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KOSOVO Antikriegsseite


Auf falschem Weg
Brief eines Balkan-Reisenden an den Präsidenten der Republik Frankreich.
Von Régis Debray

Quelle: Junge Welt v.17.5.99

junge Welt dokumentiert im folgenden die Übersetzung eines Offenen Briefes des Schriftstellers und Philosophen Régis Debray an den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac, den »Le Monde« am 13. Mai veröffentlichte. Debray (Jg. 1940) - mit Fidel Castro und Ernesto Che Guevara bekannt - wurde 1967 durch sein Buch »Revolution in der Revolution« über die südamerikanische Guerilla-Strategie bekannt. 1981 wurde er Berater von Präsident Mitterrand. 1996 distanzierte er sich von seinem Engagement für Kuba, setzte sich aber für die mexikanischen Zapatistas ein.

Zurück aus Mazedonien, Serbien und dem Kosovo, fühle ich mich verpflichtet, Ihnen einen Eindruck wiederzugeben: Ich befürchte, Herr Präsident, daß wir einen falschen Weg nehmen. Sie sind ein Mann, der beide Füße auf dem Boden behält. Sie nehmen kaum die Intellektuellen wahr, die unsere Zeitungsspalten ziemlich wortmächtig und energisch füllen. Das paßt auf mich nicht mehr. Ich werde mich ausschließlich an Tatsachen halten. Jedem die seinen, werden Sie sagen. Jene, die ich an Ort und Stelle beobachten konnte - während eines kurzen Aufenthaltes von einer Woche zwischen dem 2. und dem 9. Mai in Serbien (Belgrad, Novi Sad, Nis, Vramje), davon vier Tage im Kosovo, von Pristina nach Prej, von Prizren nach Podujewo - scheinen mir nicht den Worten zu entsprechen, die Sie benutzen, scheinen mir weit von diesen und von ehrlichen Absichten entfernt zu sein.

Halten Sie mich nicht für parteiisch. Ich habe die vergangene Woche in Mazedonien verbracht, war bei der Ankunft von Flüchtlingen dabei, habe ihre Zeugenaussagen gehört. Sie haben mich erschüttert wie viele andere. Da ich Reisen nach dem Muster von Intourist bzw. Journalistenreisen per Bus mißtraue, habe ich von den serbischen Behörden einen eigenen Übersetzer für mich, ein eigenes Auto und die Möglichkeit verlangt, nach meinem Gutdünken zu reisen und mit jemandem zu reden. Die Vereinbarung wurde respektiert. Wichtig sei, wer Dolmetscher war? Ja. Denn ich habe zu meiner großen Überraschung - aber wie soll man es anders machen? - festgestellt, daß man sich nur, wenn man leichtsinnig ist, in Mazedonien oder Albanien auf örtliche Verbindungen verlassen kann, die - in ihrer Mehrheit Sympathisanten oder Mitglieder der UCK - dem gerade angekommenen Fremden ihre Sicht oder ihren Blickwinkel darbieten. Die Berichte von übermäßigen Geldforderungen sind zu zahlreich, als daß man einen unleugbaren Hintergrund in Zweifel ziehen könnte.

Einige Zeugenaussagen, die ich aufnahm und anschließend an den Originalschauplätzen überprüfte, erwiesen sich jedoch als übertrieben bzw. ungenau. Das ändert zweifellos nichts am schändlichen Skandal dieses Exodus.

Was sagen Sie uns wiederholt? »Wir führen keinen Krieg gegen das serbische Volk, sondern gegen einen Diktator, gegen Milosevic, der - jede Verhandlung zurückweisend - den Völkermord an den Kosovaren kaltblütig programmierte. Wir beschränken uns darauf, seinen Repressionsapparat zu zerstören, auf eine Zerstörung, die bereits weit vorangeschritten ist. Und wenn wir unsere Schläge fortsetzen - trotz der bedauerlichen Zielirrtümer und der ungewollten Kollateralschäden -, dann deswegen, weil die serbischen Streitkräfte im Kosovo ihre Operation zur ethnischen Säuberung fortsetzen.«

Jedes Wort Betrug

Ich habe Anlaß zu befürchten, Herr Präsident, daß jedes dieser Worte Betrug ist.

