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the best of

BAHAMAS Nr. 22

Horst Pankow

Toten-Tango mit Rosa, Karl und Evita

Gedenken als höchstes Stadium der Gedankenlosigkeit

"Ein Ort des Bekenntnisses war die Gedenkstätte der Sozialisten schon immer. In DDR-Zeiten auch des unfreiwilligen Bekenntnisses zum eigenen Opportunismus. Nicht immer, aber häufig. Wer heute kommt, tut es freiwillig." Neues Deutschland 13.1.1997

Die Erinnerung an Vergangenes und an Verstorbene ist eine sehr subjektive Angelegenheit. Stellt sie für die unmittelbar an Ereignissen und Schicksalen beteiligt Gewesenen, für die mit den Toten in unmittelbarem Kontakt Gestandenen möglicherweise eine direkte Reproduktion der Vergangenheit dar, so kann sich der um Rekonstruktion des Geschehenen bemühte Dritte nicht ohne weiteres auf sie verlassen. Weiß er doch um die Existenz der manigfaltigen Bedürfnisse und Interessen, die, meistens uneingestanden und unbewußt, dem Blick zurück seine höchst eigene Richtung weisen. Dies gilt sowohl für die individuelle wie für die kollektive Erinnerung. Erinnerungen sind vor allem Dokumente der Lebenden über ihr eigenes Leben. Um so mehr gilt dies, wenn die Erinnerung Ereignisse und Existenzen aus vergangenen, vor- und vorvorvergangenen Generationen betrifft - wenn also die Erinnerung schon lange im Zustand der manifesten Mythologisierung verharrt oder auf der Basis dieses Zustandes erst aktiviert wird.

Als Zeugnisse eigener Existenz der Erinnernden können gerade kollektive Erinnerungen behilflich sein, Aufschlüsse über den nationalen Sozialcharakter der Erinnernden zu ermöglichen. Zu diesem Zweck liefert beispielsweise Die Zeit in ihrer Beilage vom 10.1.97 eine wichtige Information aus Argentinien, die ungewöhnlich konkrete Erinnerung gewöhnlicher Menschen an Evita Perón betreffend. "Ihre [Evitas] Schreibunterlage war berühmt, weil sie 50-Peso-Scheine darunter hervorzog und den Bittstellern in die Hand drückte." Obwohl sich heute nur noch mit Mühe der Tauschwert von 50 argentinischen Pesos der damaligen Zeit ermitteln läßt, fällt doch der materielle Gehalt dieser Unterklassen-Erinnerung auf: Das Idol realisiert einen zwar bescheidenen, jedoch realen Nutzen für zu ihm vordringende Glückliche. Mit der Erinnerung der Deutschen an Rosa Luxemburg - und diese Analogie ist nur fast so willkürlich wie der Inhalt von Erinnerungen - scheint es da völlig anders bestellt. Hier gedenkt man nicht der Wohltaten, die man selbst oder irgend welche Vorgänger von der einst noch Lebenden empfing, man schreitet nicht zum wiederholten Mal über die ausgetretenen Flure des Gedächtnisses hin zum gelungenen Moment, da man ausnahmsweise nicht der ewige Verlierer war, sondern als Auserwählter der Aura des kollektiven Idols teilhaftig wurde und obendrein noch einen Wochenlohn ohne Arbeit in die Hand gedrückt bekam. Wer in Deutschland Rosa Luxemburgs gedenkt, der verliert sich nicht in den Tiefen einer verklärten Vergangenheit, der träumt vorwärts von Kampf, Entbehrung und Verzicht in der Zukunft. In Deutschland gilt: "Die Toten mahnen uns."

Rache für Rosa?

Doch halt, geht das nicht zu weit? Schließlich handelt es sich bei Rosa Luxemburg ebenso wie bei Karl Liebknecht und vielen anderen, derer gedacht werden soll, um ermordete Revolutionäre; es sind also offene Rechnungen aus der Vergangenheit noch zu begleichen. Schließlich handelt es sich bei ihnen auch um tatsächlich vorbildliche Revolutionäre. Wurden sie nicht ermordet, weil sie den Bruch mit Sozialdemokratie und deutscher Nation vollzogen (1), die Arbeiter als Klasse wieder in ihr revolutionäres Recht einsetzen wollten? Sind nicht vielleicht die januartrüben Friedhofsgänge, von denen hier die Rede ist, legitime Versuche, etwa im Sinne Walter Benjamins, sowohl den Haß wie den Opferwillen der Arbeiterklasse "als die rächende Klasse" neu zu entfachen? Wenn Benjamin wußte, daß beide großen Affekte "sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel [nähren]", warum sollten nicht auch die Initiatoren der Gedenkveranstaltungen sich diese Erkenntnis zueigen gemacht haben? Ja, aber warum müssen die Toten dann mahnen?

