Thomas Ebermann / Rainer Trampert
Absurdes Theater?
GRÜNER PARTEITAG
Der Bedarf an Moral war riesig
Ein junger Delegierter, der selber nicht mehr die Zeit findet
zum Demonstrieren, weil die Expertise über die fiktiven Einnahmen aus der
Ökosteuer-Reform für die Senkung der Lohnnebenkosten sie ihm genommen hat, stürzt sich
wutentbrannt auf jedes Plakat. Er zerrt am »Soldaten sind Mörder« und reißt am »Auch
Minister sind Mörder.« Seine Beute, ein herausgerissener Fetzen, löst in ihm einen
hysterischen Lachzwang aus. Ströbele kommt, umzingelt von Fernsehteams, Fotoreportern und
schreibenden Journalisten. Während der Interviews, die er im Gehen erledigt, blickt er
immer wieder nervös auf die Kriegsgegner. Wie komm' ich da durch? Aus heiterem Himmel
schlagen Uniformierte eine Schneise und bilden eine nach beiden Seiten gesicherte Gasse.
Ströbele ist durch. Als die Kollegin aus dem Kreisverband (KV) ihm zuraunt, daß sie sich
wohl auch an die Polizei wenden müßten, schreit ein Delegierter, er werde keinen
Staatsschutz in Anspruch nehmen. Dann rennt er kopflos in die Menschenkette, die ihn
abprallen läßt. Andere Delegierte schleichen verschämt hin und her. Hätte nicht
wenigtens der Kriegsbeginn noch in die Ära Kohl fallen können. ...
Die Delegierten sind sich viel näher, als sie glauben. Man
bescheinigt sich gegenseitig, daß die »humanitäre Katastrophe« prinzipiell mit oder
ohne Bomben zu beseitigen ist, eine Aussage von historischer Tragweite. Man spricht nicht
über Deutschlands Weg in den Krieg, nicht über den Angriffskrieg zur Neuordnung der
Welt, nicht über die europäischen Planungen, künftige Kriege auch ohne atlantisches
Bündnis führen zu wollen. Ebenso tabuisiert ist jeder Gedanke daran, daß der Krieg so,
wie er geführt wird, vielleicht sein soll, um der übrigen Welt die Abstrafung
dysfunktionaler Staaten, Regimes oder Banden vorzuführen, und daß deshalb die
geächteten Splitterbomben nicht zufällig an Fallschirmen auf die Erde schweben.
Wer den Krieg beenden will, begrüßt seine Fortsetzung. Wer
ihn fortsetzen will, begrüßt sein Ende, denn Krieg ist Frieden und Frieden ist Krieg,
etwa so wie der Bundesvorstand einen »politischen Pazifismus« beantragt, »der sich zum
Ziel setzt, die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen durch die
Herausarbeitung eines wirksamen Gewaltmonopols« zu verwirklichen. Dann tritt
Außenminister Fischer, den der flügelübergreifende Dank mißtrauisch gemacht hat, ans
Rednerpult. »Tacheles« wolle er jetzt reden. Schon vor dem Parteitag hatte er seine
Grünen nicht im Unklaren gelassen. Mit ihm werde es keine grüne, sondern nur eine
deutsche Außenpolitik geben. Heute belehrt er sie wieder über ihre Ohnmacht. ...
Nach ihm kommt eine Flut von Gefühligkeiten, bei denen
unsereiner schwankt, ob sie nur Kalkül oder auch Ausdruck einer kolossalen Verblödung
sind. Die Formel lautet: Je klarer jemand für Frieden ist, desto unklarer ist ihm, was er
vom Krieg halten soll.
Es kann auch vorkommen, daß ein Delegierter »spontan
loswerden« möchte, daß ihn »die Gewaltbereitschaft derer, die für sich Gewaltfreiheit
in Anspruch nehmen,« bestürzt, jedenfalls mehr als 1.000 Bomben am Tag auf Brücken,
Busse, Öltanks, Sofia und als Splitter auf Dorfplätzen. Eine Frau plaudert über das
Thema: »Was ist richtig, was ist falsch?« Was sie aber »tierisch stört sind Leute, die
meinen, eine Antwort zu haben« und wenn Heinzi in unserer WG nicht abwäscht.
Laut »Lexikon der wissenschaftlichen Grundsätze« (Rowohlt)
zählt zu den wiederkehrenden Erfahrungen eines Krieges die Tendenz, »ihn mit Ideologien
und menschheitsbeglückenden Phrasen zu verbrämen.« Diese Aufgabe haben die Grünen
wahrzunehmen. Der deutsche Nato-General Walter Jertz faßte die Dialektik von Bedeutung
und Bedeutungslosigkeit so zusammen: Es werde keine Feuerpause geben, »die Debatten der
Grünen sind aber wichtig für die Gesellschaft.« Würde man das bestreiten, hätte man
falsche Vorstellungen von Kriegspropaganda in Zeiten der postmodernen Vielfalt. Die
friedenfühlende, alternative Klientel braucht an Stelle des Vaterlandes Ambivalenz.
Angelika Beer ist für den Krieg und betont: »Keiner von uns will diesen Krieg«. Darin
pflichten ihr alle bei. Nur Daniel Cohn-Bendit stört, weil sein demagogisches Repertoire
auf den Hund gekommen ist: Es mag ja sein, daß wir uns totaaal irren, es mag ja sein,
daß ich mich irre, aber mich hat schon totaaaal berührt, wie Leute pfeifen, wenn der
Joschka über Vergewaltigung spricht. Ja, Freunde, die Wahrheit ist bitter, diiiie
Wahrheit ist bitter. Ich schääme mich, ja ich schääääme mich, daß serbische
Deserteure kein Asyl bekommen. Wir sollten sie aufnehmen. Es ist unsere Pflicht, Unrechtes
zu tun, wenn wir den Gegner dadurch schwächen können. Wenn man Krieg führt, dann muß
man fähig sein, den Gegner auch zu schwächen. Ja, so bitter, so bitter. Das sind die
Lehren aus der Stalin-Zeit, aus der Hitler-Zeit. Wer die Bomben beenden will, muß den
Joschka unterstützen. Wer die Nato will, wer Milosÿevic´ will, der muß Ströbele und
Cremer zustimmen, ja so bitter, seeehr bitter.
