlebte sie exakt zehn Jahre später im Angesicht des Untergangs des Realsozialismus. Bis Mitte der 1990er Jahre erhielt sie sogar parlamentarische Weihen durch eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags und wurde zum herrschenden Kanon vieler Denkfabriken in Deutschland und Europa.

In methodischer Hinsicht war und ist die Totalitarismusdoktrin ein langweiliges wie schlicht gestricktes politikwissenschaftliches Konstrukt, das lediglich zur Erzeugung kompromißloser Freund-Feind-Schemata taugt. Es handelt sich erstens um eine manichäische Schwarz-Weiß-Typologie aus Bild uns Gegen-Bild. Als Vorderseite fungiert der repräsentativ-demokratische Verfassungsstaat, und von hier aus wurde die "totalitäre Diktatur" mit ihren Schlüsselmerkmalen (Ein-Parteienherrschaft, Terror, fehlende Gewaltenteilung, Mißachtung der individuellen Menschnrechte usw.) entworfen. Dabei blieb zweitens der normative Bezugspunkt der Vorderseite unhinterfragt und unhinterfragbar. Es war und ist streng verboten, die Machtstrukturen des "freien Westens" ihrerseits kritisch zu hinterfragen oder mit denen des Realsozialismus zu vergleichen.

Das Modell ist drittens völlig statisch und unfähig, gesellschaftspolitische Veränderungen zu reflektieren. Die auf die politischen Herrschaftsstrukturen eingegrenzten Merkmalsbündel weisen keinerlei Querbeziehungen zu jenen Bezugssystemen auf (Wirtschaft, gesellschaftliche Verhältnisse, Kultur), die erst in ihrem Ensemble eine bestimmte Gesellschaftsformation begreifbar machen. Die heute so entscheidende Tatsache, daß der Realsozialismus aller Spielarten offensichtlich ungeheure Energien darauf verwenden mußte, um die durch ihn gebändigten Nationalismen am gegenseitigen Abschlachten zu hindern, hat in der Debatte der Totalitarismustheoretiker nie eine Rolle gespielt. Viertens kann die Totalitarismustheorie in ihren essentialistischen Aussagen niemals kritisch-empirisch überprüft werden, weil sie sich grundsätzlich oberhalb von Evidenz und Wirklichkeit befindet. Fünftens ist der Freiheitsbegriff der Totalitarismustheorie auf die "Wirtschaftsfreiheit" der "freien Märkte" beschränkt und transportiert Freiheitsrechte letztlich nur für Kapitaleigner und Vermögensbesitzer. Soziale Rechte und soziale Gleichheit sind dieser Doktrin grundsätzlich fremd.

Die Totalitarismustheoretiker verwechseln sechstens die Totalität des historischen Prozesses als dialektische Vermittlung von Allgemeinem, Besonderem und Individuum mit der unumschränkten Herrschaft des Partikulären, beispielsweise dem macchiavellistischen Pragmatismus der instrumentellen Vernunft. Realsozialistische Diktaturen sind aber genauso wie die als repräsentativ-pluralistisch gefaßten Diktaturen des Kapitalismus nur Herrschaftsformen eines Besonderen, die sich das Allgemeine und die Individuen unterwerfen. Die von der sozialistischen Utopie angestrebte Totalität einer befreiten und herrschaftslosen Gesellschaft kann allein aus diesem Grund durch die Konstruktionen der Totalitarismustheorie nicht tangiert werden.

Im Verlauf der 1990er Jahre hat diese makabre Wiedergeburt trotz ihrer Kanonisierung durch Parlamente und Denkfabriken wieder zunehmend an Attraktivität verloren. Der deregulierte Kapitalismus der restaurierten Einen Welt hat seinen sozialen Antagonismus wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Die Wiederkehr von Massenarmut, Massenerwerbslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen hat drastischer als alles andere gezeigt, daß der Kapitalismus mehr denn je nur ein Klassenverhältnis darstellt, das die entschiedene Negation seiner eigenen Grundlagen immer wieder neu erzeugt.