1. »Kein Krieg gegen das Volk ...« Wissen Sie nicht, daß im Herzen der Altstadt von Belgrad das Kindertheater »Dusan- Radevic« in unmittelbarer Nachbarschaft des Fernsehens liegt und daß die Missile, die dieses zerstört hat, auch jenes traf? Insgesamt dreihundert Schulen wurden von den Bomben getroffen. Die Schüler sind sich selbst überlassen, gehen nicht mehr zur Schule. Auf dem Land kommt es vor, daß sie gelbe explosive Röhren, die die Form von Spielzeug haben, aufsammeln (Modell CBU 87). Ähnliche Streubomben haben die Sowjets in Afghanistan abgeworfen. Die Zerstörung von Fabriken hat 500 000 Arbeiter auf die Straße geworfen - mit einem Einkommen von 230 Dinar, umgerechnet 91 Francs (rund 30 DM - Übers.) im Monat. Fast die Mehrheit der Bevölkerung ist arbeitslos. Wenn Sie glauben, daß sie sich deswegen gegen das Regime wendet, irren Sie sich. Trotz der Müdigkeit und trotz der Not habe ich keinen Riß in der unverletzlichen Einheit beobachtet. Ein junges Mädchen sagte mir in Pristina: »Wenn man vier Chinesen tötet, die zu einer Großmacht gehören, entrüstet sich die Welt; aber vierhundert Serben zählen nicht. Merkwürdig, nicht?«

Gewiß, ich war nicht Zeuge des Blutbades, das die NATO- Bomber in dem Autobus angerichtet haben, in den Flüchtlingskolonnen, in den Zügen, im Krankenhaus von Nis und anderswo, auch nicht der Luftangriffe auf serbische Flüchtlingslager (Majino Maselje, 21. April, vier Tote, zwanzig Verletzte). Ich spreche von ungefähr 400 000 Serben, die die Kroaten aus der Krajina ohne Mikrofone und ohne Kameras vertrieben haben.

Ich habe die Orte und Momente meines Aufenthaltes im Kosovo festgehalten. General Jertz, der Sprecher der NATO, hat erklärt: »Wir haben keinen Konvoi angegriffen, und wir haben niemals Zivilisten angegriffen.« Lüge. Ich habe am Donnerstag, dem 6. Mai, im Dörfchen Lipjan ein Haus gesehen, das von einer Missile vollständig pulverisiert wurde: drei kleine Mädchen und zwei Großeltern massakriert ohne irgendein militärisches Objekt in einem Umkreis von drei Kilometern. Am folgenden Tag habe ich im Zigeunerstadtteil von Prizren zwei weitere Hütten gesehen, die zwei Stunden zuvor zu Asche geworden waren - mit mehreren Opfern darin.

2. »Der Diktator Milosevic ...« Meine Gesprächspartner von der Opposition, die einzigen, mit denen ich mich unterhalten habe, haben mich an zwei bittere Tatsachen erinnert. Autokrat, Betrüger, Manipulator und Populist - Herr Milosevic wurde bei nicht weniger als drei Gelegenheiten gewählt: die Diktatoren lassen sich nur einmal wählen, nicht zweimal. Er respektiert die jugoslawische Verfassung. Es gibt keine Einheitspartei. Seine Partei ist im Parlament in der Minderheit. Es gibt keine politischen Gefangenen, es gibt wechselnde Koalitionen. Er ist wie abwesend im täglichen Leben. Man kann ihn, ohne sich zu verstecken, auf den Café- Terrassen kritisieren - und man zügelt sich nicht -, aber die Leute kümmert es nicht weiter. Es gibt irgendein »totalitäres« Charisma in den Köpfen. Der Verstand des Westens aber scheint durch Herrn Milosevic fünfhundertmal mehr getrübt als der seiner Mitbürger.

