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Texte zur Kritik  

Aus: Aufsätze zur Diskussion Nr. 57, Frankfurt/M 1993

Karl Müller
Geschichtsbild der falschen Konkretheit

Anmerkungen zu Michael Vogts Artikelserie über die Entwicklung der SU seit der Oktoberrevolution

LESEHINWEIS: Der nachfolgende Artikel wurde von mir im August 1992 verfaßt und konnte aus Platzgründen in der Nr. 56 nicht mehr abgedruckt werden, in der nun der dritte Teil der Vogtschen Artikelserie veröffentlicht wurde. Damals hatte ich mich außerdem in einer "Nachbemerkung" zur Zukunft der AzD geäußert. Durch die Verschiebung meines Artikels und durch den Wechsel in der Redaktion ergab sich die Notwendigkeit der Anpassung meines Artikels an den aktuellen Stand. Ich habe dies so gelöst, daß ich die Nachbemerkung zu meiner Kritik neu geschrieben habe. Die anderen Teile wurden punktuell aktualisiert, blieben aber weitgehend unverändert, weil Michael Vogt auch im dritten Teil den von mir kritisierten Grundlinien seiner Argumentation treublieb und nur durch zahllose Redundanzen weiter zementierte. (K.M. , Berlin im April 1993)

In den Nummern 54, 55 und 56 der AzD erfolgte der Abdruck einer Serie, worin der Autor, Michael Vogt, verspricht, mithilfe des Marxismus als richtig bestimmter "Klassenkampftheorie" den "Charakter der Oktoberrevolution und die nachfolgende Entwicklung der Sowjetunion" zu untersuchen. Die Untersuchung beansprucht, alle bisherigen analyseunfähigen, klassenkampftheoretischen "Schattierungen" des Marxismus zu überwinden. Eine direkte Auseinandersetzung mit diesen Strömungen fehlt völlig.(1)

Im Rahmen seiner Herangehensweise ordnet der Autor empirische Tatbestände additiv einer (klassen-)soziologischen Matrix zu und setzt sie rein sprachlich in Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie um. Diesem Verfahren vorgängige theoretische Überlegungen über den Stellenwert der Marxschen Werttheorie für eine Klassentheorie werden weder aus dem Untersuchungsgegenstand abgeleitet, noch wird dies als grundsätzliches Problem für die Rekonstruktion revolutionärer Theorie reflektiert. Wäre Vogt einer solchen theoretischen Fundierung nachgegangen, wäre er wahrscheinlich im Stadium der Herausarbeitung von Fragestellungen steckengeblieben. Bloß darum geht es ihm als "Klassenkampftheoretiker" nicht. Er möchte Thesen aufstellen, die sich "in den kommenden Auseinandersetzungen noch bewähren" müssen. Michael Vogt schreibt also direkt für die politische Praxis, und sie soll dann vermutlich das Kriterium für die Richtigkeit bilden.

Da zudem die Dialektik von Forschungs- und Darstellungsweise dem Autor, wenn schon nicht fremd, so doch zumindest für seinen Untersuchungsgegenstand obsolet erscheint, ist es ihm auch egal, woher das empirische Fleisch an den Knochen der Beweisführung kommt. Vogt bemüht von daher vornehmlich sogenannte bürgerliche Wissenschaftler, um seine narrativen Thesen zu verifizieren. Zentrale Aussagen untermauert er mit richtungsweisenden Zitaten aus Stalins Werken oder bedient sich einfach dessen Argumentationsfiguren. Gelegentlich wird Lenin zitiert. Dies geschieht besonders dann, wenn dieser nach Meinung von Vogt - im Gegensatz zu Stalin - von Marx abwich. Das sonstige damalige politische Personal der KPdSU(B), welches noch zu Worte kommt, wird als links- oder rechtsabweichlerisch beim Voranschreiten auf dem Weg zum Sozialismus entlarvt.(2) Herausgekommen ist eine zeitgenössisch überarbeitete Fassung des "Kurzen Lehrgangs der KPdSU(B)".

Nach Vogts Auffassung war die von ihm untersuchte Periode (1917-1932) dadurch bestimmt, daß zum einen aufgrund der Oktoberrevolution die Staatsmacht "proletarisch" war, weil die "Avantgarde der Klasse", die Partei, die Diktatur ausübte, daß zum andern aber diese Staatsmacht zunächst nicht richtig auf dem Wege zum Sozialismus vorankam, weil die Bauern ständig ihre "sozialen" Interessen geltend machten. Die Bauernschaft lebte als "festes Bollwerk des Mittelalters jenseits jeder Kultur", was vor allem dadurch auffiel, daß sie "weder lesen noch schreiben" konnten. Ihre bestimmende gesellschaftliche Form des Zusammenlebens war die vorwiegend auf Naturaltausch basierende "urkommunistische obscina", wo man in einer "Mischung aus christlicher und heidnischer Frömmigkeit" lebte. Während der Zeit der NEP zersetzte sich die Dorfgemeinschaft, und es entstand eine kapitalistische Klasse in der Gestalt der Kulaken. Diese mußten zum Ende der 20er Jahre "liquidiert" werden, damit nun der Weg zum Sozialismus beschritten werden konnte: verstaatlichte Industrialisierung und Kollektivierung; dadurch kein Kapitalismus mehr, sondern weit und breit nur noch "Werktätige". Hierdurch verschmolz das "gebildete" städtische Proletariat mit den "kulturlosen" Bauern zu einer werktätigen Klasse. Herauskam ein "bäuerlich-barbarisches Proletariat", das nun "kultiviert" werden mußte. Die Partei, die Avantgarde der proletarischen Klasse, sorgte dann unter Leitung von Stalin für die einzig richtige "Alternative", nämlich dafür, daß die Gewalt "als ökonomische Potenz wirkte". Die doppelt freien LohnarbeiterInnen der NEP-Periode wurden der Zwangsarbeit unterworfen. So wurde "die menschliche Produktivkraft geformt".

In seinem Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag charakterisiert Stalin 1934 den von Vogt untersuchten Zeitraum mit den gleichen zentralen Einschätzungen:

"Die Sowjetunion hat sich in dieser Periode von Grund aus umgestaltet und das Gepräge der Rückständigkeit und des Mittelalters abgestreift. Aus einem Agrarland ist sie zu einem Industrieland geworden. Aus einem Lande der kleinbäuerlichen Einzelwirtschaft ist sie zu einem Lande des kollektiven mechanisierten landwirtschaftlichen Großbetriebs geworden. Aus einem unwissenden, analphabetischen und kulturlosen Land wurde sie - genauer gesagt, wird sie - zu einem gebildeten, kulturell hochstehenden Land, das von einem gewaltigen Netz von Hoch-, Mittel- und Elementarschulen bedeckt ist, die in den Sprachen der Nationalitäten der Sowjetunion wirken."(3)

"Deshalb ist es kein Wunder, daß der kolossale Aufschwung der Wirtschaft und Kultur der Sowjetunion in der Berichtsperiode gleichzeitig die Liquidierung der kapitalistischen Elemente und die Zurückdrängung der bäuerlichen Einzelwirtschaften bedeutete [...] Die kapitalistische Wirtschaft in der Sowjetunion ist demnach bereits liquidiert [...]" (4)

Im dritten Teil der Serie ließ Vogt nun den Leser zusätzlich wissen, daß Stalin in den 30 Jahren bemüht war, mit Hilfe der "Stalinschen Verfassung" die Bauern zu gleichberechtigten Mitgliedern der Sowjetgesellschaft zu machen. Dafür waren leider auch die Moskauer Prozesse notwendig, weil es gegen ein gleichberechtigtes Zusammenleben Widerstände in der Partei gab. Stalins glitt dabei zeitweilig in Subjektivismus ab. Dies änderte aber nichts an der Tatsache, daß Stalin die Interessen der Massen vertrat und ihr "verehrter Führer" war. Nachdem nun die Moskauer Prozesse den Eintritt der Bauern "ins politische Leben" sichergestellt hatten, bestimmten diese die Kultur, den Staat, die Partei und die Rote Armee, woraus Michael Vogt glasklar "mit ins Feld geführter politischer Logik" folgert, daß dadurch das "Oktoberproletariat" entmachtet wurde und die SU- wie der Titel bereits verrät - in einen "Bauernsozialismus" verwandelt wurde. Dieses methodische Herangehens - die Sowjetpolitik direkt aus veränderten sozialen Schichtungen und Klassenstrukturen abzuleiten, deren empirischen Befunde man irgendwie zusammenklaubt - ist keineswegs neu. Praktiziert wurde diese Methode am Gegenstand SU bereits in den 30er Jahren z.B. durch die IVKO (4a), wenngleich sie unter Zugrundelegung der selben Fakten zu anderen Schlußfolgerungen gelangte wie Vogt. Allein dieser Umstand zeigt bereits die Sinnlosigkeit jener klassensoziologischen Kaffesatzleserei an. Vollends hirnrissig werden solche Argumentationsfiguren, wenn man eben nicht mehr Zeitzeuge wie die IVKO ist, sondern spätestens das Resultat des Niedergangs der SU vor den (TV-) Augen hat. Eine zum Zwecke der Begründung eines zeitgenössischen Kommunismus betriebene analytische Aufarbeitung der Geschichte der SU muß daher gerade auch vom historischen Resultat ausgehen. Dieser gescheiterte, sogenannte "realexistierende Sozialismus" erscheint - untersucht mit dieser Fragestellung und aus dieser Perspektive - nicht mehr als "eigenständige Gesellschaftsformation im Sinne einer Negation der kapitalistischen Produktionsweise, sondern muß als Teilgeschichte des Kapitalismus angesehen werden."(5) Im Rahmen solch einer Analyse wären Stalins Einschätzungen und "seine" Politik als Verkehrung des Bewußtseins an der Oberfläche einer sich entwickelnden warenproduzierenden Gesellschaft in der Phase ihrer despotisch verfügten ursprünglichen Akkumulation zu dechiffrieren, das demgemäß in der Entindividualisierung den Hauptzweck einer proletarischen Erziehungsdiktatur sieht.