In der bürgerlichen Gesellschaft werden säumigen Schuldnern von ungeduldigen Gläubigern Mahnungen zugestellt. Undisziplinierte in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen werden von zahlreichen dazu Berufenen zur Disziplin gemahnt, Schwache werden zum Durchhalten, Faule zum Arbeiten und Zweifelnde zum Glauben gemahnt. Die umfangreichste und wirkungsvollste Mahnung stellt gewiß das Strafgesetzbuch dar. In epischer Breite mahnt es die Bürger zur Vermeidung der in ihm als Delikte beschriebenen Handlungen. Ihre Wirksamkeit gewinnt diese Mahnung allerdings daraus, daß seine Verfasser vermittels der von ihnen angedrohten und praktizierten Strafen sicher sein können, daß es nicht bei mahnenden Worten bleibt, das Angemahnte also von den Gemahnten auch aktiv in konkretes Handeln umgesetzt wird. Der Staat garantiert durch seine Gewalt die Einhaltung von Verträgen und Gesetzen; seinen Bürger erscheint diese Einhaltung als Tugend, zu der sie eigentlich nicht gezwungen, sondern durch den Geist der Gesetze inspiriert, gemahnt werden brauchten. Die Affirmation eines vorgefundenen, die eigenen unmittelbaren Interessen (2) tangierenden Gewaltverhältnisses als tugendhafte Einrichtung kann als idealtypisches Beispiel für das Wirken von Ideologie im Sinne von notwendig falschem Bewußtsein gelten. Es ist falsches Bewußtsein aus Notwendigkeit, weil es mit seinen eigenen Mitteln nicht in der Lage ist, sich selbst zu begreifen und deshalb Vorgefundenes immer nur nach Maßgabe einer unterstellten Funktionalität beurteilen kann.

Eine Mahnung ist also kein Mittel argumentativer Überredung. Ihre Überzeugungskraft gewinnt sie aus dem in der Kommunikation von Mahnern und Gemahnten stets anwesenden gewalttätigen Potential der Mahner. Wenn Tote mahnen, bedienen sie sich in der Regel des schlechten Gewissens, des Eindrucks von schuldhaften Versäumnissen und eigener Unzulänglichkeit seitens der Gemahnten. Weil Tote aber tot sind, bedürfen sie für ihre Mahnungen der stützenden Arme Lebender; solchermaßen geführt, leisten sie dann als Gespenster nützliche Dienste. Wohl jeder Staat verfügt über ganze Abteilungen dieser dienstbaren Schattenwesen, erlauben sie ihm doch, auf die ständige Auszahlung von 50 Pesos Handgeld für dokumentierte Gefolgschaft zugunsten eines ideellen Lohnes zu verzichten. Evita Peróns schlechter Ruf als Verschwenderin in der Galerie großer Staatslenker rührt auch aus ihrer plebejischen Unfähigkeit, subtilere Formen staatsbürgerlicher Loyalität als solche auf der Grundlage des schnöden Mammons zu ersinnen. Was allerdings nicht heißen soll, die Einführung eines argentinischen Totenkultes, also die inszenatorische Vorwegnahme des durch kollektive automatische Verklärung bewirkten Schicksals ihrer eigenen Leiche hätte daran etwas geändert. Im Gegenteil: Das Ausmaß der souveränen Fähigkeit eines Staates, seine Bürger zum staatsbürgerlichen Funktionieren anzuhalten, bemißt sich daran, wieweit er dafür mit einem möglichst geringen Einsatz seines Arsenals an materiellen und immateriellen Strafen und Belohnungen auskommt. Staatliche Mahnung, Strafe und Belohnung verweisen auf Disfunktionalitäten in der gesellschaftlichen Organisation eines Staatswesens. Ihr Einsatz bringt Differenzen zwischen der Gemeinschaft der miteinander konkurrierenden Bürger und dem die konsequente Wahrnehmung dieser Interessen beschneidenden gemeinschaftlichen Projekt des Souveräns zum Ausdruck und soll sie zugleich eindämmen.