In bezug auf ihn von München zu sprechen, heißt, das Verhältnis von Schwachem und Starkem umzukehren, und so zu tun, als ob ein isoliertes und armes Land von zehn Millionen Einwohnern, die nichts außerhalb der Grenzen des alten Jugoslawiens begehren, mit dem erobernden und von Hitler aufgerüsteten Deutschland verglichen werden könnte. Wer sich zu viele Schleier vors Gesicht hält, wird blind.

3. »Der Völkermord an den Kosovaren ...« Ein furchtbares Kapitel. Ich habe nur zwei westliche Augenzeugen getroffen, die Zugang hatten. Der eine, Aleksander Mitic, ist von Geburt Serbe und Korrespondent von AFP in Pristina. Der andere, Paul Watson, ist anglophoner Kanadier und Europa-Korrespondent der »Los Angeles Times«. Er war in Afghanistan, in Somalia, in Kambodscha und hat den Golfkrieg und Ruanda mitgemacht: Kein grüner Junge. Früher war er Anti-Serbe, seit zwei Jahren hat er den Bürgerkrieg im Kosovo, in dem er jedes Dorf und jede Straße kennt, verfolgt. Ein Held, aber ein bescheidener. Als alle ausländischen Journalisten am ersten Tag der Bombardierung aus Pristina ausgewiesen wurden, versteckte er sich anonym, um zu bleiben. Allerdings ohne aufzuhören, umherzureisen und zu beobachten.

Zeugen vor Ort

Seine Zeugenaussage ist abgewogen und - ergänzt mit der anderer - überzeugend. Während der Bombenflut der ersten drei Tage (24., 25. und 26. März) gab es bittere Gelderpressungen verbunden mit Brandstiftungen, Plünderungen und Morden. Einige tausend Albaner haben damals die Order zur Abreise erhalten. Er versicherte mir, seitdem nicht eine Spur eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit gefunden zu haben. Ohne Zweifel haben diese beiden sorgfältigen Beobachter nicht alles gesehen. Und ich noch weniger. Ich kann nur albanische Bauern auf der Rückfahrt nach Podujewo bezeugen, kann nur bezeugen, daß serbische Soldaten vor albanischen Bäckereien Wache halten - vor zehn in Pristina wiedereröffneten -, und daß im Krankenhaus von Pristina (2 000 Betten) albanische und serbische Verletzte Seite an Seite liegen.

Also, was ist geschehen? Nach Ihrer Ansicht die plötzliche Überdeckung eines lokalen Bürgerkrieges von extremer Grausamkeit durch einen internationalen Luftkrieg. Ich erinnere daran, daß 1998 1 700 albanische Kämpfer, 180 Polizisten und 120 serbische Soldaten getötet wurden. Die UCK hat 380 Personen gekidnappt und 103 wieder in Freiheit gesetzt, die anderen sind entweder tot oder verschwunden, z. T. nach Foltern - darunter zwei Journalisten und 14 Arbeiter. Die UCK behauptet, in Pristina 6 000 Mitglieder im Untergrund zu haben, und ihre Heckenschützen sind - sagte man mir - während der ersten Bombardements in Aktion getreten. Die Serben seien zu der Auffassung gekommen, daß sie nicht an zwei Fronten kämpfen konnten, und hätten entschieden manu militari (mit militärischer Gewalt) die »fünfte Kolonne der NATO«, ihre »Bodenstreitkräfte«, d. h. die UCK, zu evakuieren - besonders in den Dörfern, wo sie sich mit der Zivilbevölkerung mischte und sich auf sie stützte.