Vogt hingegen ignoriert diese Problematik und geht folglich anders vor. Er vereinnahmt zu legitimatorischen Zwecken erstellte Stalin-Schriften (Kurzer Lehrgang, Fragen des Leninismus usw.) als Basistheorie und/oder als Begriffssteinbruch für seine Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Realsozialimus. Dabei hagelt es nur so von Klischees und Stereotypen einer die Grenze der Peinlichkeit überschreitenden Sprache ("das Proletariat schickte seine besten Kräfte in die Rote Armee"), wodurch nochmals unterstrichen wird, daß empirische Zusammenhänge immer auf eine einzige theoretische Grundfigur (Klassenkampf) reduziert werden. Damit schafft der Autor zwischen Form und Inhalt eine Kohärenz, die sicherstellt, daß die LeserInnen nichts wirklich Neues erfahren. Angesichts eines solchen ML-Theoriekitsch wäre es überflüssig mit Vogt in eine Auseinandersetzung zutreten, wenn er nicht zugleich eine Reihe rassistischer Argumentationen mitgeliefert hätte. Ich werde in folgendem versuchen, diesen Vorwurf zu substantiieren und aufzeigen, daß Vogts ätzender Bonsai-Marxismus diese reaktionären Entgleisungen begünstigt.

1.

Die Topoi des verwendeten Kulturbegriffs, die der von Stalin geborgten Argumentationskette übergestülpt oder entnommen wurden, sind bei Vogt folgende:

daß es menschliche Lebensweisen gibt, in denen keine Kultur existiert;

daß es verschiedene - niedere und höhere - Kulturstufen gibt;

daß die "Vermischung" einer höheren mit einer niederen Kulturstufe bzw. mit "Unkultur" einen kulturellen Rückfall bedeutet.

Ideengeschichtlich betrachtet, finden wir den Ausgangpunkt solcher Topoi im Zeitalter der Aufklärung. So schreibt zum Beispiel Hegel in der "Philosophie der Geschichte":

"Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzenWildheit und Unbändigkeit dar; von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden." (6)

Indem Hegel aus der Perspektive der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft ein Menschenbild konstruiert, das an zwei Polen (Mensch - Unmensch) aufgehängt ist, projiziert er die kulturellen Gestaltungsformen der sich durchsetzenden kapitalistischen Warenproduktion auf die "Neger". Das Kapital, das historisch von Geld - also aus der Zirkulationssphäre - herkommt, erscheint, als es sich die Sphäre der Produktion zu unterwerfen beginnt, als zivilisatorischer Disziplinierungshebel gegenüber den in einer scheinbaren Urprünglichkeit lebenden Menschen. Kapital als prozessierender Wert ergreift die (west-)europäischen Gesellschaften und gestaltet die Produktivkraft Mensch, indem dieser aus seinen feudalen Fesseln herausgerissen wird, um als doppelt freier Lohnarbeiter einer ihm fremden Macht unterworfen zu werden. Die Verdoppelung der Gesellschaft in Gesellschaft und Staat verdoppelt den Menschen in Bourgeois und Citoyen. Die in diesem Prozeß sich ausdrückende Wertvergesellschaftung, treibt die Vorstellung hervor, daß alle die, die außerhalb dieses gesellschaftlichen Zusammenhangs leben, keine Kultur haben. Am Beispiel des Kolonialsystems arbeitet Schmitt-Egner diesen Zusammenhang folgendermaßen heraus:

"Für das Kapital ist nicht der Wert, sondern der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft relevant, sie verliert daher mit ihrem Gebrauchswert auch ihren Wert. Steht dem Kapital die Arbeit nicht als reiner Gebrauchswert gegenüber, so ist zugleich ihre Wertlosigkeit als gesellschaftliches Überflüssigsein gesetzt. Dieser Fall tritt besonders bei den Völkern ein, welche nicht getrennt von ihren Arbeitsbedingungen existieren, und bei denen andererseits eine Trennung nicht die gewünschte Bereitschaft zur Disponibilität hervorruft. Diese sind daher >nichts wert<, können also in Reservate zur Umerziehung gesteckt und ausgerottet werden."(7)

Da nach Schmitt-Egner das Objekt der Kolonisation sich nicht im Zustand der bürgerlichen Gesellschaft befindet, können sich dort auch nicht Bourgeois und Citoyen reproduzieren. So erscheinen tatsächlich die Menschen vom Standpunkt der kapitalistischen Produktionsweise nicht als Menschen sondern mittels des Begriffs "Naturvolk" als Barbaren. Diese "Reduktion auf Natur ruft den Gegenbegriff >Kultur< auf den Plan" (Schmitt-Egner):

">Kultur< als die entscheidende Selbstbezeichnung und Selbstbestimmung des bürgerlichen Menschen als Menschen steht hier schroff den im Naturzusammenhang Stehenden gegenüber."(8)

In der Mitte des 19. Jahrhundert entstand in Deutschland die Profession des "Afrikareisenden", dessen Berichte dazu dienten, solche Anschauungen zu popularisieren und im Alltagsdenken die "Gleichsetzung von Zivilisation und Arbeit" als Kulturbegriff zu verankern (9). Auch in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts wurde die Form des "Reiseberichts" dazu verwandt, um den Zustand der Sowjetgesellschaft aus diesem Blickwinkel dem Alltagsbewußtsein näherzubringen. In einer zeitgenössischen Veröffentlichung heißt es dazu in dem Abschnitt "Landschaft und Volk":

"Erst dem modernen Verkehrsmenschen sind die Dimensionen dieses Landes begrifflich faßbar geworden; für den heute noch im Zivilisationsstadium des Mittelalters lebenden russischen Bauern ist die Heimat grenzenlos, sie verschmilzt mit ihm in dem Begriffe Welt (= Mir, d.Verf.) [....] Seine allmenschliche Lebensgier über der rein animalischen klammerte sich an den orthodoxen Ritus, dessen Inbrunst und Farbentrunkenheit noch die römische Kirche überstrahlte [.....] Der Durchschnittsrusse erarbeitet, wo er irgend kann, möglichst rasch, sozusagen mit geschlossenen Augen, ein Quantum Brot, das für einige Tage oder Wochen ausreicht; dann verzehrt er das Erworbene in völliger Untätigkeit und rafft sich erst wieder zur Arbeit auf, wenn die Not vor der Türe steht." (10)

Bei Vogt finden wir den gleichen Argumentationszusammenhang. Sinngleich zitiert Vogt aus der reaktionären westdeutschen Zeitschrift für politische "Gegenwartskunde" der 60er Jahre über Agrarsysteme in Ost und West:

"Wenn der Bauer unter solchen Umständen (gemeint sind die geographischen - d.Verf.) sich selbst überlassen blieb, so tat er aus mehreren Gründen nur das zur Erhaltung des Daseins Notwendige."(11)

Und er folgert mit dem Autor der "Gegenwartskunde", ihn zustimmend zitierend, daß dies die "natürlichen Produktionsverhältnisse" gewesen sein sollen. Von daher ist konsequenterweise für Vogt die "obscina" - die russische Dorfgemeinschaft - der Ort der Kulturlosigkeit. Diese Argumentation denunziert Vogts Kulturbegriff als einen, dessen Trennlinie dort beginnt, wo der Mensch im sogenannten Naturzustand lebt. Denn er spricht ganz im tradierten bürgerlichen Sinne erst dann vom Vorhandensein von Kultur, wenn Merkmale der bürgerlichen Kultur in der Lebensweise der von ihm beschriebenen Klassen und sozialen Gruppen auftauchen. So erscheint ihm das "städtische Proletariat" als "kultiviert" und die bäuerlich russische "Kulturlosigkeit" findet im Analphabetismus ihren empirischen Nachweis. Damit schafft sich Vogt eine tautologische Beweisführung, indem er sogenannte "Kulturtechniken" wie Lesen und Schreiben, die erst in der bürgerlichen Gesellschaft zu einer verallgemeinerten Erscheinung heranreifen, als Bewertungskriterium für vorbürgerliche Lebensweisen heranzieht.

2.

Im bürgerlichen Kulturbegriff der sich entfaltenden warenproduzierenden kapitalistischen Gesellschaft war enthalten, daß der Mensch generell zur Vervollkommung seiner selbst fähig ist, wenn dies nach den Normen der bürgerlichen Gesellschaft als offener und larvierter Zwang geschah, der den Notwendigkeiten der Wertvergesellschaftung folgte. Dem entsprach die Auffassung, daß eine kulturelle Vervollkommnung vorbürgerlicher Gesellschaften dem gleichen Stufenmodell zu folgen habe, welches der bürgerlichen Gesellschaft vorgeschaltet erschien.

Diese Auffassung finden wir sogar noch heute als allgemeines Bildungsgut in bundesdeutschen Schulbüchern:

"Die Kulturstufen sind wie eine Treppe: auf den Stufen die Menschen, stehend oder steigend. Ganz oben thronen wir. Unsere Kultur erscheint als Vorbild für die Entwicklung der anderen Kulturen. Das sieht so einfach aus. Die Wirklichkeit ist viel schwieriger: das Hinaufsteigen auf eine höhere Kulturstufe, das Übernehmen einer anderen Kultur, das Aufgeben der eigenen."(12)

Wird auf der einen Seite der "Treppe" die bürgerliche als höchste Kulturstufe deklariert und ans untere Ende die "Unkultur" gesetzt, dann legitimiert dieses Stufenmodell auch alle Handlungen, die zur sogenannten Anhebung nützlich erscheinen. Vogts Auffassungen entsprechen dieser Logik; mit dem einzigen Unterschied, daß seine historisch höchste Kulturstufe die "proletarische" ist, deren Qualität allein die Avantgarde der Klasse - die Partei - zu bestimmen vermag. Von daher erhält bei ihm auch nur die Partei das alleinige Recht, die Methoden zu bestimmen, welche zur Schaffung der kulturellen Grundlagen der russischen Bauernklasse und für ihre spätere Anhebung geeignet erscheinen. Da Lohnarbeit, wie aus der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft bekannt ist, der Erziehungshebel zur kulturellen Vervollkommnung schlechthin ist, ist der Zwang zur Lohnarbeit in der "sozialistischen Warenproduktion" gemäß diesem Stufenmodell auch nur die einzig richtige Alternative. So propagiert Vogt mit Stalin die "Stachanow-Bewegung", Staatsterror und Arbeitszwang als richtige Schritte auf dem Weg der nun als kulturell aufsteigend begriffenen Sowjetgesellschaft.

