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Texte zur Kritik  

...als wenn der Hund den Mond anbellt

Zur Kritik an Karl-Heinz Roths "Wiederkehr-Buch" *

von Karl Müller

aus: SPEZIAL, Nr. 99, Hannover, Nov./Dez. 1994, S. 34ff

"Wenn die Proletarier sich als Produzenten durchschauen und gleichwohl nur als Arbeiter sich anerkennen, dann besteht noch Klassenherrschaft fort, Diktatur des Proletariats und nicht deren Selbstaufhebung." Hans-Jürgen Krahl

Anläßlich des "Was-tun-Kongresses" im Sommer 1993 hielt Karl-Heinz Roth, das 68er Urgestein, ein Referat über die "Wiederkehr der Proletarität". Infolgedessen kam es zu einer Reihe von Diskussionen und schriftlichen Stellungnahmen, die Roth im Juli 1994 zu einer "Dokumentation der Debatte" zusammenfaßte und zusammen mit der überarbeiteten und erweiterten Fassung seines Kongreßreferates herausgab. Mit Prädikaten wie "realitätsnahe Beschreibung"(Winfried Wolf), "konkrete Analyse der konkreten Situation" (Marcel van der Linden) oder "diskussionwürdiges Politik- und Strategiekonzept " (Heinz Jung) signalisierten Personen aus dem Lager des sogenannten Arbeiterbewegungsmarxismus ihre prinzipielle Zustimmung zu Roths Ansichten. Angesichts dessen hob Roth in seinem "Wiederkehr-Buch" noch einmal expressis verbis hervor, worum es ihm politisch auf dem "Was-tun-Kongreß" gegangen war: nämlich die "Wiederkehr proletarischer Klassenlagen" weltweit klassenanalytisch aufzuzeigen, um damit einen organisatorischen "Vorschlag" zu begründen, der es ermöglicht, "die Suche nach homogenisierenden und die soziale Subjektivität des Widerstands befördernden Kampfformen from the bottom up aufzunehmen". Dieses Mobilisierungskonzept wurde von Heiner Möller in der Zeitschrift Bahamas grundsätzlich und fundiert zurückgewiesen. Sein Artikel wurde u.a. über die Zeitschrift Ökolinx weiter verbreitet. Aus Gründen der Vollständigkeit mußte daher seine Kritik ebenfalls als ein Dokument der Debatte in Roths Buch aufgenommen werden. Besonders kritisierte Heiner Möller Roths Einschätzung des Rassismus "als Notschrei der Verelendeten" und warnte davor, wie Roth zu meinen, daß der "strukturelle Rassismus" durch "soziale und Besitzstandsforderungen aufhebbar" sei. Bezeichnenderweise deckelte Roth in seiner "Replik" diesen Kritikpunkt einfach mit der unverschämten Behauptung zu, bei Möllers Kritik handele es sich um dessen "zurückprojizierte Elemente der sozialanthropologischen Rassenlehre".

Trotz der zutreffenden Möllerschen Kritik erfuhr Roths Untersuchen-Kämpfen-Organisieren-Konzept in der Linken eine positive Resonanz. Erst unlängst publizierte das "Neue Deutschland" eine wohlwollende Rezension seines "Wiederkehr-Buches", und das Berliner Bündnis Kritischer Gewerkschafter richtete extra einen besonderen Arbeitskreis ein, dessen Aufgabe es sein soll, Roths Konzept aufseine strategische Bedeutsamkeit hin auszuloten. Welches sind die Gründe dieser positiven Resonanz, worin liegt also die Attraktivität des Rothschen Konzepts? Diese Fragen gaben den Anstoß, sich mit Roths Klassenbegriff und Kapitalrezeption thesenartig auseinanderzusetzen.