Deshalb mußte nachgesattelt werden. Das Totalitarismus-Verdikt wurde noch einmal selektiv geschärft. Das Experiment der russischen Revolution und des nachgefolgten sowjetischen Aufbaus wurde auf das Bestreben der leninistisch-stalinistischen Führungsgruppen reduziert, möglichst viele Menschen abzuschlachten und einen möglichst nachhaltigen Terror über die Überlebenden auszuüben. Massenmorde und Gulag sind in dieser Sichtweise zum einzigen und ausschließlichen Ziel geworden, das die Akteure und Erben des roten Oktober verfolgt hatten. Im Kontext dieses monströsen Reduktionismus wurde selbst die imperialistische Barbarei des ersten Weltkriegs als entscheidende Voraussetzung des Umsturzes von 1917 aus der Geschichte getilgt.

Das "Schwarzbuch des Kommunismus" kreierte den "Roten Holocaust".[3] Bei der Formulierung dieser Parole ging es gar nicht mehr um die nachträgliche Denunziation einer kläglich gescheiterten realsozialistischen Vergangenheit und der in ihr verborgenen stalinistischen Abgründe. Im Kontext dieser übersteigerten Variante der Totalitarismustheorie wurde vielmehr der Blick nach vorn gerichtet und die Botschaft verkündet, daß jeglicher Versuch zur sozialistischen Überwindung des Kapitalismus unweigerlich zum Massenmord führe und quasi naturnotwendig potentielle Massenmörder hervorbringe.

Daß diese ungeheuerliche Doktrin nach wie vor ernsthaft vertreten wird, zeigt die neueste Publikation über den "Roten Holocaust und die Deutschen", als deren Herausgeber der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, verantwortlich zeichnet.[4] Mit diesen Kanonisierungen zur Ausgrenzung aller überhaupt denkbaren sozialistischen Alternativen war der Weg zur "positiven" Gestaltung von Geschichtsdoktrinen und Geschichtsbewußtsein in der wiederhergestellten Einen Welt vorgezeichnet. Was dabei herauskam, war die arbeitsteilige Rekonstruktion imperialistisch-chauvinistischer und ethnisch-nationalistischer Legitimationsmuster. Dabei agierten nicht wenige der neuen Sinnstifter an beiden Fronten gleichzeitig. Georg Brunner beispielsweise, der umtriebige Direktor des Kölner Instituts für Ostrecht, schleuderte einerseits der "totalitären" Linken den normativen Verfassungspluralismus in seiner ganzen Unantastbarkeit entgegen, während er andererseits im Dienst der außenpolitischen Funktionseliten die elementaren Normen des Grundgesetzes zugunsten eines interventionistischen "Volksgruppenrechts" demontierte.  

2. Die Wiederherstellung des imperialistischen Großmachtchauvinismus - Der Weg zur "Berliner Republik"

Gegen die Re-Konstruktion der revisionistischen Leitbilder und Entwürfe regte sich zunächst erheblicher Protest, weil sie im Gleichschritt mit einer unverkennbaren Tendenz zur Legitimation der nazistischen Massenverbrechen daherkam. Es kam zum sogenannten Historikerstreit, der hinsichtlich der geschichtslegitimatorischen Meinungsführerschaft zunächst in einem Patt zwischen den - allerdings deutlich in die Defensive geratenen - "Verfassungspatrioten" und den Verfechtern eines neudeutschen Großmacht-Chauvinismus endete. Mit diesem Status quo war es 1989/90 wieder vorbei. Im Sog des DDR-Anschlusses und des darauffolgenden Untergangs der UdSSR liefen die meisten Historiker, die den "Rückruf" in eine restaurierte Großmachtgeschichte bislang abgelehnt hatten, stillschweigend oder offen zu den Propagandisten einer national-machtstaatlichen Kehrtwende über.