Wenn Vogt schreibt, daß dieser Vorgang nur auf "seinen eigenen Grundlagen" durchgesetzt werden konnte, dann legitimieren sich Arbeitslager und physische Vernichtung der Kulaken und aller andern, die nicht mitziehen, nicht nur dadurch, daß die Partei gemäß ihrer Mission auf dem Weg zum Sozialismus voranzuschreiten hat, sondern die Objekte des Terrors sind es selber Schuld. Denn sie sind unkultiviert und primitiv und lassen objektiv keine andere Behandlung zu. Gewaltfreie Methoden der Überzeugung, die auf Freiwilligkeit der Betroffenen abstellten, entsprachen ihnen nicht. Ungeschminkt enthüllt der Zynismus der Sprache des Autors Standort:

"Auf die Muschiks - soweit sie überhaupt lesen konnten - mußte diese Aufklärung wirken wie ein Vortrag über die Relativitätstheorie in einem Kindergarten:"(13)

Vogts Auffassung vom kulturellen Sosein der Betroffenen, die hier nicht aus einer bestimmten ethnischen Zugehörigkeit abgeleitet wird, sondern aus dem unfertigen Kulturzustand, offenbart gerade dadurch die Zugehörigkeit zur Ideologie des Rassismus. Es handelt sich jedoch um einen Rassismus ohne Rasse. In dieser Spielart des Rassismus konstituieren sich soziale Gruppen durch ihren kulturellen Zusammenhang. Ökonomische Grundlagen werden nur insoweit konstatiert, als sie die Folie für soziologische Zuweisungen abgeben, die tautologisch illustrieren, was kulturbegrifflich bereits festgestellt wurde. Ist das Konstrukt vollbracht, dann können die signifikanten Kulturdefizite aus der Perspektive der höherstehenden Kultur definiert werden. In Vogts Diktion klingt dies so:

"50% der Arbeiter kannten danach keine kapitalistische Fabrik, waren erst also nach 1918 in die Fabrik gekommen; dem entsprechend war etwa die Hälfte der Arbeiter jünger als 30 Jahre. In der Metallindustrie und im Steinekohlenbergbau, d.h. den Schlüsselindustrien, hatten 30-40% der Arbeiter ihren Arbeitsplatz weniger als zwei Jahre inne. Die enorme Fluktuation hing mit der bäuerlichen Herkunft zusammen [....] 25% der befragten Arbeiter waren aber noch mit der Landwirtschaft verbunden. Da sie nicht in Kolchosen mitarbeiteten, müssen sie in aller Regel obscina-Mitglieder gewesen sein. Ideologisch spiegelte sich die bäuerliche Abkunft der Arbeiterklasse darin wider, daß Anfang 1924 nur etwa 40% der hauptstädtischen Arbeiterfamilien Bücher besaßen, aber 72% mindestens eine Ikone."(14)

Und über den Kulturkreis "obscina", aus dem diese Menschen entstammten und dessen (Un)-Kultur sie noch immer nicht hinter sich gelassen hatten, vermeldet der Autor:

"Der Analphabetismus war die Regel; es war keine Ausnahme, daß nur ein Mensch im Dorf lesen konnte. Kenntnisse von den rationalen Zusammenhängen der natürlichen Lebensläufe hatte das Dorf so gut wie nicht; dafür aber um so mehr Aberglauben.[....]Vergewaltigung, Totschlag und Brandstiftung waren ebenso wie regelrechte Kriege zwischen den Dörfern an der Tagesordnung. Alkoholismus war weit verbreitet.[...] Am Ende von mehrtägigen Besäufnissen wurden dann Schlägereien ausgetragen..."(15)

3.

Der Rassismus des Nationalsozialismus nahm die Gestalt einer Rassenlehre an, d.h. eine gesellschaftliche Ausschließungpraxis wurde mit biologischen Kriterien begründet. Das dadurch definierte Anderssein erschien bei einer in dieser Weise bestimmten Menschengruppe unveränderlich. Dieser Gruppe schienen nun kulturelle Merkmale anzuhängen, die sich im Augenschein durch die Ausschließungspraxis quasi bestätigten. In der in den letzten Jahren durch die Metropolen rasenden Welle der "Ausländerfeindlichkeit" zeigt sich jedoch ganz praktisch, daß eine rassistische Deutung gesellschaftlicher Zustände, die nicht nur Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und LePen hervorbringt, sondern auch die bürgerlichen Parteien veranlaßt, eine Ausschließungsdiskussion zu führen, ganz ohne "Rasse" im biologistischen Sinne auskommt.

Etienne Balibar nennt diesen Rassismus einen "differentiellen Rassismus"(16). Diese Ideologie erscheint gerade als eine jenseits des Rassismus stehende. Sie vertritt - etwa wie der französische Strukturalist Levi-Strauss - die Auffassung, daß "alle Kulturen gleichermaßen komplex und für das Fortschreiten des menschlichen Denkens erforderlich sind". Deswegen können, so die Schlußfolgerung des "differenziellen Rassismus", "Kulturvermischungen" oder die Beseitigung "kultureller Distanzen" den "geistigen Tod der Menschheit" bedeuten. Eine mildere Variante stellt die Behauptung dar, daß eine kulturelle Durchmischung kulturellen Abstieg produziere.

Im Menschenbild des differentiellen Rassismus wird die stützende These für diese Absurditäten gefunden: Zum Menschsein gehöre die spontane Tendenz, sich in Gruppen gegeneinander abzugrenzen, um die kulturelle Identität der Gruppe zu bewahren. Solch eine Beweisführung erscheint gleichsam als Umkehrung des aus dem Kulturbegriff des Bürgertums deduzierten Rassismus. Die eine Richtung des Rassismus grenzt Kultur gegen Natur ab, die andere naturalisiert mithilfe dieses Menschenbildes den Kulturbegriff. Bei Vogts Thesen finden wir auch die zweite Variante: den differentiellen Rassismus. Mit dem Ende der Lohnarbeit gab es nach Vogt in der SU nur noch Werktätige, die in einem umfassenden Industrialisierungs- und Kollektivierungsprozeß zu einer Klasse zusammengeführt wurden, wobei sich zwei selbständige Kulturen mischten: die bäuerliche "Unkultur" und die städtisch-proletarische Kultur.

"Die in den 30er Jahren entstehende Ordnung entsprach dem Charakter des bäuerlich-barbarischen Proletariats, das sie trug [....] Und erst wenn auf dieser Grundlage ein kultiviertes Proletariat entstanden war, konnte die Herrschaft zivilere Formen annehmen."(17)

Die Durchmischung beider Kulturen mußte nach Vogtscher Logik zur Folge haben, daß die "höherstehende" proletarische Kulturstufe auf einer Stufe darunter mit den "bäuerlich-barbarischen" Kulturelementen eingeebnet wurde. Die Stufe "zivilerer" Formen mußte - gemäß Vogts Blickwinkel westlicher Kulturvölker - erst noch erreicht werden. Damit hat der Autor in den ersten beiden Teilen seiner Serie eine Denkfigur aufgebaut, mit der die Moskauer Prozesse und die Gulags als historisch notwendige Konsequenz erklärt und damit gerechtfertigt werden können. Im dritten Teil seiner Serie läßt er dann die Rechtfertigung prompt folgen:

"Die Gleichberechtigung der Bauern Mitte der 30er Jahre war nur gegen die Partei durchzusetzen; das bildete den Ursprung und Hintergrund der Säuberungen." (17a)

4.

In den Begriff der multikulturellen Gesellschaft geht die Vorstellung ein, daß eine kulturelle Durchmischung nicht rückschrittlich, sondern produktiv und vorwärtstreibend für die geschichtliche Entwicklung der Weltgesellschaft ist. Von einem bornierten proletarischen Klassenbewußtsein aus, das verselbständigt vom realen Verlauf der Wertvergesellschaftung vom Standpunkt der Lohnarbeit ökonomisch verkürzt argumentiert, hat solch ein Vorgang Bedrohliches an sich. Vogts Argumentation hinsichtlich der "kulturellen Durchmischung" liegt auf dieser Linie. Sie kann als rassistische Warnung gelesen werden, daß deutsche ArbeiterInnen heute nicht mehr in der Lage wären, MigrantInnen zu assimilieren(18), ohne damit den Preis des eigenen Kulturverlustes zu zahlen.

Multikulturelle Gesellschaft ist ein deskriptiver Begriff, mit dem Erscheinungen in der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft in der Weise normativ verarbeitet werden, daß Offenheit für andere Traditionslinien entsteht, daß der innere Zusammenhang differierender Lebensweisen erschlossen wird, daß kulturelles Anderssein nicht mit Isolation und Solidaritätsentzug bedroht wird und daß durch das Vorhandensein verschiedener Kulturen die Chance einer selbständigen transnationalen Kultur aufwächst, die die von den Verwertungsinteressen der Kultur- und Konsumgüterindustrie erzeugte transnationale Kultur überwindet.(19) Gerade der letzte Anspruch weist eindringlich die Grenzen dieser deskriptiven Kategorie auf. Für MarxistInnen, die sich auf die Fortführung der Kritik der politischen Ökonomie besinnen, fällt daher die Aufgabe zu, ausgehend von der Analyse der Wertvergesellschaftung in ihrer jetzigen Gestalt eines weltumspannenden Kapitalismus, solch eine Kategorie materialistisch zu wenden. Eine derartige Beschäftigung könnte allerdings nicht mehr mit den ausgetretenen ideologischen Latschen des sogenannten proletarischen Internationalismus erfolgen. Sowenig dieser "klassenkampftheoretische Marxismus" sich von den bürgerlichen Kulturvorstellungen lösen konnte, so klassenborniert blind verhielt er sich gegenüber patriarchalischen Strukturen, die die bisherige kapitalistische (sozialistische) Warenproduktion wesentlich mitkonturierten.