Bürger und Moral

Die Differenz zwischen den egoistischen Interessen der durch den Warentausch konstituierten Subjekte und dem vom Staat definierten Gemeinwohl, welches - nur scheinbar paradoxerweise - von ihnen als einzig möglicher Austragungsort ihrer Konkurrenz gewollt werden muß, erschafft quasi selbstläufig, neben den Apparaten von Politik, Jurisprudenz und Exekutive, ein moralisches System der Beurteilung staatsbürgerlichen Handelns. Je entwickelter die Mechanismen von Warenproduktion und -zirkulation mit der Selbstverständlichkeit sogenannter Naturkräfte sich entfalten, umso selbstverständlicher entfaltet sich eine gesellschaftliche Moral, die unwillkürlich das durch Zwang bewirkte Los zur Tugend verklärt. Diese Moral ist unter den Bedingungen des in der Demokratie idealerweise entfalteten Marktes immer eine grundsätzlich affirmative. Sie verklärt Produktivität und reibungsloses Funktionieren, sie verachtet alles nicht unmittelbar Produktive und mißgönnt den "faulen" Arbeitslosen ebenso ihre Armut wie einer "korrupten" Elite ihren Luxus.

Umgekehrt gilt: Je mehr eine warenproduzierende und -tauschende Gesellschaft von personaler oder sonstwie unmittelbar identifizierbarer Herrschaft geprägt ist, umso mehr widmet sich die moralisch negative Beurteilung dem Herrschaftspersonal, seinen Institutionen und Mitteln selbst. Auch hier werden Produktivität und Mitmachen verklärt, doch wird hier der Grund für den unzureichenden Erfolg der Konkurrierenden in der Organisation der Gesellschaft durch den Staat gesehen. In solchen Gesellschaften findet sich die Herrschaft vor die niemals endende Aufgabe gestellt, gegen die negative moralische Bewertung von unten, selbst willkürlich eine positive Gemeinschaftsmoral zu kreieren und auch materiell durch Mahnung, Strafe und Belohnung erkennbarer durchzusetzen, als dies unter den Bedingungen vollständig entfalteter Wertverwertung erforderlich ist. Hier kommt es dann zu Situationen, in denen manche Bürger, wie im Eingangszitat beschrieben, "unfreiwillige Bekenntnisse zum eigenen Opportunismus" ablegen. Womit wir in der untergegangenen DDR angelangt wären.

Nicht nur an den Gräbern von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg heißt es: "Die Toten mahnen uns." Auch an den zahlreichen antifaschistischen Gedenkstätten war diese Losung präsent, in Schriften, Reden, vielen politischen Zeugnissen der bildenden und darstellenden Kunst in der DDR wurde sie wiederholt. Gemeint waren Tote, deren gewaltsamer Tod auf das Konto derjenigen deutschen Herrschaftstradition geht, zu der sich die DDR in schärfster Opposition begriff. Wenn es heute an der zentralen Kranzabwurfstelle der BRD-Regierung, der sog. "Neuen Wache" in Ostberlin heißt: "Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft ...", so konnte man an der gleichen Stelle zu DDR-Zeiten lesen: "Den Opfern von Militarismus und Faschismus". Der deutsche Siegerstaat verzichtet auf eine klare Benennung der Toten und ihrer Todesursachen. Daß er sich damit die Freiheit genommen hat, diejenigen Nazi-Mörder, die verdienterweise im Krieg umkamen oder danach von der "Gewaltherrschaft" der Sieger hingerichtet wurden, in sein Opfer-Klientel aufzunehmen, ist eine Sache. Eine andere Sache ist es, daß sich gerade in der platten Allgemeinheit von "Krieg" und in dem dummen Pleonasmus "Gewaltherrschaft" ein durchsetzungsfähigerer Anspruch an die Welt ausdrückt, als ihn die DDR jemals zu formulieren wagte (3). Kriege werden ja nicht nur immer von den jeweils anderen verschuldet, sie sind auch in der Tat der nationalen Reichtumsvermehrung nur mittelbar dienlich und bergen die Gefahr, im Falle eines ungünstigen Verlaufs den Nationalreichtum zu schmälern. Deutschland wurde in diesem Jahrhundert bekanntlich zweimal "Opfer" einer diesbezüglichen Fehlkalkulation. Wenn Kriege schließlich doch - und dann selbstverständlich mit kollektiver Begeisterung - geführt werden müssen, dann, weil die Verbreitung des deutschen Konzepts der Wertverwertung an die nationalen Grenzen anderer Konzepte stößt. Diese Grenzen verkörpern dann die Gewalt, deren Herrschaft es zu brechen gilt. Sie verkörpern eine Herrschaft, die nicht aus der fraglosen Einsicht in die Notwendigkeit von Kaufen und Verkaufen entspringt, wie sie der das Gemeinwohl stiftende Staat auf seine höchst originelle Weise organisiert. Solche Grenzen sind die letztendliche Ursache dafür, daß bürgerliche Staaten die gewöhnliche Wertverwertung zugunsten einer risikoreicheren Option unterbrechen. Weil der Zweck solchermaßen geführter Kriege immer in der Sicherung und Ausbreitung des eigenen Konzepts der Wertverwertung besteht, welches ja auch für alle anderen ein Segen wäre, wenn sie es nur einsähen, sind sie eigentlich gigantische Friedensmissionen und werden auch zunehmend so genannt; wirkliche Kriege führen nur die anderen.