Seit Beginn der 1990er Jahre hat der legitimationswissenschaftlich verbreiterte Hauptflügel der neudeutschen Geschichtswissenschaft deshalb in rasendem Tempo und oftmals im gleichzeitigen Nebeneinander typische Entwicklungsstadien zur Restauration einer an den großdeutschen Mythen orientierten Machtstaatsgeschichte durchlaufen.[5] Zunächst wurde die Grundannahme ausgehebelt, daß Deutschland spätestens seit der Reichsgründung unter Bismarck einen autoritär-imperialistischen Sonderweg eingeschlagen habe.

Darauf folgte die Abrechnung mit den Forschungsergebnissen der um Fritz Fischer gruppierten Historikerschule, die zu Beginn der 1960er Jahre nachgewiesen hatte, daß die Hauptverantwortung für die Auslösung des ersten Weltkriegs bei den deutschen Eliten gelegen hatte. In einem dritten Schritt konnte sodann die Weimarer Republik als Produkt eines ungerechtfertigten Diktatfriedens, der Versailler Verträge, delegitimiert werden.

Damit war eine vierte Entsorgungsoperation eng verbunden: Der aberwitzige Versuch, die Präsidialkabinette der frühen dreißiger Jahre und die anschließende Machtübergabe an die Nazis mit der Notwendigkeit der Abwehr einer drohenden "bolschewistischen Revolution" zu rechtfertigen. Im Anschluß daran widmeten sich die Geschichtsrevisionisten einem besonderen Steckenpferd - der offenen Rehabilitation der NS-Diktatur. Der deutsche Faschismus wurde zum Paradestück des Geschichtsrevisionismus. Er wurde in Anlehnung an modernisierungstheoretische Konzepte in eine Art sozialer Revolution umgedeutet. Die NS-Bewegung habe die deutsche Gesellschaft endlich modernisiert, ihr eine ordentliche Aufstiegsmobilität verpaßt und sie an den Segnungen des technischen Fortschritts teilhaben lassen, hieß es in einer stattlichen Zahl von Einzelveröffentlichungen und Sammelpublikationen, die von den großen Medienkonzernen, allen voran der Axel Springer AG, massenhaft und medienwirksam vertrieben wurden. Wenn dem so war, dann konnten die auf die Niederlage der NS-Diktatur gefolgten Nachkriegsjahrzehnte nur noch in den schwärzesten Farben gemalt werden. Sie wurden als ein mehr als vierzigjähriges Interregnum mit provinziell-föderalistischem Demokratieverständnis, zahnloser Außenpolitik, geopolitisch inadäquater Westbindung und Büßermentalität den NS-Verbrechen gegenüber dargestellt. Es war höchste Zeit, so lautete die Botschaft, wieder "selbstbewußt" zu werden und zur "Normalität" imperialistischer Großmachtverhältnisse zurückzukehren.

Entsprechend wurde der Anschluß der DDR als Einlösung eines jahrzehntelang frustriert gebliebenen Kontinuitätsversprechens gefeiert: Der "Rückruf in die Geschichte" wurde als Rückkehr zu imperialistischer Machtstaatlichkeit geschichtsmächtig. Das "geeinte" Deutschland avancierte in den Visionen der Geschichtsrevisionisten zur Vormacht "Mitteleuropas", zur führenden Supermacht des alten Kontinents, deren Mission darin bestehe, die von zentrifugalen Tendenzen bedrohte Europäische Union eisern zusammenzuhalten.