Von daher ist es auch ein Mangel meines Aufsatzes, wenn ich in der Auseinandersetzung mit Vogt`s Kulturbegriff auf eine nähere Darstellung dieses Aspekts im Kontext der SU-Geschichte verzichtet habe. Es sei hier nur daraufhingewiesen, daß im Zuge des "Voranschreitens zum Sozialismus" sämtliche emanzipatorischen Ansätze, die auf dem Hintergrund der Schaffung der doppelt freien LohnarbeiterInnen zur Zeit der NEP wie z.B. in der "Frauenfrage", sowie der Erziehungs- und Bildungsarbeit in Gang gekommen waren, gewaltsam gekappt wurden.(20) Daß Vogt, der permanent die Entwicklungslinien der Alltagskultur im Prozeß ihres Aufsteigens von einer "niederen" zu einer "höheren" Stufe "reflektiert", sich zu diesem Fragenkomplex blind verhält, ist bezeichnend.(20a)

Daß Vogt einen rassistischen Kulturbegriff nach verschiedenen Seiten hin aufgefächert in das Zentrum seiner Beweisführung rückt, liegt zweifellos an seinem eigentümlichen Verständnis des Marxismus als "Klassenkampftheorie", worauf als nächstes eingegangen wird. Doch schon bis hier zeigt sich, daß seine Abstinenz gegenüber der Kritik der politischen Ökonomie als Kern des marxistischen Gedankenguts den Zugang zu einer Betrachtung historischer Lebensweisen versperrt, welche die Gesetzmäßigkeiten von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in einer bestimmten historischen Situation aufzuspüren sucht, anstatt an der Folie rassistisch gedeuteter und soziologisch gewendeter empirischer Daten kleben zu bleiben. Das mechanistische Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Kulturen und ihre Qualifizierung nach Stufen ermöglichen es ihm nicht, menschliches Verhalten, das er aus Sekundärquellen beschreibt, positiv im Kontext von Unterdrückung und Widerstand zu begreifen. Nach Vogt steht es dem Voranschreiten der Geschichte entgegen und ist deshalb der Teil von ihr, den es nur zu liquidieren gilt. Selbst damalige voluntaristische Bemühungen anders vorzugehen, unzulänglich wegen der unentwickelten Bedingungen der vergesellschafteten Arbeit, können von ihm nur als "gespenstisch" diffamiert werden.(21)

5.

In seiner politischen Abhandlung "Die Revolution in China und Europa" schreibt Marx im Jahre 1853 über die zeitgenössische britische Kolonialpolitik in China:

"Vor den britischen Waffen ging die Autorität der Mandschu-Dynastie in Scherben; das abergläubige Vertrauen in die Unvergänglichkeit des Reichs des Himmels brach zusammen; die barbarische hermetische Abschließung von der zivilisierten Welt wurde durchbrochen und eine Bresche geschlagen für den Verkehr, der sich inzwischen für die Anziehungskraft des kalifornischen und australischen Goldes so rasch entwickelt hat [....] Es ist kaum nötig, noch zu bemerken, daß in gleichem Maße, in dem das Opium Herrschaft über die Chinesen erlangt hat, der Kaiser und sein Gefolge pedantischer Mandarine ihrerseits der Herrschaft verlustig gegangen sind. Es hat den Anschein, als habe die Geschichte dieses ganze Volk erst trunken machen müssen, ehe sie es aus seinem ererbten Stumpfsinn aufrütteln konnte."(22)

Und in einem Brief an Engels aus dem selben Jahr kommentiert er die britische Kolonialpolitik in Indien mit folgenden Worten:

"Ich glaube, daß man sich keine solidre Grundlage für asiatischen Despotismus in Stagnation denken kann. Und sosehr die Engländer das Land irlandisiert haben, das Aufbrechen dieser stereotypen Urformen war die conditio sine qua non für Europäisierung."(23)

Im Sinne des oben umrissenen Rassismusbegriffs sind dies keine Ausrutscher des Altmeisters, sondern es sind Leichen in seinem politischen Keller. Die Benennung ihrer Existenz im Bedeutungszusammenhang des Begriffes "Rassismus ohne Rasse" und ihre Zurückweisung werden durch den Zustand der jetzigen kapitalistischen Weltgesellschaft zwingend. Die kapitalistische Produktionsweise bildet heute nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ die Hauptseite des (welt-)gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Für diesen Reproduktionszusammenhang ist es unabdingbar, daß in der Zirkulation hinsichtlich der formellen Bestimmungen kein Unterschied zwischen den Subjekten des Austauschs besteht. In Abgrenzung zu den antiken Gleichheitsvorstellungen schreibt Marx:

"Gleichheit und Freiheit sind also nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben; als entwickelt in juristischen, politischen und sozialen Beziehungen sind sie nur diese Basis in einer anderen Potenz."(24)

Die Vermittlung in der Produktion vorausgesetzter Ungleichheit als formelle Gleichheit in der Zirkulation bringt die Individuen dazu, in der Sphäre des Scheins - der Zirkulation - die voranschreitende Vergesellschaftung ihrer Individualität nicht zu erkennen oder zu leugnen und ihre Interessen als individuelle zu setzen. Die Abgrenzung des Eigeninteresses gegen das fremde Interesse verläuft (besonders vor dem Hintergrund historischer Ungleichzeitigkeiten) auch in den Bahnen rassistischer Erklärungsmuster. Denn die Konstituierung des bürgerlichen Individuums auf der Grundlage des Prozesses der formellen und reellen Subsumtion der Ware Arbeitskraft unter das Kapitalverhältnis beinhaltet zugleich eine Ausschließungspraxis, wodurch bürgerliche Individualität fundamental konfiguriert wird. Gegenläufig dazu ruft die auf der Grundlage kapitalistischer Ausbeutung voranschreitende Wertvergesellschaftung die Zersetzung rassistischer Identifikationsmuster praktisch hervor. Die Ablösung des Produzenten aus seiner Unmittelbarkeit gegenüber Produkt und Prozeß, die Herabsetzung der Bedeutung der konkreten Arbeit gegenüber der abstrakten - kurzum: die Verwissenschaftlichung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, dies trägt die Tendenz in sich, daß das Individuum sich als vergesellschaftetes begreifen muß.

"In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eigenen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper - in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint."(25)

Die bewußte Aneignung der "eigenen allgemeinen Produktivkraft", die das Ende rassistischer Deutungsmuster für gesellschaftliche Vorgänge einleitet, kann jedoch erst zu einem Zeitpunkt geschehen, wo der Kapitalismus seine "innere Schranke" erreicht hat, wo nämlich die materiellen Voraussetzungen für eine kommunistische Produktion und Verteilung nicht nur als vorgestellte, sondern real existieren.

Meines Erachtens konnte Marx zu einem Zeitpunkt, wo er die Kritik der politischen Ökonomie noch nicht zu Wege gebracht hatte, also die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Prognose für ihn noch nicht analytisch offenlag, bezüglich des Kultur- und Zivilisationsbegriffs keinen anderen als den oben zitierten Standpunkt einnehmen, selbst wenn dieser im Anspruch einer klassentheoretischen Durchdringung stand. So wie Hegel in der "Negerfrage" argumentiert, so spiegelt sich auch in Marxens frühen politischen Kommentaren der Zivilisations- und Kulturbegriff der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft wider. Im übrigen eine Identifikationsfigur, die zwar ihre letztendlichen Wurzeln in der Ökonomie der damaligen Epoche hatte, aber keineswegs klassenmäßig abzuleiten ist, wie z.B. die Übernahme dieser Sichtweise durch die deutsche Sozialdemokratie(26) um 1900 und Marx selber aufweisen. Als Marx hingegen die Kerngestalt der bürgerlichen Gesellschaft mittels der Kritik der politischen Ökonomie begrifflich und in ihren grundlegenden Gesetzmäßigkeiten dechiffriert hatte, wandelte sich auch seine politisch wertende Sichtweise von vorkapitalistischen Lebensweisen im Aufeinandertreffen mit bürgerlich-kapitalistischen Verkehrsformen. Im ersten Band des "Kapitals" formuliert er im 10. Abschnitt des 13. Kapitels "Große Industrie und Agrikultur" entgegen seiner bisherigen Auffassung von der zivilisatorischen Mission der kapitalistischen Produktionsweise:

"In der Agrikultur wie in der Manufaktur erscheint die kapitalistische Umwandlung des Produktionsprozesses zugleich als Martyrologie der Produzenten, das Arbeitsmittel als Unterjochungsmittel und Verarmungsmittel des Arbeiters, die gesellschaftliche Kombination der Arbeitsprozesse als organisierte Unterdrückung seiner individuellen Freiheit und Selbständigkeit [....] Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die gesteigerte Produktivkraft und größre Flüssigmachung der Arbeit erkauft durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst."(27)

Und bildlich gesprochen:

"Wenn das Geld nach Augier, >mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt<, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend."(28)

1894 finden wir beim späten Engels schließlich - im Angesicht des Übergangs der bisherigen kapitalistischen Kolonialpolitik in eine imperialistische - eine noch weitergehende Korrektur, wenn er hinsichtlich des Zusammenhangs der Revolution im Westen zu den revolutionären Perspektiven im Osten schreibt:

"Diese (gemeint ist eine sich abzeichnende Revolution in Rußland - d.Verf.) wird nicht nur die große Masse der Nation, die Bauern, aus der Isolierung ihrer Dörfer, die ihren >mir<, ihre >Welt< bilden, herausreißen und auf die große Bühne führen, wo sie die Außenwelt und damit sich selbst, ihre eigne Lage und die Mittel zur Rettung aus der gegenwärtigen Not kennenlernt, sondern sie wird auch der Arbeiterbewegung des Westens einen neuen Anstoß und neue, bessere Kampfesbedingungen geben und damit den Sieg des modernen industriellen Proletariats beschleunigen, ohne den das heutige Rußland weder aus der Gemeinde noch aus dem Kapitalismus heraus zu einer sozialistischen Umgestaltung kommen kann." (29)

Für "Klassenkampftheoretiker", wie Michael Vogt, sind solche wesentlichen Korrekturen in der klassenpolitisch-einschätzenden Literatur der Klassiker offensichtlich ohne Belang. Für ihn bleibt Industriearbeit auch dann zivilisatorisch, wenn sie, wie in der SU, als Zwangsarbeit organisiert ist - also bereits auf der Erscheinungsebene martialische Züge der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation trägt; denn sie hebt seiner Meinung nach (nur linear vom historischen Endziel Kommunismus abgeleitet) das kulturelle Niveau der ehemals bäuerlichen, "sozialistischen" Lohnsklaven.