Der intellektuelle Verfall hat selbst die Demagogie nicht
verschont. Eine weitere Befindlichkeit einigt die Versammlung: Die Identifikation mit der
Weltmacht Deutschland. Deutschland und Europa sind unisono zuständig dafür, die Welt zu
beglücken, weil sie's besser können als die Amerikaner. Bei vielen an der Basis
enthüllt sie sich in der Omnipotenzphantasie, mit der selbst jene Tröpfe, die in der
Kommune allenfalls drei Mülltonnen aufstellen dürfen, Ordnung in der Welt schaffen. Der
KV München-Mitte beglückt alle »europäischen Staaten sowie die Anrainerstaaten
(Magreb, Naher Osten)« mit »demokratischen Strukturen.« Sonst drohen ihnen »etwaige
unvermeidbare militärische Zwangsaktionen« der »stand by forces.« Die Antragsteller um
Özdemir wollen sich »der Debatte um eine neue Weltordnung offen stellen und Realitäten
ins Auge schauen,« statt sich auf »Gedankengebäude aus einer anderen Zeit
zurückzuziehen.« Ludger Volmer droht an, was den Deutschen nach dem 2. Weltkrieg erspart
blieb: »Das serbische Volk muß entscheiden, ob es mit Milosÿevic´ untergehen will«,
oder ob es unser »Angebot annimmt.« Der kollektive Tod muß es nicht sein.
Die Sprecherin der Arbeitsgruppe »Frieden« will die falsche
Solidarisierung von Rußland und Serbien auflösen. Ein Delegierter weckt mit dem
unbescheidenen Hinweis: »Wir haben Rußland wieder an den Tisch geholt« Lust auf mehr,
dämpft aber sogleich die Erwartung. Die Sache mit China gestaltet sich etwas schwieriger.
Ein älteres Mädchen ruft den Delegierten naseweis' zu: »Handelt endlich wie erwachsene
Menschen und tragt Verantwortung.« Man sei schließlich »Mitglied in einem international
komplizierten Geflecht.« Leute aus Daun, Westerwald und Neckargemünd sortieren gemeinsam
die spätere Besatzung wie den häuslichen Abfall. Man will die »Implementierung der
Schutztruppe ... unter Beteiligung von z.B. Japan, Zimbabwe, Brasilien, Schweiz ... unter
einem indischen Oberkommando (gemischt aus Hindus und Moslems).« Dem KV Wittmund war
während der Strukturierung der Balkan-Konferenz aufgefallen, daß alle
Entscheidungsträger der Nato den Hang haben, sich »viel zu schnell und einseitig auf
eine militärische Option« einzulassen. Deshalb will er in allerbester Absicht eine
Arbeitsgruppe im »Geschäftsbereich des Außenministers«, die darauf mal ein Auge werfen
soll. Der KV Hersfeld-Rotenburg will gleich »die Einrichtung eines Ministeriums für
Deeskalation.«
Das Denken kann der Institution nicht mehr entrinnen und
politisch nicht mehr erfassen, wo man lebt. Man möchte ihnen zurufen: Ihr lebt in
Deutschland, der wirtschaftlich und militärisch zweitstärksten Weltmacht, die beseelt
ist von dem Wunsch, die USA als erste Macht zu beerben. Beschlossen wird am Ende: »Die
Glaubwürdigkeit grüner Außenpolitik wird sich in Zukunft auch daran messen lassen
müssen, wie wir menschenrechtliche Kriterien in anderen Weltgegenden ... praktisch ernst
nehmen.« Da die grüne Außenpolitik nun einmal identisch ist mit der deutschen, für die
Fischer nach dem WEU-Gipfel erklärt hat, man werde künftig mit oder ohne atlantische
Allianz Konflikte ordnen, möchte man nicht in der Haut der Menschen in anderen
Weltgegenden stecken. Die Deutschen werden noch viele Ethnien kennenlernen und für
Flüchtlinge sammeln müssen. Der Bedarf an Moral ist riesig, denn »eine so ungeheure
Kraft, wie wir sie ... entfaltet haben, muß sich vor der Welt ethisch begründen, will
sie ertragen werden,« wußte schon Prinz Max von Baden im März 1918.
Es gibt auch einige andere, die in der Debatte keine Rolle
spielen. Ein KV spricht immerhin von »einem Angriffskrieg gegen einen souveränen
Staat«. Der KV Kaiserslautern verlangt, daß die Abgeordneten, die für den Krieg
gestimmt hatten, ihre Mandate niederlegen, und Joseph Fischer, der nur noch »Deutsche
Außenpolitik« machen wolle, wird aufgefordert, »sofort von seinem Amt zurückzutreten
oder die Partei zu verlassen.« Nur wenige Grüne wird der Schreck darüber, daß die
Regierungsbeteiligung in einem der mächtigsten Staaten als letzte Prüfung auch den Krieg
vorsieht, aus der Partei treiben. Sollten in diesem Kontext allerdings relevante Teile der
Wähler abwandern, dann wird man auf einem der nächsten Parteitage jene echte,
authentische Betroffenheit erleben, die nur die Wahlniederlage zu erzeugen vermag.
Quelle: Freitag 21. Mai 1999 |