Das war aber nur die eine Seite des Selbstverständnisses. Die andere basiert auf einer wiederaufgelegten Doktrin des Eingriffsrechts der mitteleuropäischen Vormacht in die Nachbarschaft der Europäischen Union. Nachdem die Linke mit der normativen Keule des repräsentativ-pluralistischen Verfassungsstaats zum Schweigen gebracht war, konnte unter Einbindung ihrer Renegaten darangegangen werden, eben diese normativen Grundlagen der BRD-Existenz zu zerstören und das im Grundgesetz verankerte Verbot des Angriffskriegs zu beseitigen. Die Art und Weise, in der die Geschichtsrevisionisten zu diesem Zweck die nationalen Minderheitenmrechte in ein von der deutschen Vormacht definiertes "Volksgruppenrecht" umdeuteten, ist bis jetzt kaum kritisch wahrgenommen worden.[6] Auf diesem sensiblen Terrain des neudeutsch-imperialistischen Großmachtchauvinismus fehlte denn auch die publizistisch-propagandistische Begleitmusik weitgehend. Voraussetzung für die Etablierung eines neudeutschen "Volksgruppenrechts" war das sogenannte Schengener Abkommen, durch dessen Ratifizierung ein neuartiges Grenzregime zwischen der Binnenregion der Europäischen Union und ihrer äußeren Umgebung konstituiert wurde. Das Schengener Abkommen ist im wesentlichen durch die deutsche Handschrift geprägt. Es blockiert und sortiert nicht nur Flüchtlingsströme, sondern definiert auch einen unter direkter BRD-EU-Kontrolle stehenden "Cordon sanitaire" des DM-Euro-Blocks. Um das Grenzregime zu stabilisieren, hat die BRD mit zunehmender Intensität in die Innenpolitik der an die Europäische Union assoziierten Regierungen der Grenzländer eingegriffen.[7]

Von hier aus folgte in den letzten Jahren der nächste Schritt. Für das an die EU-Assoziierten anschließende äußere Vorfeld der Schengener Grenze sind neue Interventionsszenarien in Kraft gesetzt worden, die im Fall von Nationalitätenkonflikten oder anderer Destabilisierungsphänomene gestaffelte Integrations-, Entwicklungs- und Kriseneingriffe auf der Basis des restaurierten "Volksgruppenrechts" vorsehen. Das "Volksgruppenrecht" ist eine aus der geheimen Neben-Außenpolitik der Weimarer Republik und der frühen NS-Diktatur übernommene und wieder aufgelegte Doktrin, die je nach Maßgabe der deutsch-europäischen Vorfeldinteressen das Recht auf nationale Selbstbestimmung zum Sezessionsrecht so umbiegt, daß die den deutsch-europäischen Herrschaftsinteressen jeweils genehmen ethnisch-nationalistischen Minderheitengruppen mißliebige multinationale Territorialstaaten des Schengener Vorfelds destabilisieren und zerstören können.

Die ersten Experimente auf diesem Gebiet sind schon Mitte der 1980er Jahre bei der Zerstörung der Jugoslawischen Föderation durchexerziert worden. Vor allem die Strukturkrise Jugoslawiens verleitete die Planereliten des Auswärtigen Amts und des Bundeskanzleramts zur Wiederbelebung der konzeptionellen Grundlagen einer ethnisch parzellierenden deutschen Neben-Außenpolitik. Während das Münchener Südost-Institut, das Institut für Ostrecht der Universität Köln und das Osteuropa-Institut der FU Berlin sowie andere Denkfabriken im BND-Umfeld den ethnisch-nationalistischen Erosionsprozeß der Jugoslawischen Föderation fortlaufend analysierten und dabei das Interventionsmodell des "Volksgruppenrechts" wiederentdeckten, ermutigte die Hanns-Seidel-Stiftung seit Mitte der80er Jahre die slowenische und kroatische Irredenta: Jeder Schritt weg von der Föderation wurde mit der Unterstützung ihrer Bemühungen um Erleichterungen der IMF-Auflagen gegenüber den nordjugoslawischen Teilrepubliken honoriert.[8] Dieses Konzept ging Ende der 1980er Jahre auf, als sich Serbien als größte Teilrepublik der Jugoslawischen Föderation seinerseits zu einer nationalistischen Flucht nach vorn entschloß. Es war ein mit politischer Praxis eng verzahnter stiller Geschichtsrevisionismus deutscher Denkfabriken, der den entscheidenden äußeren Anstoß zur Zerstörung Jugoslawiens gegeben hat.