Erst eine genauere Beschäftigung mit den Brüchen im Marxschen Zivilisationsverständnis wird einen tieferen Einblick gewähren, wie sie als Resultat seiner umfassenden Beschäftigung mit der Kritik der politischen Ökonomie aufgewachsen sind.(30) Dies kann aber nur geschehen, wenn die Kritik der politischen Ökonomie nicht reduziert wird auf eine ökonomische Spezialdisziplin, die - wie bei Vogt - für die politische Auswertung von Zeitgeschichte unhinterfragt den begrifflichen Steinbruch abgibt. Vor einer fehlerhaften Überbewertung "klassenkampftheoretisch" verfaßter Tages- und Zeitgeschichtsschreibung hat der späte Engels 1895 in der Einleitung der erneuten Herausgabe von Marxens "Klassenkämpfe in Frankreich" ausdrücklich gewarnt:

"Bei der Beurteilung von Ereignissen und Ereignisreihen der Tagesgeschichte wird man nie imstande sein, bis auf die letzten ökonomischen Ursachen zurückzugehen.[...] Der klare Überblick über die ökonomische Geschichte einer gegebenen Periode ist nie gleichzeitig, ist nur nachträglich, nach erfolgter Sammlung und Sichtung des Stoffes, zu gewinnen [....] Die materialistische Methode wird sich daher hier nur zu oft darauf beschränken müssen, die politischen Konflikte auf Interessenkämpfe der durch die ökonomische Entwicklung gegebenen, vorgefundenen Gesellschaftsklassen und Klassenfraktionen zurückzuführen [....] Es ist selbstredend, daß diese unvermeidliche Vernachlässigung der ökonomischen Lage, der eigentlichen Basis aller zu untersuchenden Vorgänge, eine Fehlerquelle sein muß." (31)

Vogt dagegen muß sich mit "der eigentlichen Basis" gar nicht befassen. In seiner Polemik gegen diesen "ökonomischen Doktrinarismus" stellt er den Zusammenhang zwischen Politik und ökonomischen Verhältnissen als lineare Widerspiegelung der Basis im Überbau dar:

"Daß die fehlende Reife der Klasse eine Widerspiegelung der fehlenden Reife der gesellschaftlichen Verhältnisse für eine sozialistische Umwälzung war, wird den Vertretern dieser subjektiven Revolutionstheorie wohl auf ewig ein Rätsel beiben."(32)

Da mag es dagegen den LeserInnen ein "Rätsel" bleiben, wie aus den politischen und kulturellen Handlungen einer Klasse, die zu dem hier als Einheit gesetzt sind, auf die ökonomische Basis zurückgeschlossen werden kann. Dieses "Rätsel" löst sich dann, wenn - wie Vogt es in Permanenz praktiziert - von den Eigentumsformen - also wiederum von der Oberfläche der Gesellschaft - ausgegangen wird. Dann entsteht in der "Obscina" Kapitalismus, weil es Kulaken gibt, denen bestimmte Produktionsmittel privat gehören, oder es herrscht Sozialismus, weil Verstaatlichung der Produktionsmittel stattgefunden hat usw. usf.

5.

Der politische Marxismus, dessen ideologische Wurzeln in der II. Internationale gelegt wurden, verlor sowohl mit dem Niedergang der "sozialistischen Projekte" des "Ostblocks" als auch durch die Zersplitterung der ArbeiterInnenklasse in den modernen kapitalistischen Industriestaaten seine materiellen Grundlagen und verkam zu einer gesellschaftlichen Nischenerscheinung. Ein bestimmender Wesenszug dieses niedergegangenen Arbeiterbewegungsmarxismus lag in dem Umstand, dessen Ursachen noch genauer zu ergründen wären, daß sein Verhältnis zur Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie durch die entscheidende Verkürzung bestimmt war, in der Oberfläche der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft, in den sich herausbildenden Klassenbeziehungen, das Wesen des Kapitalismus abgebildet zu sehen. Und in dieser Denktradition steht Michael Vogt. Was er zu überwinden vorgibt (33), praktiziert er selber.

Die von Marx im "Kapital" und in den "Grundrissen", sowie in den "Theorien über den Mehrwert" erforschten Gesetzmäßigkeiten der dieser Oberfläche zugrundeliegenden ökonomischen Kerngestalt der kapitalistischen Gesellschaft fanden dagegen im bisherigen politischen Marxismus nur insofern Eingang in Theoriedebatten des niedergegangenen politischen Marxismus, als sie dazu dienten, bereits getroffene Entscheidungen scholastisch zu rechtfertigen.

Von daher ist es sicherlich nicht zutreffend, wie es zum Beispiel von Robert Kurz und seinem "Krisis"-Kreis vertreten wird, daß die Marxsche Werttheorie, das Hauptkettenglied seiner Kritik der Politischen Ökonomie, in der marxistisch orientierten ArbeiterInnenbewegung keine Rolle gespielt hätte. Besonders deutlich tritt nämlich diese pervertiert als marxistische Scholastik in Erscheinung, wenn z.B. in verschiedenen historischen Perioden der sozialistischen Projekte ökonomische Entscheidungen zu treffen waren, die sich aus dem unmittelbaren Zustand der Ökonomie und der Klassen- und Sozialbeziehungen ergaben. Die nahezu zyklisch mit dem Disproportionalitätenproblem (zwischen Abt. I und II) als Ware-Geld-Debatte zu Tage tretende werttheoretische Debatte sollte lediglich Entscheidungen rechtfertigen, die aus Plausibilitätsgründen zu fällen waren und sich weder mit den zuvor vertretenen Ansichten noch mit den tatsächlichen Verhältnissen deckten. Andererseits ist den "Krisis-Leuten" das Verdienst zuzurechnen, in der gegenwärtig stagnierenden marxistischen Theoriedebatte die Werttheorie wieder ins Zentrum der Rekonstruktionsproblematik gerückt zu haben. Auch die von ihnen vorgenommene Unterscheidung zwischen einem politischen (arbeiterbewegten) und einem werttheoretischen Marx gehört dazu. Dieser mutige Schritt wird sich jedoch dann entwerten, wenn der darin enthaltene Schematismus(34) nicht im Diskurs theoretisch arbeitender MarxistInnen überwunden wird, wobei die "Krisis"-Leute gefordert wären, ihr politisches Junktim (35) abzustreifen. Dagegen dürfte Vogt, nach dem was er zur SU-Geschichte vorgelegt hat, nicht zu dem Kreis derer gehören (wollen), die diesen Diskurs wagen. Wegen seines offen zutagegetretenen Rassismus wird es außerdem schwer, die Grenzziehung zu überwinden, die er dadurch zu denjenigen vollzogen hat, die für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung jenseits des Kapitalismus eintreten.

6.

Vogts Vorlage, Stalins "Kurzer Lehrgang", ist insofern selber ein rassistisches Lehrstück, als in ihm die zentrale These des "Rassismus ohne Rasse" von der Überlegenheit des historisch Höherstehenden über dem historisch Niederen beständig variiert wird. In diesem Sinne gilt bezeichnenderweise als höherstehend, wenn die gesellschaftliche Arbeit als Nachbildung der kapitalistischen Fabrikarbeit mittels außerökonomischem Zwang daherkommt und die "freie" Lohnarbeit ersetzt. Aus dieser Sicht legitimieren sich sämtliche Formen des Erziehungs- und Durchsetzungsterrors. Der "Kurze Lehrgang" ist - wie der Titel es ausdrückt - kein wissenschaftliches Werk, sondern didaktisch-reduzierte Schulungsliteratur. Hierdurch kann auf sprachliche Differenziertheit verzichtet und können die Metapher des Rassismus offen benutzt werden. Dies soll an folgendem exemplarisch aufgezeigt werden:

"Politische Doppelzüngler stellen eine Clique prinzipienloser Karrieristen dar, die bereit sind, sich auf wen immer zu stützen, sei es auf kriminelle Elemente, sei es auf den Abschaum der Gesellschaft, sei es auf die geschworenen Feinde des Volkes, nur um im geeigneten Moment erneut auf der politischen Bildfläche zu erscheinen und sich dem Volke als Regierende in den Nacken zu setzen." (36)

Der ursprüngliche Antisemitismus verzichtete auf eine biologistische Ableitung und bestimmte, wer Jude war, durch Verhaltensweisen. Die ethnische Zuweisung dieser Verhaltensweisen kam lediglich als empirischer Beweis daher. Des Juden perfider Charakterzug bestand von daher darin, daß er sich und seine Absichten nahezu vollständig zu larvieren vermochte, was z.B nur die spanischen Inquisatoren erkennen konnten, die zuvor diese These aufgestellt hatten (siehe dazu Balibar, a.a.O.) Mit der gleichen Interpretationsfigur arbeitet der "Kurze Lehrgang" in diesem Zitat. Zunächst wird im Begriff der "Doppelzünglerei" die Larvierung unterstellt. Dann wird tautologisch gefolgert, daß solche Charaktere nur verdeckt arbeiten, gestützt auf "Abschaum" (also bereits gesellschaftlich ausgegrenzte Personengruppen). Dies geschieht allein zu dem Zweck, um sich das "Volk" zu unterwerfen, welches seinerseits noch nicht ausreichend gebildet ist, aus eigener Kraft seine "Feinde" zu erkennen.