Das bessere Deutschland

Gegen den imperialistischen Anspruch der Huldigung der "Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" hatte das in der DDR gepflegte Andenken an die "Opfer von Militarismus und Faschismus" keine Chance. In der Besonderheit der geehrten Opfer sollte der besondere Gegner der DDR ausgedrückt werden. In dessen militaristischen und faschistischen Charaktereigenschaften sollten schließlich die besonderen Züge des DDR-Sozialismus spiegelbildlich aufscheinen. Das, was die Termini Faschismus und Militarismus phänomenologisch ausdrückten, wurde analytisch nicht dem Wirken von Markt und bürgerlicher Staatlichkeit zugeschlagen, es wurde abgespalten und personalisiert, identifizierbaren Gruppen der kapitalistischen Gesellschaft, wie beispielsweise Finanzkapital und militärisch-industriellem Komplex angerechnet (4). Die DDR verstand sich lange Zeit ausdrücklich als der bessere Teil einer auch nach staatlicher Aufteilung in einem metaphysischen Sinne weiterexistierenden deutschen Nation. Als dieser bessere Teil der Nation inszenierte sie ihre sozial(istisch)e Marktwirtschaft mit allen dazugehörigen Institutionen und Charaktermasken. Der realsozialistische Glaube, Kapitalverwertung als ein menschenfreundliches Unternehmen im Interesse der traditionellen Unterklassen aufziehen zu können, brachte nicht nur die Kapitalverwertung selbst ins Stocken, er mußte auch bei den sozialistischen Untertanen grundsätzliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Veranstaltung hervorrufen. Zu alltäglicher Lohnarbeit, Konkurrenz und Geldwirtschaft angehalten, sollten sie diese nicht oder nur eingeschränkt als Mittel eigener Bereicherung auf Kosten ihrer Konkurrenten nutzen, sondern sich solidarisch in den Dienst der philantropisch gemeinten Projekte der Staatspartei stellen. Dies konnte von ihnen auf Dauer nur als gewaltsamer Eingriff in die selbstverständlich gegebene "Wirklichkeit" eines naturhaft begriffenen Wirtschaftsprozesses erscheinen. Daß Arbeit sich nicht lohnt, bemerkten postfaschistische deutsche Werktätige groteskerweise erstmals, als der Versuch unternommen wurde, diese Arbeit zu ihrem Nutzen zu organisieren (4a). Als Kompensation des fehlenden materiellen Anreizes bot die DDR eine Anzahl ideeler Belohnungen auf. Nicht nur die Arbeiterklasse und die Werktätigen in ihrer Allgemeinheit sowie die Verdienste einzelner Vorbilder für das Ganze wurden permanent öffentlich lobend beurteilt, auch Tradition und Geschichte kamen wie in jedem gewöhnlichen Staat zu allgemeinen Ehren. Und damit auch die Toten.