Geschuldet dem Zeitgeist verabschiedete sich Roth 1970 wie viele seiner APO-Genosslnnen aus den Anfängen einer an der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie orientierten Theoriearbeit, wie sie etwa in den theoretischen Arbeiten von Hans-Jürgen Krahl zum Ausdruck gekommen war (siehe dazu dessen Aufsatzsammlung: Konstitution und Klassenkampf, Ffm 1971 ). Roth wandte sich im organisatorischen Gewand der "Proletarischen Front" der unmittelbaren politischen Praxis zu. Nach seinem heutigen Bekunden war dies ein richtiger Schritt, obgleich die theoretische Fundierung dieser Praxis mittels der Theorieversatzstücke des italienischen Operaismus rein voluntaristisch erfolgte ("Die Theorie haben wir immer nur nachgeliefert.") Selbst heute vermag Karl-Heinz Roth einen prinzipiellen Mangel an diesem Theorie-Praxis-Verhältnis nicht zu entdecken. Gerade indem er einräumt, daß man damals nicht genug "echte empirische Analyse" betrieben hätte, erweist sich Roth immer noch als ein Vertreter der Linie "Untersuchen-Kämpfen-Organisieren", die im Zuge der Transformation der Jugend- und Studentenbewegung in K-Gruppen Ende der 60er Jahre wiederentdeckt wurde. Heraus kam damals eine spekulativ in marxologische Begriftlichkeit gehüllte Sozialforschung als Legitimationskrücke fiir politische Interventionsprojekte. Man denke nur mit Grausen an den Stufenplan Klassenanalyse-Programm-Partei des KBW.

Solchen Mobilisierungskonzepten lag/liegt bekanntlich die Vorstellung zugrunde, daß die Theorie die instrumentalisierte Magd der Praxis sei. Und ganz gleich ob solch ein instrumentalisiertes Theorieverständnis der leninistischen, maoistischen, trotzkistischen, sozialdemokratischen oder operaistischen Traditionslinie entspringt, die gemeinsame Wurzel liegt in einem ontologisch bestimmten Klassenbegriff. Hiernach existiert die proletarische Klasse ihrem Wesen nach zwar "an sich", aber sie kann diesem Sosein entsprechend nur zu einer Klasse "für sich" werden, wenn es zu einem irgendwie gearteten Anstoß von "außen" kommt. Exemplarisch zu nennen wäre hier die von Lukacs in "Geschichte und Klassenbewußtsein" vorgenomme Fehlinterpretation der von Marx hinsichtlich des Zusichkommens des Proletariats gebrauchten Formulierungen. Geschuldet diesem ontologischen Konstrukt hat die empirische Klassenanalyse als Aktionsanalyse die Aufgabe, den Prozeß der revolutionären Bewußtwerdung voranzutreiben. Hierdurch sollen Theorie und Praxis, in einen direkten Vermittlungszusammenhang gestellt, zur Einheit gelangen, wodurch die dem Kapitalismus eigentümliche Scheidung von geistigen und körperlichen Potenzen des Gesamtarbeiters bereits auf kapitalistischer Grundlage aufgehoben werden kann, sofern die proletarische (Selbst-)Organisation dabei als das einzig geeignete Medium herauskommt. So auch die Argumentationsfigur bei Roth zur Ableitung seines wenig orginellen Organisationsvorschlages "proletarische Zirkel" als weltumspannendes, selbstorganisiertes Netz eines ontologisch und empirisch bestimmten revolutionären Subjektes.

Diesem Klassenbegriff entsprechend sind soziale Kämpfe immer Ausdruck des Kampfes "Klasse gegen Klasse" und das mögliche Resultat einer Analyse wird so zu ihrer Voraussetzung. Die Attraktivität dieses Zirkelschlusses liegt in dessen Plausibilität. Soziale Lagen und Alltagshandeln lassen sich nun scheinbar klassenmäßig dechiffrieren und auf jenen inneren Zusammenhang zurückführen, der der politischen Praxis des Klassenkampfes die höhere Bestimmung verleiht. Karl-Heinz Roth buchstabiert diesen Zusammenhang als Homogenisierung der Klasse im politischen Kampf. Die gesamte politische Biografie des Karl-Heinz Roth ist durchgängig von diesem Grundverständnis geprägt (siehe dazu: . . .und es begann die Zeit der Autonomie, Hrg.: Frombeloff, Hamburg 1993). Die Genosslnnen, die in der gleichen Denktradition stehen, spüren dies, spiegeln sich und ihre politische Biografie darin und entdecken ein wiederholtes Mal die Bestätigung ihrer spezifischen Traditionslinie. Daß sie mit Roth deshalb eine redundante Debatte bestreiten, bleibt ihnen freilich verschlossen.