Die politische Relevanz erhält diese rassistische Argumentation dadurch, daß sie eine Verschwörung behaviouristisch nahelegt und den darauf erfolgenden Staatsterror als einziges probates Mittel sanktioniert. Von daher leiteten sich die Moskauer Prozesse gleichsam naturnotwendig ab:

"Man darf in seiner Mitte nicht den Opportunismus (im Umgang mit den "Doppelzünglern" - d.Verf.) dulden, wie man in einem gesunden Organismus kein Geschwür dulden darf."(37)

Es dürfte kein Zweifel bestehen, daß im "Kurzen Lehrgang" die Verschwörungstheorie eine zentrale Stütze des darin enthaltenen "Geschichtsbildes der falschen Konkretheit" ist. Gerade diese Argumentationsfigur findet sich auch in Vogts Artikeln, wenngleich er peinlich vermeidet, das einschlägige Vokabular des "Kurzen Lehrgangs" zu benutzen. Zum Beleg verweise ich auf Vogts Charakterisierungen Bucharins, die nichts weiter sind als Illustrationen des Begriffs "politischer Doppelzüngler":

Am 9.Juli: "Stalin forderte, die Kulaken einzuschränken." (AzD55,S.88); "...am 10.Juli 1928, hielt Bucharin, seine Gegenrede."(55/89); "Am 11.Juli traf Bucharin sich heimlich mit Kamenev, dem politischen Zwillingsbruder Sinowjews und Verbündeten Trotzkis in der Vereinigten Opposition." Später leugnete Bucharin das Treffen (ebd.). Dann verbreitete er, Stalin wolle ihn "abschlachten".(55/90) Als Bucharin eine ZK-Mehrheit schwinden sah, unterbeitet er dem ZK ein Gegenprogramm zu Stalins Programm: "Klassenmäßig war es ein Kulakenprogramm gegen das Proletariat, auch wenn Bucharin persönlich für die Einschränkung der Kulaken eintrat."(55/92)

Nachdem Stalins Programm des "Durchbruchs zur Industrialisierung und Kollektivierung" die Mehrheit gefunden hatte, "...fand Bucharins Position binnen kurzer Zeit in Teilen von Partei und Arbeiterklasse keinen Rückhalt mehr. Mit einemmal politisch völlig isoliert, flüchtete Bucharin ins Privatleben, in Literatur und Kunst. So fassungslos er vor den ungeheuren Energien stand, die durch die neue Politik entfesselt wurden, so wenig konnte er die Methoden teilen, mit denen das geschah. Sein Auftreten in dem Prozeß gegen ihn Anfang 1937 gab diesem Widerspruch Ausdruck."(55/94)

Franz Neumann, ein Theoretiker aus dem Umfeld der "Kritischen Theorie" hat 1954 den Begriff des "Geschichtsbild der falschen Konkretheit" in seinem Aufsatz "Angst und Politik"(38) geschaffen, um das Phänomen fassen zu können, daß "Führer" bestimmte "Verschwörungstheorien" konstruieren und "Massen" dazu greifen, um sich in geschichtlichen Prozessen, die ihre soziale Lage massiv verändern, verhalten zu können. Für Neumann ist eine Verschwörungstheorie mithin der popularisierte Ausdruck des "Geschichtsbildes der falschen Konkretheit". Indem Michael Vogt selber mit diesem Geschichtsbild arbeitet und sich nicht über das Niveau einer affirmativen Betrachtung der Geschichte der SU zu erheben vermag, wird er - selbst bei ihren dunkelsten Kapiteln - zu deren Apologeten.

Nachbemerkung: Quo vadis AzD?

Ende 1991 lösten sich die KG`s auf, so war´s im April 1992 in der Nr. 54 zu lesen. Die AzD hörten damit auf, Organ einer politischen Gruppe zu sein. Die Zeitschrift sollte sich öffnen und zukünftig zum Forum von KommunistInnen werden, die an einer theoretischen "Neubegründung des Kommunismus" arbeiten. Nach rund eineinhalb Jahren traten Manfred Weiß und Klaus Winter als Redakteure zurück. Während dieser Zeit haben sie es nicht vermocht (inwieweit sie vom Trägerkreis dabei allein gelassen wurden, kann ich von Berlin aus nicht beurteilen), einen Kreis von Autoren zu konstituieren, der den Öffnungswunsch mit Leben erfüllt. Vorschläge zu einer Konferenz interessierter Autoren, wie sie aus Berlin im Sommer 1992 an Manfred Weiß, Klaus Winter, Robert Schlosser, Heiner Karuscheit, Alfred Schröder und F.K.(39) gerichtet wurden, wurden von der AzD-Redaktion als nicht tragfähig zurückgewiesen und bewußt nicht organisatorisch unterstützt. Ich schrieb deshalb im August 1992 zur Ablehnung meines Zeitungskonzepts an die Redaktion:

"Es handelt sich deshalb bei meinem Zeitungsvorschlag nicht um eine "Überforderung" Eurerseits, wie Ihr .... schreibt, sondern es handelt ich darum, daß Ihr nicht begreift, daß das Weiterleben der Hauptseite Theorie im Kontext der linken Debatte - gerade in der Gestalt der AzD - verlangt, die Dialektik von Bruch und Kontinuität auf Euch selber anzuwenden. Für mich steht die Sache vereinfacht so: Ihr hängt nach wie vor einem klassenkampftheoretischen Marxismusverständnis, wie er durch die Geschichte des Arbeiterbewegungsmarxismus geprägt wurde, an. Hier streitet Ihr Euch in der AzD mit Vogt, Grabow, Schröder und Co. um die richtigen Schwerpunktsetzungen und Interpretationslinien (über Thesen, die sich in kommenden Auseinandersetzungen zu "bewähren" haben / Vogt AzD 54, S. 5) und seht in diesen "kommenden Auseinandersetzungen" eine Annäherungsdebatte an einen erwachenden Riesen, genannt Proletariat, ohne, wie Schlosser richtig vermerkt, zu untersuchen, wer und was der schlafende Riese eigentlich heute im Lichte eines werttheoretisch begriffenen Marxismus überhaupt ist. Wenn Ihr Eure Zeitung dagegen für eine Debatte mit denen öffnen würdet, die als TheoretikerInnen jenseits dieses Spektrums angesiedelt sind, müßtet Ihr die bisher von Euch borniert geführte Debatte im Sinne von Bruch und Kontinuität zur Diskussion stellen. Dafür hätte mein Konzept einen - sicherlich noch zu verbessernden - Rahmen abgeben können. Beides wollt Ihr bisher nicht. Schade!"

Während Klaus Winter, Alfred Schröder und F.K. hinsichtlich der Berliner Vorschläge durch Absentismus glänzten, Heiner Karuscheit sich für nicht zuständig erklärte, Robert Schlosser als einziger positiv reagierte, hat nun Manfred Weiß in seiner Stellungnahme zu Robert Schlossers Empfehlungen in der Nr. 56 seine ganze theoretische Verunsicherung in diesen Fragen erkennen lassen, die ihn offensichtlich blockierte, das ihm übertragene Mandat mit Leben zu erfüllen. Klaus und Manfreds Ausscheiden und die Rückkehr Heiner Karuscheits in die Redaktion, vom Förderkreis im März 1993 berufen, signalisieren m. E. schlußendlich das Ende des Öffnungsversprechens.

In seinem Leserbrief in der Nr. 56 machte Heiner Karuscheit nämlich mit dümmlicher Ignoranz deutlich, was er von der Kontroverse Schlosser/Winter über Grundfragen der Kritik der Politischen Ökonomie hält. Es ist für ihn eine "sterile Diskussion", denn er vermißt in ihr die "gesellschaftliche Realität". Dadurch stellt er die Legitimität der Beschäftigung mit theoretischen Fragen, die nicht durch das Nadelör Klassenkampf gezwängt werden, grundsätzlich in Frage. Und konsequent zu Ende gedacht: Hier wird redaktionelle Zensur gefordert, die solche Themen für die AzD zukünftig sperrt. Sogleich in der selben Ausgabe exerzierte Heiner Karuscheit vor, was er unter "gesellschaftlicher Realität" im Kontext theoretischer Arbeit versteht. FAZ und Le Monde liefern diese für ihn, hinreichend um das "Wesen von Maastricht" bestimmen zu können. Herauskommt ein Politkommentar garniert mit Spekulationen über den bürgerlichen Nationalstaat als Fortschrittsleistung des Kapitals. So wird Theoriearbeit methodisch auf der gleichen Wellenlänge gelabelt wie die Vogtschen Ergüsse zur SU-Geschichte. Um nicht falsch verstanden zu werden, mir geht es im Gegensatz zu ihm nicht darum, Michael Vogt oder Heiner Karuscheit Druckzeilen zu verweigern. Denn das, was sie schreiben, eignet sich hervorragend, um sich an diesen letzten schreibfleißigen Fossilien des niedergegangenen politischen Marxismus abzuarbeiten und um hindurchgehend durch diese Kritik den eigenen Vorstellungen Profil zu verleihen. Es sollte jedoch klargestellt werden, daß eine theoretische Zeitschrift, deren Redaktion nur Vertreter des niedergegangenen Polit-Marxismus angehören, endgültig den Anspruch verloren hat, im Titel zu versprechen, daß in ihr eine theoretische Diskussion stattfindet. In Wirklichkeit garantieren Vertreter des klassenkampftheoretischen Marxismus als AzD-Redakteure lediglich den autistischen Dialog von selbsternannten Polit-Strategen.

Als Marx und Engels 1845 den Bruch mit der "Hegelei" vollzogen und die Grundzüge der materialistischen Geschichtsauffassung in der "Deutschen Ideologie" formulierten, begründeten sie, daß die Untersuchung der Bedingungen der gesellschaftlichen Arbeit der Schlüssel zur historischen Erkenntnis ist und sie resumierten:

"Hieraus geht hervor; daß ... also die >Geschichte der Menschheit< stets im Zusammenhange der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden muß." (39)

Wer dagegen, wie Michael Vogt, unter historischer Forschung nur rote Reportagen von den einzelnen Abschnitten der Klassenfront versteht, blamiert sich gründlich, kann er doch nicht mehr zustandebringen als eine platte Rechtfertigung des gescheiterten historischen Projekts namens Sozialismus, in welchem zwar die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen verkündet ward, aber kein neues Verhältnis zur Arbeit verwirklicht werden konnte. Wenngleich auch die Organisationsform der gesellschaftlichen Arbeit in der SU planwirtschaftlich gewendet wurde, die blinde Herrschaft der Produktionsverhältnisse über die ProduzentInnen blieb ungebrochen. Wenn es überhaupt eine Chance geben sollte, den Entwicklungsgang der SU analytisch zu begreifen, um daraus auch Konsequenzen für die Begründung eines zeitgenössischen Kommunismus zu ziehen, dann muß ins Zentrum einer solchen Untersuchung die Analyse der gesellschaftlichen Arbeit gestellt werden. In diesem Sinne hat Robert Schlosser in der Nr. 56 versucht , das Scheitern des "Realsozialismus" zu skizzieren. Er hat dadurch einen Rahmen für weitere Untersuchungen abgesteckt. Die Interimsredaktion Weiß/Winter hat für solche Überlegungen Raum zur Verfügung gestellt. Eine von Heiner Karuscheit bestimmte Redaktion wird sich dagegen ihre Autoren im Spektrum des Arbeiterbewegungsmarxismus suchen.