Örtlich begrenzt, aber sicher stattgefunden haben diese Evakuierungen, dortzulande »israelisch« genannt, und was das alte Algerien angeht, erinnern Sie sich sicher - eine Million algerischer Zivilisten wurden vertrieben und von uns in Lager gesperrt, um »dem Fisch das Wasser abzulassen« -, und sie haben hier und dort Spuren unter offenem Himmel hinterlassen: verbrannte Häuser, entvölkerte Dörfer. Die militärischen Zusammenstöße haben die Flucht der Zivilisten vor den Bombardements nach sich gezogen - in ihrer Mehrzahl, so sagte man mir, Familien von Kämpfern. Das sei, so der AFP-Korrespondent, eine sehr begrenzte Zahl gewesen. Die Menschen hätten in anderen Häusern Zuflucht gefunden, bei Nachbarn, habe er festgestellt. »Niemand starb vor Hunger, es gab keine Morde auf den Straßen und niemand floh nach Albanien oder Mazedonien. Es war rundweg der Angriff der NATO, der wie eine Lawine die humanitäre Katastrophe auslöste. Tatsache ist, daß bis dahin keine Auffanglager an den Grenzen nötig waren.« In den ersten Tagen, räumen dabei alle ein, sah man eine Entfesselung von Repressalien von seiten sogenannter »unkontrollierter« Elemente in möglicher Komplizenschaft mit der örtlichen Polizei.

Herr Vuk Draskovic, der inzwischen zurückgetretene Vize- Premier, und andere haben mir gesagt, daß seither dreihundert Personen im Kosovo wegen erwiesener Gelderpressungen verhaftet und verurteilt worden sind. Täuschung? Alibi? Schlechtes Gewissen? Das ist nicht auszuschließen. Danach hat sich der Exodus fortgesetzt, aber auf kleinerer Stufenleiter. Er ging weiter auf ausdrücklichen Befehl der UCK, geschah aus dem Wunsch heraus, mit den seinigen wieder vereint zu sein, aus Angst, für einen Kollaborateur gehalten zu werden, aus Furcht vor den Bombardements - die aus 6 000 Metern Höhe nicht zwischen Albanern, Serben und anderen unterscheiden; er ging weiter, um sich mit bereits ausgereisten Verwandten zu vereinigen, weil das Vieh getötet wurde, weil Amerika gewinnen wird, weil es die Gelegenheit ist, in die Schweiz, nach Deutschland oder woandershin zu emigrieren ... Motive, die ich vor Ort gehört habe. Ich erwähne Sie Ihnen gegenüber ohne Haftung.

Sollte ich zuviel den Leuten »Gesicht zu Angesicht« zugehört haben? Das Gegenteil wäre Rassismus. Ein Volk a priori - jüdisch, deutsch oder serbisch - als kollektiv kriminell zu definieren, ist eines Demokraten nicht würdig. Alles in allem - es gab während der (deutschen - Übers.) Besatzung albanische, moslemische und kroatische SS-Divisionen - niemals serbische. Sollte dieses philosemitische, dieses Widerstandsvolk - mehr als zehn Nationalitäten koexistieren in Serbien selbst - mit fünfzigjähriger Verspätung nazistisch geworden sein? Mir hat eine ganze Zahl von Kosovaren gesagt, daß sie der Repression dank der Hilfe von Nachbarn, von serbischen Freunden, entkommen sind.

4. »Die von den Serben sorgfältig begonnene Zerstörung ...« Trostlos: Die selbst scheinen sehr widerstandsfähig zu sein. Ein junger Unteroffizier, der im Kosovo dient, beim Autostopp auf der Autobahn Nis-Belgrad mitgenommen, fragte mich, aus welchem strategischen Grund sich die NATO so erbittert auf die Zivilbevölkerung stürzt. »Wenn wir in eine Stadt kommen, in der es keine Elektrizität gibt, müssen wir lauwarme Cola trinken. Das ist ärgerlich, aber man kann damit leben.« Ich vermute, daß die Streitkräfte eigene Einheiten für Stromerzeugung haben.