Der Aufbau des Marxschen Kapitals gliedert sich einerseits in die Betrachtung des "Kapitals im allgemeinen" in der Produktion und Zirkulation (Band I und II) und andererseits in den Band III, wo die schrittweise Annäherung an die Formen erfolgt, worin "die Gestaltungen des Kapitals .... auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der verschiedenen Kapitale aufeinander, der Konkurrenz und im gewöhnlichen Bewußtsein der Produktionsagenten selbst auftreten" (MEW, 25, 5.33). Roth muß von solchen Unterschieden bewußt absehen, um die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie als Theoriesteinbruch behandeln zu können. Laut Roth gibt es zwar bewahrenswerte " methodische Kernbestände", aber als "Transformationsprogramm" - sprich als "Revolutionsstrategie" - ist sie unbrauchbar geworden. Seine Umdeutung des Marxschen Kapitals in eine "Revolutionsstrategie" unterstellt unausgesprochen, daß es im Marxschen Kapital zwei erkenntnistheoretisch additive Ebenen, nämlich die "logische" und die "historische", gibt, woraus dann gefolgert wird, daß deren Vermittlung - im Nachhinein betrachtet - nicht gelingt, weil die Geschichte einen anderen Verlauf nahm/nimmt. Zum Beweis dessen kapriziert sich Roths Kapitalkritik, den Gesamtaufbau des Werkes ignorierend, eklektisch am 23. Kapitel im I. Band des Kapitals (Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation). Hierbei muß er geflissentlich übersehen, daß es Marx vor allem im I. Band des Kapitals immer nur um die Darstellung der realen Verhältnisse ging, soweit sie ihrem Begriff entsprachen. Dies dürfte spätestens seit dem Erscheinen von Roman Rosdolkys Buch "Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen >Kapital< " im Jahre 1968 und der daran anknüpfenden, bis heute Buchregale füllenden Debatte außer Zweifel stehen. Anders bei Karl-Heinz Roth. Er historisiert zur Stützung seiner Behauptungen das empirische Material des I. Bandes, obgleich völlig klar ist, daß es Marx lediglich dazu diente, das Verhältnis von Wesen und Erscheinung in seiner spezifischen Formung auf der Oberfläche des Gesamtprozesses deutlich werden zu lassen, "wo der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöscht, sondern auch in sein Gegenteil verkehrt"(Marx) ist; was einen für die Darstellung des "Kapitals im allgemeinen" sachlich notwendigen Vorgriff auf die spätere Behandlung der Bewegung des Kapitals in der Konkurrenz darstellt. Dem sogenannten Arbeiterbewegungsmarxismus der II. und III. Internationale war die Historisierung des Marxschen Kapitals eigentümlich, wo der Unterschied zwischen dem "Kapital im allgemeinen" und den "besonderen reellen Kapitalien" übersehen und solche oder ähnliche Passagen im Marxschen Kapital als Realanalyse bzw. abstrahierende Nachzeichnung der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus mißverstanden wurden. Roths Lesart läßt sich ideengeschichtlich genau dort einordnen. Die Zustimmung derer, die sich heute nachwievor mit diesem Arbeiterbewegungsmarxismus identifizieren, ist ihm gewiß.