Während sich die Agonie Jugoslawiens nach einer Abfolge immer grausamerer Teil-Bürgerkriege langsam in Gestalt der Kosovo-Krise auf ihren Höhepunkt zubewegte, wurde seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre dieses Experiment auf das gesamte ost- und südosteuropäische Vorfeld der Schengener Grenze ausgedehnt. 1995 wurde von der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung das "Europäisches Zentrum für Minderheitenfragen (EZM)" gegründet, das seither zusammen mit der Bertelsmann-Wissenschaftsstiftung als Vordenker einer neuen rosa-grünen Minderheitenpolitik im Vorfeld des Schengener Grenzregimes tätig ist.[9] In diesen Regionen seien die Bevölkerungen ethnisch nicht homogen, heißt es. "Friedensstiftende" Eingriffe in die dort immer wieder virulent werdenden ethnischen Spannungen und Nationalitätenkonflikte setzten genaue Kenntnisse über die jeweiligen ethnischen Zusammenhänge und Konfliktursachen voraus. Um entsprechende Interventionen seitens der "Internationalen Gemeinschaft" vorzubereiten, wurden seit 1996/97 Krisenszenarien erarbeitet, die inzwischen sogar die Nationalitätenkonflikte in der Kaukasus-Region einbeziehen. 1997 haben darüber hinaus im Fall Kosovo, das zum Krisenbrennpunkt erster Ordnung deklariert wurde, erste "Vermittlungsaktionen" zugunsten der groß-albanischen Sezessionsbewegung stattgefunden. Während der BND und Sondereinsatzkommandos des Bundesgrenzschutzes seit 1996 die UCK militärisch ausrüsteten und ausbildeten,[10] stellte das Europäische Zentrum für Minderheitenfragen in einem Positionspapier fest, daß der Sezessionswille der UCK zu unterstützen sei und der Anschluß des Kosovo an Albanien wegen der überwiegend albanischen Besiedlung dieser an Albanien angrenzenden Region ohne Schwierigkeiten bewerkstelligt werden könne.[11]

Durch die Aktivitäten des Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen haben SPD und Grüne somit rechtzeitig zum ethnisch-sezessionistischen Paradigma der Denkfabriken und Stiftungen im CSU-BND-Umfeld Anschluß gefunden. Das Ziel der rosa-grünen Regierung ist jetzt offensichtlich, ihre Vorläufer bei der Neuinszenierung einer völkisch-faschistischen Außenpolitik zu übertrumpfen. Jugoslawien soll endgültig in "ethnisch homogene" Komponenten zerstückelt werden, um dann den Wiederaufbau Südosteuropas unter dem Vorzeichen einer zudiktierten "Neuordnung" des Balkans vorantreiben zu können, wobei Kroatien an der Seite Sloweniens die Rolle eínes deutsch-europäischen Satellitenstaats erster Ordnung zugedacht ist.[12] Das Modell der "ethnischen Homogenisierung" wird inzwischen von den Geschichtsrevisionisten und wieder auferstandenen "Volkstumshistorikern" offensichtlich als Generalkonzept zur "Befriedung" von Nationalitätenkonflikten angesehen und von den solcherart "beratenen" Politikern der rosa-grünen Regierung als besonders überzeugende Variante der Einmischung favorisiert. Dabei stört es sie nicht einmal, daß diese Konzeption der ethnischen Zerstückelung zu territorialen Lösungsvorschlägen und Grenzziehungsmodellen führt, die exakt mit den Grenzziehungen seitens der faschistischen Achse von 1940/1941 übereinstimmen.