Zieht man Bilanz nach 15 Jahrgängen AzD, dann muß man mit Georg Konrad feststellen (AzD 56, S.42), daß es in den letzten Jahren kein ernsthaftes Bemühen gab, die Zeitschrift in die Öffentlichkeit zu bringen. Doch warum sollte man Promotion für eine Zeitschrift betreiben, deren theoretisches Anliegen auf die Perspektive des proletarischen Barrikadenkampfs ausgerichtet ist? Das Scheitern der SU und der anderen sozialistischen Projekte hat nicht nur diese strategische Orientierung grundlegend in Frage gestellt, sondern zudem deutlich gemacht, daß der Kommunismus nur als radikale Alternative zum Kapitalismus dort praktisch werden kann, wo seine objektiven Voraussetzungen im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft bereits herangereift sind. Der Kommunismus als politische Bewegung kann diese Voraussetzungen, die in dem Zustand der gesellschaftlichen Arbeit angezeigt sind, weder durch den Sturm aufs Winterpalais, noch mit Zwang und Terror und schon gar nicht durch volks- und betriebswirtschaftliche Experimente hervorbringen.

In der SU und in den anderen sozialistischen Projekten ging es im Namen des Kommunismus nur um Produktionssteigerung durch Intensivierung von Arbeit. Sozialismus wurde als eine Gesellschaft aufgefaßt, die auf der Stufenleiter einer ständig sich erweiternden Reproduktion voranschreitet und in der die Surplusarbeit nur gerechter als im Kapitalismus verteilt werden sollte ("Die Müßigänger schiebt beiseite!"). Wurden Verringerung von Arbeitszeit, Senkung von Last und Mühen thematisiert, so schienen diese Aspekte ontologisch zur Arbeit zu gehören, die man mindern aber nicht aufheben konnte. Die (bewußte) Gestaltung der gesellschaftlichen (Reproduktions-)Arbeit blieb durch Partei und Staat besondert. Selbständige Gestaltung von Gesellschaft als Ganzes durch vergesellschaftete Individuen wurde gar nicht als gesellschaftlich notwendige Arbeit begriffen, da sie als jenseits von der Surplusarbeit angesiedelt erschien. Dieses historische Konstrukt einer unfertigen Alternative zum Kapitalismus begründete sich nicht durch "Subjektivismus" oder gar durch eine "falsche Linie", auch lag es nicht an einem mangelhaften "proletarischen Standpunkt" oder "kulturellen bzw. zivilisatorischen Defiziten" - also Argumentationsfiguren wie sie von M.Vogt benutzt werden - , sondern war den materiellen Voraussetzungen geschuldet, in denen gesellschaftliche Arbeit vorwiegend nur als unmittelbare Produzententätigkeit daherkommen konnte. So glichen die sowjetischen Fabrikkonzepte dem Fordismus, und Hand- und Kopfarbeit waren wie im Taylorismus sauber voneinander getrennt. Während jedoch im Kapitalismus diese Strukturen im Prozeß der Wertvergesellschaftung und unter dem Druck von sozialen Kämpfen hervorwuchsen, mußten sie in der SU durch blutigen Despotismus von oben erzwungen werden. Während im Westen die Dynamik des Wertgesetzes diese Strukturen zersetzt und das Individuum zur Aneignung der allgemeinen Produktivkraft zwingt, konservierte der sozialistische Partei- und Staatsapparat gewaltsam den Widerspruch zwischen den besonderen und den gemeinschaftlichen Interessen auf der Grundlage einer als naturnotwendig bestimmten Arbeit. Gerade das "faktische Fehlen des Wertverhältnisses bzw. seine ungenügende Entwicklung" (Schlosser) verhinderten objektiv die Aufhebung dieses Widerspruchs, denn dies ist erst durch eine bestimmte Qualität der gesellschaftlichen Arbeit vorausgesetzt. Von ihrem Zustand hängt nämlich ab, ob das Individuum dauerhaft (da zur gesellschaftlichen Reproduktion notwendig) Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse entwickelt, die auf die Gestaltung der Gesellschaft als Ganze gerichtet sind, und wodurch es sich als (vergesellschaftetes) Individuum überhaupt erst konstituiert. Dafür ist es notwendig, daß die gesellschaftliche Arbeit den "Schein bloßer Naturnotwendigkeit abgestreift hat" (Marx).

"Die Arbeit der materiellen Produktion kann diesen Charakter nur erhalten, dadurch daß 1) ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, 2) daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint." (40)

Diese hier (mit all ihren derzeitigen Unzulänglichkeiten) skizzierten Überlegungen für eine kritische Aufarbeitung der niedergegangenen sozialistischen Projekte würde ich gerne in einen kontinuierlich theoretisch arbeitenden Zusammenhang zur weiteren fruchtbaren Vertiefung einbringen wollen. Allein es fehlt mir der Glaube, daß dies mit Vertretern des klassenkampftheoretischen Bonsai-Marxismus je möglich sein wird. Mit ihnen als alleinige Redakteure dürfte die AzD zügig ihrem Ende entgegenschreiten.

Anmerkungen

1) Ich nenne hier nur stellvertretend für die Hauptströmungen folgende Autoren und Werke, Bettelheim, Charles, Die Klassenkämpfe in der UdSSR, Band I, 1917-1923 (der II.Band wurde in Deutschland nicht verlegt), Berlin (West) 1975, Dutschke, Rudi, Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Berlin (West) 1974, Rabehl, Bernd, Max und Lenin, Berlin (West 1973), sowie Hennicke, Peter, Prejobrazenskijs Theorie der "ursprünglichen sozialistischen Akkumulation und die Agrarfrage in Rußland der zwanziger Jahre, in: Schulze, Peter W., Übergangsgesellschaft, Frankfurt/M 1974.

Die drei erstgenannten Autoren versuchen, unter mehr oder minder unfangreicher Bezugnahme auf polit-ökonomisch abgeleitete Bewertungen von Marx und Engels über die asiatische Produktionsweise und den despotischen Zarismus, sowie bezogen auf Lenins polit-ökonomische Analysen der russischen Verhältnisse, sich den Gegenstand mit einer Fülle empirischen Materials zu erschließen. Warum Michael Vogt seine Methode gegen diese Herangehensweise nicht aus dem Gegenstand entwickelt abgrenzt, bleibt unerfindlich und ist auch für seinen Anspruch, herkömmliche "Schattierungen" überwinden zu wollen, kontraproduktiv.

Der letztgenannte Autor , Hennicke, ist mit den anderen dreien nicht zu vergleichen. In vorbildlicher Akribie durchforstet er Kolonnen statistischen Material, das unabhängig von der Tatsache, daß es Vogt über weite Strecken im Bereich des Empirischen widerlegt, aufweist, wie schnellschüssig Vogt bereit ist, statistische Zahlen in seine Thesen zu zwängen. Und wenn dies immer noch nicht hinlangt, ist Vogt sogar bereit, mal eben eigene Zahlenspiele zu betreiben (siehe dazu AzD 56, S. 70).

2) Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür geben seine Ausführungen auf S.59 in AzD 55 ab. Wer für die Entwicklung der Produktivkraft (Industrialisierung) ist, erhält das Prädikat "links". Dies ergibt, kombiniert mit seiner Kulturstufentheorie (dazu siehe weiter hinten): Wer jung (= unreif) ist und zudem nicht körperlich in der Fabrik arbeitet, also dessen Persönlichkeit noch nicht durch Arbeit im Kollektiv geformt ist, ist zwangsläufig anfällig für "linke Abenteuerpolitik". (ebd. S.69) Menschen, deren Vergesellschaftungsgrad der Arbeit der Kulturstufe der Obscina entspricht, neigen zu "Linksradikalität". (AzD 55, S.52)

3) Stalin, Josef, Fragen des Leninismus, Moskau 1947, S.532

4) Stalin, Josef, ebd., S.534

4a) Vgl. dazu folgende Artikel in der Zeitschrift "Internationaler Klassenkampf", hrg. von der Internationalen Vereinigung der Kommunistischen Opposition (IVKO): Die Bedeutung der Stachanoff-Bewegung (2/1936); Randbemerkungen zum Moskauer Prozeß (4/1936); Die neue Sowjetverfassung (1/1937); und vor allem: Zum 18. Parteitag der KPdSU (1/1939) - reprintet 1983 von der Gruppe Arbeiterpolitik, Bremen

5) siehe dazu: westberliner info 17/18, Berlin 1990

6) Hegel, G.W.F., Werke 12, Ffm 1970, S.122

7) Schmitt-Egner, Peter, Wertgesetz und Rassismus, in: Gesellschaft, Beiträge zur Marxschen Theorie 8/9, Hrg. von Backhaus u.a., FFm, 1976, S.385

8) Schmitt-Egner, ebd. S.389

9) siehe dazu : Melber, Henning, Rassismus und eurozentristisches Zivilisationmodell, in: Argument Sonderband 164, Theorien über Rassismus, Hamburg 1989, S.40ff

10) Seibert, Theodor, Das rote Rußland, Staat, Geist und Alltag der Bolschewiki, München 1931, S.17ff

11) AzD 54, S.7

12) Terra, Geographie 7. und 8. Schuljahr, Ausgabe B, Hrg.: Schulze, Arnold, Stuttgart 1985, S.244

13) AzD 55, S.78

14) AzD 55, S.86

15) AzD 55, S.77

16) Balibar, Etienne, Gibt es einen >neuen Rassismus<?, in: Das Argument 175, S.369ff. Die in folgendem von mir entfaltete Argumentation ist stark von Balibars Thesen beeinflußt.