Anstatt wie Marx im ersten Vorwort zum ersten Band des Kapitals ausdrücklich hervorhob, "die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als naturgeschichtlichen Prozeß" aufzufassen, personifiziert Roth ökonomische Kategorien ("Akkumulationsregime"). Das führt z. B. dazu, daß er Lean Production nur als "arbeitsorganisatorische Unterwerfungsmaßnahme" begreifen kann oder anders ausgedrückt: Für Roth erscheinen Handlungen der Träger des Klassenverhältnisses auf der Kapitalseite immer als bewußter Vollzug kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten - was ein ausgemachter Schmarren ist. Ökonomische Kategorien der Kapitalanalyse, wie der "relative Mehrwert", können gar nicht in die Zwecksetzung der kapitalistischer Manager eingehen, sondern was sie umtreibt, ist der Kostpreis, worin der Zusammenhang zwischen Mehrwert und Profit bereits ausgelöscht erscheint. Die Verdinglichung persönlicher Beziehungen zu Sachbeziehungen vermittelst des Geldfetisch formt nicht nur die Handlungen auf der Kapitalseite, sondern gerade auch die Handlungen und Motive auf der Seite der Lohnarbeit. Während fiir das Klassenindividuum im unmittelbaren Produktionprozeß die Spuren der Aneignung der Mehrarbeit noch nicht vollends verdunkelt sind, gleichsam durch die betriebliche Kommandostruktur hindurchscheinen, sind die Zwänge, denen das Individuum als Marktindividuum unterworfen ist, in keiner Weise aus dem Ausbeutungszusammenhang direkt abzuleiten und werden so weder erlebt noch verarbeitet. In Verlängerung der Eindimensionalität personifizierter ökonomischer Kategorien setzt die Rothsche Aufhebungsstrategie folglich nicht an den Wert-Ware-Geld-Beziehungen und dem Staat an, sondern verkürzt sich als Kampf entlang der Lohnarbeitsbeziehungen. Sein daran anschließendes "Sozialismussystem" zeichnet sich daher nur durch einen Wechsel in den Eigentumstiteln an den Produktionsmitteln zum Zwecke der "Befriedigung basisdemokratisch ermittelter gesellschaßlicher Bedürfnisse" aus. Kautzky läßt grüßen!

Historisierung der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie und Personifizierung der ökonomischen Kategorien bilden gleichsam die erkenntnistheoretische Voraussetzung fi.ir das voluntaristische Rothsche Mobilisierungskonzept "Klasse gegen Klasse". Mag Roth im Rahmen seiner empirischen Bemühungen für sich sogar reklamieren, dabei einen neuen Arbeitertypus ("selbständiger Arbeiter") entdeckt zu haben, die Analyse der kapitalistischen Entwicklung erschöpft sich eben nicht in empirischer Faktenhuberei. Indem Roth eine empirisch bestimmbare Klassenlage zum Dreh- und Angelpunkt der Verortung des revolutionären Subjekts macht, entkoppelt er das politische Handeln nicht etwa aus dem bewußlosen Vergesellschaftungsprozeß, sondern perpetuiert es nur. Eine Klassenanalyse, die ihren Klassenbegriff nur mittels empirischer Klassenlagen füllt, kann den gegenwärtig ablaufenden Prozeß der "Reduzierung des Klassengegensatzes von Lohnarbeit und Kapital auf seine abstraktesten Bestimmungen" (Robert Schlosser) nicht mehr fassen und läuft wie Roth Gefahr, nur Konzepte zu reformulieren, die aus den Arsenalen des niedergegangenen Arbeiterbewegungsmarxismus stammen (siehe dazu bei Roth die direkte Bezugnahme auf Wobblies und Operaisten). Heiner Möller hat zu Recht das Rothsche "Revival der sozialrevolutionären Massenromantik" zurückgewiesen und stattdessen gefordert, daß die Linke heute erstmal "Klarheit über das braucht, was Kapitalismus ist". Dazu bedarf es m. E. jedoch der eigenständigen Wiederaneignung der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie, weil ohne diese die Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft aus der Kritik der Verhältnisse selbst nicht abzuleiten ist. Mögen Roth und Co. Weiterhin ihre "offenen" Sozialismusmodelle entwerfen, an den dafiir scheinbar notwendigen organisatorischen Voraussetzungen basteln, Klassenkräfte zählen und politische Sekten draufsatteln (Wildcat als hiesige Dependance eines weltweiten proletarischen Netzes), die praktische Wirkung davon wird in etwa die gleiche sein, als wenn der Hund den Mond anbellt.

*) Roth, Karl-Heinz, Die Wiederkehr der Proletarität, Dokumentation einer Debatte, Neuer ISP Verlag, Köln, Juli 1994