Die Geschichte des deutschen Parteisozialismus und -kommunismus ist für diesen Zweck allerdings ein recht undankbares Objekt. Außer einer Reihe von erbärmlichen Fehlschlägen, Niederlagen und Kapitulationen hat sie wenig Spektakuläres vorzuweisen. Dafür aber jede Menge Opfer. Opfer, die auf das Konto des deutschen Staates gehen, der komplementär zur Befangenheit und Verzagtheit seiner Gegner diese mit um so größerer Unnachgiebigkeit und Brutalität auszulöschen trachtete, Opfer eines Staates, dessen Gewalt sich nicht mit der Vernichtung seiner erklärten politischen Feinde zufriedengab. Obwohl der deutsche Antifaschismus über die pathetische Deklaration eines banalen "Nie wieder ..." kaum hinauskam, beanspruchte die DDR, "Lehren aus der deutschen Geschichte" gezogen zu haben. Diese "Lehren" beinhalteten außer jenem "Nie wieder ..." und gelegentlichen Elementen und Variationen der Dimitroffschen Faschismusdefinition (5) vor allem die Bekräftigung der eigenen Existenzberechtigung. "Die Toten mahnen uns" hieß in diesem Zusammenhang: Ohne unseren Staat DDR geht die bekannte deutsche Schlächterei wieder in eine neue Runde. Was ja auch nicht ganz falsch war.

Die Nation denkt anders

Doch für die DDR-Bürger, die endlich konkret das realisieren wollten, was ihnen ihre sozial(istisch)e Marktwirtschaft versprochen, allerdings nur bescheiden in Ansätzen eingelöst hatte - schrankenloser Konsum fürs reine Dabeisein und Mitmachen -, mußte der nicht ganz unwahre Gehalt der Totenmahnung wie eine großangelegte moralische Erpressung erscheinen. Das war sie schließlich auch, und bürgerliche Subjekte, die zu den ihnen vermeintlich zustehenden Rechten gelangen wollen, lassen sich durch das daraus entstehende Ungemach von nicht zum nationalen Kollektiv Gehörenden wenig abschrecken. Die andere Seite der moralischen Erpressung, die von der DDR als dem besseren deutschen Staat stets mitgeliefert wurde, der deutsche Imperialismus habe mit den Konsequenzen seiner Politik immer auch Leid und Elend für die Deutschen selbst gebracht, schien ihnen durch den praktischen Erfolg der imperialistischen BRD widerlegt. Eine solche Situation mußte das Auftreten "Andersdenkender" geradezu provozieren.

Als 1988 auf der vorletzten Liebknecht-Luxemburg-Ehrung der DDR Donald und Vera Wollenberger (heute Lengsfeld) gemeinsam mit Gesinnungsgenossen ihr, inzwischen zu einer Reliquie der neueren deutschen Geschichte mutiertes, Transparent "Freiheit ist immer[!] die Freiheit der Andersdenkenden. Rosa Luxemburg" entrollten, signalisierte dies in der Tat den Anfang vom Ende der DDR. Die Begriffslosigkeit des Slogans (6) - Freiheit wovon und wozu, was ist der Inhalt des Denkens der einen und der anderen? - verdeutlicht den maßlosen Anspruch bürgerlicher Subjekte, deren Subjektivität von dem denkwürdigen Schicksal gezeichnet ist, sich unter paradoxen Bedingungen entwickelt zu haben. Einerseits legte die DDR Wert darauf, vermittels ihrer inszenierten Marktwirtschaft, ihres "sozialistischen Wettbewerbs", ihres bürgerlich-humanistischen Bildungsideals von der "allseits entwickelten Persönlichkeit" gerade jene Gestalten hervorzubringen, die sich einbilden, das Geld, das andere vom Genuß der Dinge aus- und sie selbst mit ihnen kurzschließt, sei direkter Ausfluß ihres unverwechselbaren Geistes. Andererseits sollten die konkreten Formen des Genusses wiederum nach Maßgabe sozialer Prämissen, in einem historisch und klassenmäßig definierten Rahmen verlaufen. Die Auflösung dieses Dilemmas bestand mit Zwangsläufigkeit sowohl für die in den Westmedien exponierte DDR-Opposition wie bald auch für die Masse der Untertanen in der Forderung nach einem originären Markt, einem originären Staat, mithin Groß-Deutschland. Die in der Begriffslosigkeit der Oppositionsforderungen zutage tretende Maßlosigkeit fand ihr staatliches Pendant in den territorialen Ansprüchen der BRD.