17) AzD 55, S. 105

17a) AzD 56; S.84

18) Speziell die SPD ist Anhängerin der sogenannten Assimilationspraxis, die sie zudem noch mit dem Etikett multikulturell versieht. Die ideologischen Voraussetzungen finden sich in der Geschichte der II. Internationale. Siehe dazu auch Anmerkung 26. Dieses Konzept der "AusländerInnenpolitik" stellt darauf ab, die Kultur von MigrantInnen in der eigenen Kultur verschwinden zu lassen. Die Rechtfertigung für diese Einebnung wird aus der Vorstellung von höheren und niederen Kulturstufen gezogen. Für diese missionarische Leistung haben die Objekte der Assimilation anschließend dankbar zu sein. In der aktuellen Tagespolitik findet das Konzept seine Grenze in der Finanzierbarkeit und im Verlust von WählerInnenstimmen. Gerade der zweite Punkt erscheint der SPD bedrohlich, zumal konsequenterweise vornehmlich Stimmen aus dem ArbeiterInnenmileu und einzelne Funktionäre zu den REP´s und anderen offen rassistisch-nationalistischen Parteien abwandern. Ein besonders abstoßendes Beispiel für eine sogenannte multikurelle aber rassistische Position gibt Daniel Cohn-Bendits Buch "Heimat Babylon", worin er Sinti und Roma deswegen als "asoziale troublemaker" (S.289ff) bezeichnet, weil sie sich angeblich weigern, sich in die BRD-Gesellschaft kulturell zu integrieren, indem sie ihre bisherige Lebensweise aufgeben.

19) siehe dazu: Geiger Klaus F., Gesellschaft ohne Ausländerfeinde und multikulturelle Gesellschaft, in: Sonderband Argument 164, S.135ff)

20) Einen guten Einstieg in die Beschäftigung mit dieser Frage bildet der vom ehemaligen KB herausgegebene Materialienband "Sowjetunion 1921-1939, Hamburg, o.J., vermutlich 1990.

20a) Dieser Vorwurf wird auch nicht durch die sieben Zeilen, die Vogt zu diesem Komplex im 3. Teil dazu vorlegt, widerlegt. Siehe dazu AzD 56, S. 80, 3. Absatz. Absolut daneben ist seine These von der sozialistisch realistischen "Bauernkunst" (was immer dies auch sein mag), die "Ähnlichkeiten mit der Nazikunst aufwies".

21) Vgl. dazu z.B. Vogts Auslassungen zum "Proletkult", AzD 55, S.77f

22) MEW 9, S.96, die Unterstreichungen sind von mir

23) MEW 28, S.268, die Unterstreichungen sind von mir

24) Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin (DDR) 1953, S.156

25) ebd. S.593

26) So betonte Eduard Bernstein in seinem Aufsatz "Der Sozialismus und die Kolonialfrage" im Zusammenhang mit der englischen Kolonialpolitik, habe "... die höhere Kultur gegenüber der niederen stets das größere Recht auf, hat sie gegebenenfalls das geschichtliche Recht, ja, die Pflicht, sich jene zu unterwerfen."(in: Sozialistische Monatshefte, Nr. 4, 1900, S.551) Und der "Klassenkampftheoretiker" Max Schippel führte in seinem Aufsatz "Marxismus und koloniale Eingeborenenfrage" dementsprechend folgerichtig aus, daß die "höhere europäische Produktionsweise" legitimiere, daß die "niedere Wirtschaftsordnung" der Eingeborenen mit dem "Machtmittel" der Enteignung zu beseitigen sei und die daraus entstehenden Konflikte nicht "mit den Augen der Zulukaffer und Indianer" zu bewerten wären.(in: ebd. Nr. 12,1, 1908, S.277)

27) MEW 23, S.528f

28) MEW 23, S.788

29) MEW 22, S.435

30) Bei den Versuchen im Anschluß an die Phase der Jugend- und Studentenbewegung eine Rekonstruktion des Marxismus auf dem Gebiet der Theorie zu Wege zu bringen, spielte die Frage nach dem Kultur- und Zivilisationbegriff bei Marx nur eine marginale Rolle. Die von der Kritischen Theorie aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Naturbeherrschung als Beherrschung von innerer und äußerer Natur wurde nicht, wie hier gefordert, in einen werttheoretischen Zusammenhang gebracht und als Untersuchungsfrage auf Marx selber zurückgespiegelt. Typisch für eine Behandlung dieses Komplexes im Denkzusammenhang der Kritischen Theorie ist Helmut Reichelts Aufsatz "Feuerbach und Marx - Kulturentwicklung als entfremdete Gattungsgeschichte" (in: Naturplan und Verfallskritik, Hrg. Brackert, Wefelmeyer, Ffm 1984). Reichelt beleuchtet Marxens Frühschriften nur retrospektiv zu Feuerbachs Arbeiten und kommt demgemäß zu folgendem Ergebnis: "So bleibt Marx in sublimer Weise an bürgerliche Kultur gebunden. Seine geschichtsphilosophische Negation des Klassencharakters aller Zivilisation reproduziert nicht nur formale Konstruktionselemente Feuerbachschen Denkens, sondern die Verschränkung des dialektischen Wahrheitsbegriffs mit den emphatischen Wertvorstellungen bürgerlicher Subjektivität."(S.246)

31) MEW 22, S. 509f

32) AzD 54, S.48, Unterstreichungen von mir

33) siehe dazu AzD 54, S.5. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, daß z.B. durch die Benutzung von Deutschers Stalinbiografie (Deutscher gehört zum trotzkistischen Spektrum) als Beweismittel eine Verarbeitung auf neuem Niveau stattgefunden habe, indem gleichsam "gegnerische" Positionen zur Meinungsfindung des Autors beitrugen. Tatsache ist aber, daß Deutschers Marxismusverständnis mit Vogts völlig im Einklang steht: "Der Marxismus ist der wissenschaftliche Ausdruck der fundamentalen Interessen der Arbeiterklasse."(Deutscher, Isaac, Stalin, Stuttgart 1962, S.390). Und es folglich für Deutscher keinen anderen Weg des Sozialismus in der SU gab, als den, der unter Stalin begangen wurde: "Der tiefere Grund für Stalins endgültigen Triumph ist darin zu suchen, daß er [...] der Nation ein positives und neues Programm der Gesellschaftsordnung vorweisen konnte." (ebd.S.408) Und auch die DKP stellt ganz im Sinne von Vogt fest: "Auch im historischen Rückblick ist heute schwer zu sagen, wie eine realistische Alternative dazu (zu Stalins Weg zum Sozialismus - d.Verf.) hätte aussehen können."( Stalin bewältigen, Hrg.: Judik, Steinhaus, Düsseldorf 1989, S.24)

34) Ernst Lohoff schreibt in seinem Aufsatz "Das Ende des Proletariats als Anfang der Revolution", in: Krisis Nr. 10, S.76: "Um das Proletariat als revolutionäres Subjekt, und damit die revolutionäre Perspektive, zu retten, fällt Marx mit seinen revolutionstheoretischen Überlegungen genau wie seine Epigonen hinter das von der Kritik der politischen Ökonomie gesetzte Reflexionsniveau zurück." Hierbei übersieht Lohoff schlicht folgendes: 1.Politische Wertungen über Klassenauseinandersetzungen, deren Zeitgenosse Marx selbst war und in denen er versuchte, praktisch zu intervenieren, können - wie Engels (siehe oben) richtig bestimmt - grundsätzlich nicht auf dem "Reflexionsniveau" der Kritik der politischen Ökonomie erfolgen . Insofern geht der Vorwurf ins Leere. 2. Richtig gewendet, wird er zu einem Instrument gegen einen politischen Marxismus, wie Vogt ihn vertritt, wo Deutung mit Analyse gleichgesetzt wird. 3. Unter schematischer Trennung verstehe ich, daß Lohoff nicht der Frage nachgeht, wie sich das "Reflexionsniveau" der Kritik der politischen Ökonomie in aktuelle Bewertungen zu vermitteln hat. Sind reale gesellschaftliche Abläufe als Gegenstand von Untersuchungen dadurch erstmal getrennt, kann man die Identität der Kritik der politischen Ökonomie mit einer materialistischen Gesellschaftstheorie behaupten und die Theoriebildung hat sich - wie IMK und Krisis vorexerziert haben - in der richtigen Exergese des 1. Kapitels des 1.Bandes "Kapitals" erschöpft.

35) In der aktuellen Diskussion über die theoretische Substanz des Marxismus stehen zwei Linen im autistisch geführten Diskurs nebeneinander. Die eine Richtung repräsentiert Vogt, der die Geschichte des Klassenkampfes "neu" schreiben will, um dadurch zur Klassenanalyse zu kommen, die das Programm und die Partei erneut begründet. Die Beschäftigung mit der Kritik der politischen Ökonomie geschieht unvermittelt daneben, wie die AG-Struktur der AzD belegt. Auf der anderen Seite kapriziert sich exemplarisch Robert Kurz als Werttheoretiker und verkennt damit auf seine Weise, daß die analytische Durchdringung der aktuellen bürgerlichen Gesellschaft solange nicht zu leisten ist, wie die Aneignung dieser Wirklichkeit nicht durch die Kritik der zeitgenössischen Ergebnisse der bürgerlichen Wissenschaften hindurchgeht. Beide Positionen scheinen sich auszuschließen und dennoch haben sie eine Sache gemeinsam: Sie stellen ihre Theorie unter das Junktim eines zuvor politisch bestimmten "revolutionären Subjekts". Hier die "Klasse" dort die "Anti-Klasse".

36) Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), Kurzer Lehrgang, Berlin 1945, S.352

37) ebd., S.436

38) in: Neumann, Franz, Demokratischer und autoritärer Staat, Ffm 1967

39) Es mag angesichts der hier entfalteten Kritik an den "Klassenkampftheoretikern" merkwürdig erscheinen, daß ich ihnen auch mein Zeitungskonzept zur Diskussion unterbreitet habe. Doch war ich damals noch von der Hoffnung getragen, daß in einem gemeinsamen Projekt disparater Positionen AzD eine Diskussionbereitschaft aufleben könnte, die der im Sektenwesen dahinvegetierenden Linken ein praktisches Beispiel zur Überwindung der selbstverschuldeten Isolierung gibt.

40) MEW 3; S.30

41) Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin (DDR) 1953, S.505