Sie haben im Kosovo Brücken zertrümmert, die man leicht durch Furte umgehen kann - wenn nicht oben drüber, dann durch die Trümmer hindurch. Sie haben einen Flughafen ohne Bedeutung beschädigt, leere Kasernen zerstört, Militärlastwagen vor Gebrauch in Brand gesetzt, Hubschrauber und Teile der Artillerie in den Wäldern außer Gefecht gesetzt. Ausgezeichnet für Videos und für Briefings im geschlossenen Raum, aber danach? Erinnern Sie sich, daß die jugoslawische Verteidigung von Tito und seinen Partisanen aufgebaut wurde und nichts von einer regulären Armee hat: verstreut und omnipräsent, mit ihren unterirdischen Kommandozentralen, langfristig auf konventionelle Bedrohungen vorbereitet - einst sowjetischen. Man setzt dort sogar die Geschütze mit Ästen um, um ihre Entdeckung durch Wärmestrahlung zu verhindern.

Es gibt im Kosovo - das ist kein Geheimnis - 150 000 Männer unter Waffen, zwischen zwanzig und sechzig Jahre alt - es gibt keine Altersgrenze für Reservisten -, davon gehören nur 40 000 bis 50 000 zur III. Armee von General Pavkovic. Die Relaisstationen für Mobilfunk scheinen in gutem Zustand zu sein, aber die Jugoslawen selbst stören den Empfang - die UCK bedient sich der Handys, um die US-Bomber einzuweisen. Was die erhoffte Demoralisierung angeht - glauben Sie nichts. Im Kosovo erwartet man unsere Truppen, fürchte ich, mit Standfestigkeit und nicht ohne eine gewisse Ungeduld. Wie mir ein Reservist in Pristina sagte, der gerade beim Brotkauf war, seine Kalaschnikow auf der Schulter: »Sofort Bodenkrieg! In einem wirklichen Krieg gibt es wenigstens auf beiden Seiten Tote.« Das Kriegsspiel der NATO- Planer läuft 5 000 Meter über der Realität ab. Ich beschwöre Sie daher: Setzen Sie nicht unsere sensiblen und intelligenten Saint- Cyr-Absolventen auf einem Territorium in Marsch, von dem sie keine Ahnung haben. Ihre Sache ist vielleicht gerecht, aber es wird niemals für sie ein Verteidigungskrieg sein und noch weniger ein heiliger, wie er es - zu Unrecht oder Recht -, für die serbischen Freiwilligen von Kosovo und Metohija sein wird.

5. »Sie setzen die ethnische Säuberung fort ...« Die eingesammelten Nummernschilder und Personalausweise am Grenzübergang zu Albanien haben mich empört. Das sei aus Furcht geschehen, entgegnete man mir, daß die »Terroristen« erneut einsickerten und sie täuschten, indem sie Autos und Papiere unkenntlich machten. Vieles kann meinen begrenzten Beobachtungen entgangen sein, aber der deutsche Verteidigungsminister hat am 6. Mai gelogen, als er erklärte, daß »zwischen 600 000 und 900 000 Vertriebene im Innern des Kosovo lokalisiert worden sind.« Auf einem Territorium von 10 000 Quadratkilometern könnte das nicht geschehen, ohne daß es ein Beobachter vor Ort mit eigenen Augen wahrnähme, am selben Tag, von Ost nach West und von Nord nach Süd. In Pristina, wo noch einige zehntausend Kosovaren leben, kann man in albanischen Pizzerias an der Seite von Albanern essen.

Könnten unsere Minister nicht dort an Ort und Stelle Zeugen mit kühlem Kopf befragen - griechische Ärzte von »Ärzte ohne Grenzen«, Kirchenobere, Popen? Ich denke an Pater Stephan, den Prior von Prizren, einzigartig abgewogen. Denn der Bürgerkrieg ist kein Krieg der Religion: ungezählte Moscheen sind intakt - bis auf zwei, laut dem, was man mir berichtet hat.