Mit der DDR ist auch ihr spezieller Totenkult gestorben. Wenn heute behauptet wird, die alljanuarlichen Friedhofsbegängnisse führten die nur vermeintlich untergegangene Tradition weiter (7), ist das eine groteske Verkennung. Mit der Einverleibung der DDR durch die BRD wurden die DDR-Bürger zu Ossis, d. h. zu sowohl gleichberechtigten Deutschen, die wie alle von der deutschen Staatsgewalt mit Pässen Ausgestatteten, ihre Waren, in der Regel ihre Arbeitskraft, zum Markt tragen dürfen als auch zu besonderen Deutschen, die ihre Tauglichkeit gegenüber den ungefesselten Verwertungsmechanismen des Marktes oft noch durch speziellen mentalen Nachhilfeunterricht entwickeln und festigen müssen. Der Ossi ist eine Zwischenstufe in der Metamorphose vom "gelernten DDR-Bürger" zum mit allen nationalen und demokratischen Wassern gewaschenen "mündigen Bürger" made in Germany. Für viele Ossis stellt sich der Prozeß dieser Metamorphose als ein unerträglich langwieriger dar (8). Dem liegt hauptsächlich der von den oben beschriebenen speziellen DDR-Anstrengungen verschuldete Eindruck zugrunde, eine Ökonomie von Ware und Geld habe sich an den materiellen Ansprüchen der den Reichtum durch Arbeit Produzierenden zu orientieren. Der unter diesem Eindruck von den Ossis entwickelte Irrtum, im endlich vereinigten Deutschland müsse ihr Deutsch-sein und ihre demokratische Akklamation ähnlich durch soziale Absicherung vergolten werden wie einstmals ihre Existenz als Werktätige in der DDR, wird regelmäßig auf schmerzhafte Weise korrigiert. Schmerzlindernd wirkt dann die wie ein automatischer Reflex auftretende "DDR-Nostalgie", ähnlich der kolportierten Verklärung Evita Peróns durch vom Neoliberalismus gebeutelte Argentinier. Kaum ein Nostalgiker will aber die traumhaft idealisierte Situation konkret verwirklichen, in der Regel dient sie ihm als Referenz für Aktivitäten in einem akzeptierten Diesseits.

Die Ehre der Ossis

"DDR-Nostalgie" findet ihren staatsbürgerlich produktiven Ausdruck in der "DDR-Identität". Mit ihr ausgestattet, formuliert der Ossi den selbstbewußten Anspruch, als ein Besonderer ins deutsche Nationalkollektiv eingehen zu dürfen. "Sie haben uns alles genommen, doch unsere Ehre wird uns niemand nehmen können", verkündeten verarmte italienische Kleinbauern im 19. Jahrhundert, bevor sie den Kampf gegen eine ungerechte Herrschaft als Sozialrebellen aufnahmen oder nach Amerika auswanderten. Lange Zeit nach ihrem sang- und klanglosen Verschwinden fanden ihre Schicksale dann als folkloristische Farbtupfer Aufnahme in die nationale Mythologie. Am Ende des 20. Jahrhunderts heißt die Ehre der Ossis Identität, und statt Waffen und Auswandererschiffen stehen ihnen Stimmzettel und die PDS zur Verfügung. Die selbstgewählte Aufgabe der PDS besteht primär in der Kompensation des Unvermögens der traditionellen BRD-Parteien, über den nationalen Taumel von 89/90 hinaus in der Zone (9) fraglos akzeptiert zu werden. Wie einst ihre Vorgängerpartei schreibt die PDS ihrer Klientel eine "historische Mission" zu. Diesmal besteht das Endziel jedoch nicht in einer klassenlosen Gesellschaft, sondern in einem homogenen Deutschland. Nun muß "die Einheit wirklich vollzogen" und die "Mauer in den Köpfen" abgetragen werden. Und dieses Ziel soll möglichst bald erreicht, nicht wie in der DDR in eine immer fernere Zukunft vertagt werden. Damit durch das Erreichen dieses Ziels die Partei aber nicht selbst überflüssig wird, ist sie vorerst darauf angewiesen, ihre Integrationsförderung so zu gestalten, daß "DDR-Identität" zwar einerseits als Farbtupfer in der allgemeinen deutschen Nationalmythologie sich bescheidet, doch andererseits dies so selbstbewußt vollbringt, daß auch längerfristig noch identifizierbare Haufen von Anhängern und Wählern der Partei ein Gewicht auf der politischen Bühne sichern.