3. Geschichtsmythen zur Selbstzerstörung der Jugoslawischen Föderation

Die - insbesondere von den Deutschen betriebene - äußere Intervention spielte und spielt bei der Zerstörung des multinationalen, multikulturellen und selbstverwaltet-sozialistischen Jugoslawien eine bedeutende Rolle. Dennoch waren und sind die entscheidenden Krisenpunkte hausgemacht, wenn sie auch ihrerseits wiederum durch brutale Eingriffe des Internationalen Währungsfonds ausgelöst wurden.

Seit Anfang der 1980er Jahre geriet die Jugoslawische Föderation zusammen mit ihren Teilrepubliken in eine schwere Zahlungsbilanz- und Überschuldungskrise. Der Internationale Währungsfonds (IWF) intervenierte daraufhin prompt wie überall auf der Welt bei vergleichbaren Konstellationen. Es kam zu heftigen Massenkämpfen der jugoslawischen Bauern-Arbeiterinnen und -Arbeiter gegen die Schere von Massenerwerbslosigkeit und beschleunigtem Strukturwandel, die eine außergewöhnliche Intensität und Qualität erreichten. [13]Die Nomenklaturas und die Funktionseliten der Teilrepubliken fühlten sich zunehmend bedroht, zumal die Streikenden nicht nur die Betriebe, sondern auch die Gewerkschafts- und Parteihäuser besetzten. Sie waren weder in der Lage, die von der Föderationsregierung mitgetragenen Deregulierungsauflagen des IWF uneingeschränkt durchzuführen, noch wußten sie, was sie dem Massenwiderstand der Bauern-Arbeiter entgegensetzen sollten.

In dieser dramatischen Situation griffen die Führungsschichten der Teilrepubliken nacheinander zur Büchse der Pandora und öffneten ethnisch-sezessionistische Ventile. Ihr Ziel war zunächst, die Folgekosten der IWF-Sanierung auf die anderen Teilrepublilen abzuwälzen und der bedrohlich gewordenen Zange zwischen Massenkämpfen und IWF-Auflagen zu Lasten der noch ärmeren Teilrepubliken zu entkommen. Vor allem die reichen Teilrepubliken Nordjugoslawiens (Slowenien und Kroatien) begannen ihre Transferzahlungen an die ärmeren Teilrepubliken einzustellen. Diese Politik des "beggar my neighbour" wurde zunehmend ethnisch-rassistisch mit der "angeborenen" Unterlegenheit der in der Einkommenshierarchie und Produktivität niedriger rangierenden Teilrepubliken und Autonomen Provinzen begründet.

Jetzt schlug die Stunde der Geschichtsrevisionisten auch in den jugoslawischen Teilrepubliken. Ihnen wurde die Aufgabe zugewiesen, den ethnisch-nationalistischen Kurswechsel in massenwirksame Legitimationsmuster umzusetzen und das durch die Sozialkämpfe ins Wanken geratene Loyalitätsverhältnis zwischen den Eliten und den Bauern-Arbeitern auf "völkischer" Basis neu zu begründen. Besonders früh taten sie sich in Kroatien hevor. Ihr wichtigster Exponent war der spätere Präsident des sezessionistischen Kroatiens, Franjo Tudjman. Tudjman war ehemaliger Major der jugoslawischen Partisanenbewegung. In den 1950er und 1960er Jahren machte er Karriere als Historiker und leitete das Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung in Zagreb. In dieser Zeit profilierte er sich mit Studien über den NS-Völkermord in Südosteuropa. Anfang der 1980er Jahre bekehrte er sich zum ethnischen Sezessionisten.[14] Als ein von anderen kroatischen Nationalisten gestarteter Testballon, die nicht-slawischen Illyrer des Altertums zu den Urahnen der "Kroatischen Nation" zu stilisieren, zerplatzte, scheute sich Tudjman nicht, auf die klerikalfaschistischen und antisemitischen Traditionsbestände des von den Nazis gegründeten und ausgehaltenen Kroatischen Ustascha-Staats zurückzugreifen, um unter verschwiegener bundesdeutscher Protektion die Herauslösung Kroatiens aus der Jugoslawischen Föderation zu rechtfertigen.[15]