Herr und Dienstbote

Man kann die auswärtige Politik eines Landes einkaufen - das ist das, was die Vereinigten Staaten mit den Ländern der Region macht -, nicht seine Träume oder sein Gedächtnis. Wenn Sie die Blicke voller Haß sehen könnten, die die mazedonischen Zöllner und Polizisten an den Grenzübergängen auf die Wagenkonvois werfen, die jede Nacht von Saloniki hoch nach Skopje fahren, auf deren arrogante Begleitmannschaften, die sich ihrer Umgebung überhaupt nicht bewußt sind, dann würden Sie ohne Probleme begreifen, daß es leichter sein wird, sich in diesen Kriegsschauplatz hineinzubegeben, als sich von dort zurückzuziehen. Werden Sie, gerade so wie der italienische Präsident den Mut und die Intelligenz haben, irreale Forderungen zurückzunehmen, um zusammen mit Ibrahim Rugova und nach dessen eigenen Formulierungen, »eine politische Lösung auf realistischen Grundlagen« zu suchen? In diesem Fall wird sich ihrer Aufmerksamkeit eine gewisse Zahl von Tatsachen aufdrängen. Die erste: Die Rettung liegt nicht in einem modus vivendi zwischen Albanern und Serben nach außen hin, wie ihn Herr Rugova fordert, weil es nicht einen, sondern zwei gibt und außerdem mehrere Gemeinschaften im Kosovo. Ohne - angesichts einer fehlenden zuverlässigen Erhebung - in einen Kampf um Zahlen einzutreten, meine ich, erfaßt zu haben, daß es dort eine Million und mehr Albaner gab, 250 000 Serben und 250 000 Personen, die zu anderen Gemeinschaften gehörten - islamische Serben, Türken, Bergbewohner, Roma, »Ägypter« bzw. albanophone Zigeuner -, die die Vorherrschaft eines Groß- Albanien fürchten und Partei für die Serben ergriffen haben. Die zweite: Die Wiedergeburt eines grausamen inneren Krieges verhindern, die Episode einer säkularen Wiederkehr. Das wäre Akt eins, ohne den Akt zwei heute unvorstellbar ist, der aber selbst einer vorherigen Unterdrückung folgen wird.

Die gegenwärtige Politik wird nach Analogie mit der Vergangenheit geführt. Danach gilt es, das kleinste mögliche Übel zu finden. Sie haben die Hitler-Analogie gewählt, mit den Kosovaren als den verfolgten Juden. Gestatten Sie mir, Ihnen eine andere vorzuschlagen: Algerien. Herr Milosevic ist sicher nicht de Gaulle. Aber die zivile Macht hat die Geschäfte an eine Armee übergeben, die genug zu verlieren hat und davon träumt, richtig Probleme zu bereiten. Und diese reguläre Armee umgibt sich mit einheimischen Paramilitärs, die eines Tages als eine OAS gesammelt werden könnten.

Und wenn das Problem gar nicht in Belgrad läge, sondern in den Straßen, den Cafés, den Läden des Kosovo? Die Menschen dort, das ist eine Tatsache, haben nichts, was ihnen wieder Vertrauen geben könnte. Sie haben mich, ein- oder zweimal, als Kriegspartei angegriffen. Und ich muß wahrheitsgemäß sagen, daß es serbische Offiziere waren, die mir zur Hilfe kamen, und mir jedesmal den Anzug gerettet haben.

Sie erinnern sich der Definition de Gaulles für die NATO: »Eine Organisation, die der atlantischen Allianz auferlegt wurde, und die lediglich die militärische und politische Unterordnung Westeuropas unter die Vereinigten Staaten von Amerika ist.« Sie werden uns eines Tages die Gründe erläutern, die dazu geführt haben, diese Einschätzung zu verändern. In Erwartung dessen muß ich Ihnen eine gewisse Scham eingestehen, als mir in Belgrad ein oppositioneller demokratischer Serbe auf die Frage, warum sein gegenwärtiger Präsident mit solcher Eilfertigkeit jene amerikanische und keine französische Persönlichkeit empfing, antwortete: »Wie dem auch sei, es ist besser, mit dem Herrn zu reden als mit seinen Dienstboten.«

(Übersetzung: Arnold Schölzel)

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