Für das Gelingen einer solchen Gratwanderung sind Manifestationen kollektiver Identität ein geeignetes Mittel. Das Luxemburg-Liebknecht-Friedhofsspektakel verdeutlicht dies auf beispielhafte Weise. Von jeglichem politischen Inhalt gesäubert, der auf die Ambitionen der ikonisierten Toten verweisen könnte, erinnert es doch an die DDR, während Veranstalter und Statisten längst auch geistig der BRD schon ziemlich nahe gekommen sind. Nicht mehr DDR-Bürger, sondern Ossis als Deutsche versammeln sich. Nicht mehr ein "unfreiwilliges Bekenntnis zum eigenen Opportunismus" wird hier abgelegt, sondern ein höchst freiwilliges und selbstbewußtes Zeugnis staatsbürgerlicher Subalternität. Man will nichts anderes als ein Teil der nationalen Hefe sein. Einen Eindruck vom pluralistischen Gären der Osthefe vermittelt eine Impression des Neuen Deutschland: "Man trifft Leute von früher. ,Ein Kollege', erklärt einer seiner Frau. ,Aus unserem ersten Leben', ergänzt der grinsend. Stätte der Begegnung im wahrsten Wortsinn. ,Früher war das eine Pflichtübung, wenn man gesehen worden war, konnte man sich wieder verdrücken', so der Kommentar in einer losen Runde am Rande des Mahnmals, die ihre Nelken schon abgelegt hat. ,Wir Elektroköhler haben uns nie zu was zwingen lassen', so ein unwirscher Einwurf. Jeder denkt halt anders." (10) Alle sind jetzt Andersdenkende, weil alle jetzt richtige Deutsche sein dürfen, Ossis sind besonders anders Denkende, weil sie noch besondere Deutsche sein müssen.

Das vereinigte Deutschland ist zur Heimstätte der Andersdenkenden dieser Welt geworden, Berlin zur Hauptstadt der Andersdenken. Wer ein Andersdenkender ist, das bestimmen die Andersdenkenden selbst. Der Gesinnungsgenosse und Parteifreund der in die deutsche Geschichte eingegangenen Andersdenkenden Vera Wollenberger, der Bundeswehrgeneral a. D. und derzeitige Berliner Innensenator Jörg Schönbohm verdeutlicht das so: "Berlin ist nicht Hauptstadt der Wehrdienstverweigerer, nicht Hauptstadt der Wagenburgen, nicht Hauptstadt der Hausbesetzer, Berlin ist Hauptstadt der Deutschen." (11) Die PDS würde dazu vielleicht bemerken, auch die vom General Exterritorialisierten seien schließlich Deutsche, so deutsch und andersdenkend wie ihre Elektroköhler. Wahrscheinlich würde sie dieses Dissidententum sogar so lange aufrechterhalten, bis die Last der demokratischen Verantwortung den uverwüstlichen Realitätsinn dieser Partei eines anderen belehrt. Bis dahin gilt allerdings noch: "Veränderung beginnt mit Opposition."

Straße frei ...

Ein grundsätzlicheres und temporär langfristigeres Oppositionsverständnis haben sich dagegen diejenigen bewahrt, die alljanuarlich mit wachsender Teilnehmerzahl das "stille Gedenken" (ND) der DDR-Identität für machtvolle Manifestationen ihres ungebrochenen Glaubens an die revolutionäre Wiederauferstehung der Toten nutzen. Als kollektiver Zeremonienmeister trat in diesem Jahr ein "Revolutionärer/antifaschistischer Block" auf. Unter seiner Führung gelangte ein Demonstrationszug zum Friedrichsfelder Friedhof, dem die Bekräftigung seines Vertrauens in die Fähigkeit der Deutschen, im Falschen stets das Richtige zu wollen, Hauptanliegen war. "Unser Anliegen ist es, den offensiven politischen Charakter dieses Tages über ein stilles Gedenken hinaus zu erhalten." Das "revolutionäre Erbe" Luxemburgs und Liebknechts stehe "im Mittelpunkt der Ehrung" und sei ein "Erfahrungsschatz für die heutige Entwicklung revolutionärer Politik gegen Faschismus, Militarismus und Imperialismus".