Auch die pro-albanische Irredenta des Kosovo versuchte zunächst, ihre Option zum Anschluß an Albanien mit einer gemeinsamen illyrischen - das heißt nichtslawischen - Sprache und Geschichte sowie der angeblich überwiegend albanischen Besiedlung des Kosovo seit dem Mittelalter zu rechtfertigen.[16] Dieser kulturgeschichtlich begründete und allen historischen Tatsachen widersprechende Separatismus verlangte aber seit dem antijugoslawischen und antiserbischen Aufstand von 1981 nach einer härteren Gangart. Auch hier wurden die Politiker-Clans sofort großzügig mit den entsprechenden Geschichtsmythen bedient. Die bis dahin abgeleugnete Tatsache, daß die 1943 gegründete "Zweite Liga von Prizren" genauso wie die 1944 aufgestellte Albanische SS-Freiwilligen-Division (SS-Division Skanderbeg) die "ethnische Säuberung" des Kosovo von den Serben betrieben hatte, wurde jetzt als vorbildlich gerühmt. Auf dieser Grundlage schlossen siich dann 1995/96 pro-albanische Ex-Stalinisten und Neofaschisten zusammen und proklamierten die UCK als bewaffnete Irredenta, deren Aufgabe es sein sollte, das Kosovo zum Piemont einer "groß-albanischen Erneuerung" zu machen.[17]

Aber auch die Führungsschichten Serbiens, der größten Teilrepublik, haben den Geschichtsrevisionismus ausgiebig als historische Legitimationswissenschaft für eine verhängnisvolle Wiedergeburt des großserbischen Nationalismus bemüht. 1986 verfaßte die Serbische Akademie der Wissenschaften eine historische Denkschrift, in der sie den großserbischen Führungsanspruch erneuerte, so wie er schon in den zwanziger und dreißiger Jahren das multinationale Jugoslawien als Produkt der Pariser Vorortverträge ruiniert hatte. Dabei wurde ausgerechnet dem Kosovo eine besondere Rolle zugewiesen. Wider alle geschichtliche Evidenz wurde behauptet, das Kosovo sei das "Jerusalem" Serbiens, weil auf dem im Kosovo gelegenen Amselfeld das erste Jugoslawische Kaiserreich von den Türken in der Schlacht von 1389 vernichtet worden sei und das Kosovo seither immer wieder als Ausgangspunkt zur Erneuerung serbischer Staatlichkeit fungiert habe. Nichts davon hält der historischen Evidenz stand: Das erste Serbische Reich hatte sich schon Jahrzehnte zuvor in Fürstentümer aufgelöst, und auf dem Amselfeld hatten Serben (genauso wie Albaner und andere Nationalitäten) auf beiden Seiten gekämpft. Der Rekurs auf die Schlacht auf dem Amselfeld als der Begründerin der großserbischen "Staatsidee" ist ein Mythos.

Trotzdem sollte auch diese historische Mystifikation auf makabre Weise geschichtsmächtig werden. Sie legitimierte 1989 die Aufhebung des Autonomie-Statuts für Kosovo und die Einführung eines brutalen Apartheid-Regimes, das einen an sozioökonomischen Entwicklungsgefällen festgemachten Sozialkonflikt ethnisierte und damit die Voraussetzungen für die Auslösung eines blutigen "Volkstumskampfs" lieferte.    

Quellenangabe: Horst Leps (mailto:horst@leps.de) Elersweg 17; 22395 Hamburg ; Tel: 040/60450776 http://www.leps.de ListOwner: GMK in Hamburg, RU in Hamburg, RU und Orthodoxie, Frieden und Friedensbewegung . To unsubscribe, write to frieden-unsubscribe@listbot.com Start Your Own FREE Email List at http://www.listbot.com/

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