Die Überzeugung, Politik könne gerade in einer Gesellschaft, deren bis an ihre immanenten Grenzen entwickelte kapitalistische Wertverwertung sich vor allem durch die gelungene und ständig sich reproduzierende politische Sozialisation ihrer Mitglieder über Wasser halten kann, Mittel revolutionärer Aktivitäten sein, hat ihren Grund in der Weigerung, die gesellschaftliche Totalität zur Kenntnis zu nehmen. Dies führt dann zur komödiantischen Wiederaufführung historischer Tragödien, wenn die theoretisch von der Gesellschaft abgespaltenen Phänomene "Faschismus, Militarismus und Imperialismus" auf den "immer offeneren reaktionären Kurs der politischen und finanziellen Eliten der BRD" (12) zurückgeführt werden. Nicht zufällig bedient die Wortwahl sich des Dimitroffschen Fundus der 30er Jahre (13). Dieser ermöglicht es, die Illusion einer nicht vorhandenen Komplizenschaft zwischen Bevölkerungsmasse und Eliten aufrechtzuerhalten, eine Illusion die in der Vergangenheit mehrfach zum Scheitern revolutionärer Politik beitrug. So kann dann aus dem Mißvergnügen, das die Zelebrierung von DDR-Identität durch die PDS den politischen und publizistischen Autoritäten Berlins (14) bereitet, gefolgert werden, die Totenfeier besäße einen "offensiven politischen Charakter". Wenn die PDS sich davon beeindruckt zeigt und vorsichtshalber auf "stilles Gedenken" umschaltet, können sich revolutionäre Politiker als Akteure des immer wieder neu zur Aufführung gelangenden Stückes "Korrumpierte Führung verrät gutwillige Basis" wähnen. Entsprechend wurde das Erscheinungsbild der Demonstration von denjenigen geprägt, die, nach wie vor oder schon wieder, die Arbeiterklasse nicht nur als Subjekt einer Revolution, sondern auch als wahre Repräsentantin eines durch lauter Bündnisse und Einheitsfronten herbeizuführenden ideellen sozialistischen und friedliebenden Deutschland abfeierten.

... für die kommunistische Partei

Die Initiatoren des "Revolutionär/antifaschistischen Blocks" hatten aber auch ein spezielles Anliegen qualitativer Art: "... in der Auseinandersetzung mit linker Geschichte richtige Ansätze und Inhalte aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Fragen die sich heute für uns ergeben, sind nicht neu und einzigartig." (15) Fragen, die offenbar nur als rhetorische gestellt wurden, wahrscheinlich Fragen wie: "Welcher Ansätze und Inhalte bedarf es, um eine revolutionär-antifaschistische Volkseinheit gegen die reaktionären Eliten zu schmieden?" Fragen, die ausschließlich zur Bestätigung der Absichten der vorgeblich Fragenden dienen. Es ist dies ein Stöbern in der Geschichte, das mehr dem Schnäppchenjagen deutscher Hausfrauen beim Winterschlußverkauf gleicht als einer ernsthaften Auseinandersetzung mit "linker Geschichte". Hätte man wirklich nach den Gründen der Niederlagen und des Versagens der deutschen Arbeiterbewegung sowohl angesichts ihrer vermeintlichen historischen Mission im allgemeinen als auch angesichts ihrer Rolle, die sie bei den katastrophischen Daten 1914, 1933 und 1989 spielte, im besonderen gefragt, hätte man die Friedhofsfeier wohl dem legendären Müllhaufen der Geschichte überantwortet.

Zum Schluß noch einmal eine Impression aus Argentinien. Der heute als Berater für die mexikanischen Zapatisten arbeitende Eduardo Galeano hat von dort eine interessante Konkretion der Benjamischen Idee von der "rächenden Klasse" mitgebracht. "Sie haben sie geliebt, sie lieben sie noch, die Ungeliebten: ... obwohl Evita mit teuren Juwelen behängt war und mitten im Sommer Pelzmäntel trug. Sie verziehen ihr diesen Luxus nicht etwa: Sie feierten ihn. Das Volk fühlte sich durch ihren königlichen Aufputz nicht beleidigt, sondern gerächt." So früh und abrupt wie Evitas Leben fand auch die Rache der argentinischen Arbeiterklasse ein Ende. Galeano: "Ohne sie ist das argentinische Volk nackt." (16) Ohne die Verklärung durch eine volkstümelnde Linke ständen auch die deutschen Arbeiter mit ihren angeblich revolutionären Traditionen ziemlich nackt da, nackt als Deutsche. Deren "Emanzipation zu Menschen" (Marx) hätte den Weg radikaler Negation der Übel von Arbeit, Tausch und ihrer Vermittlung durch Politik, mithin den Weg revolutionärer Selbstaufhebung einzuschlagen. Dazu bedarf es keiner Mahnung durch Tote.

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