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BAHAMAS Nr. 21

Antimoderner Antisemitismus?

Christliche Tradierung und NS-Mythologie bei Goldhagen und Ley

Ist Antisemitismus antimodern, weil er im Kern in der Kontinuität mittelalterlichchristlicher Vorstellungen steht? Oder ist der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts eine originär der Moderne zugehörige Ideologie? Diese Frage ist nach Daniel Jonah Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker" aufgeworfen, in dem die Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland stark hervorgehoben wird. Was bei Goldhagen als These zugrundeliegt, verdichtet Michael Ley in einer Untersuchung aus dem Jahre 1993 (1) zu einer "religionssoziologischen" Theorie des Antisemitismus. Bei Ley wird deutlich, daß die Betonung von christlich-apokalyptisehen Traditionssträngen logisch in die sozialdemokratische These mündet, der deutsche Sonderweg könne als bloßes Zivilisationsdefizit definiert werden - eine Schlußfolgerung, die auf Goldhagen rückbezogen werden kann.

Holocaust-Debatten: Einschnitt Goldhagen

Mit seiner Studie hat Goldhagen schlüssig aufgezeigt, daß das Täterhandeln bei der Vernichtung der europäischen Juden durch Antisemitismus motiviert gewesen ist. In empirischen Studien über Polizeibataillone, die Massenexekutionen vornahmen, belegt er die Freiwilligkeit des Handelns der Akteure. Da diese Bataillone keine NS-Kader versammelten, sondern "ganz gewöhnliche Deutsche", ist auch die Hochrechnung überzeugend, daß antisemitische Einstellungen, die diese Täter motivierten, für den größten Teil der deutschen Bevölkerung ähnlich angenommen werden können.

Goldhagen grenzt sich von vorherrschenden Topoi ab, die z.B.allein "sozialpsychologisch wirksamen Druck" oder " unveränderliche psychische Neigungen " in den Mittelpunkt rücken (S. 22). Solche Muster trieb etwa die Alltagsgeschichtsschreibung hervor, welche, indem sie den NS- Alltag der Täter zum Thema machte, das Nazi-System als eine Mischung von Diktatur und Rechtsstaat erscheinen lassen mußte.

Dan Diner hat demgegenüber zurecht das Auseinanderfallen von Täter- und Opferwahrnehmung hervorgehoben und die Alltagsgeschichtsschreibung als" Weberschiffchen derhistorisierung " bezeichnet: "Der vom Ergebnis sich herleitende Schrecken wird durch den methodischen Zugang der Nahsicht, der das Gesamtbild auflöst, in höchstem Maße banalisiert" (2). Goldhagen gelingt es, einen solchen Effekt zu vermeiden, indem er einen bislang wenig beachteten Teil des Holocaust ins Zentrum der Untersuchung rückt: Massenerschießungen, bei denen deutsche Täter mit ihren jüdischen Opfern unmittelbar konfrontiert waren. Hier können die Täterrnotive und die mörderischen Handlungen im unmittelbaren Kontext untersucht werden. Auch die Einbeziehung des Täteralltags wird möglich, ohne daß von der im Opfer repräsentierten" Totalität des Ereignisses " (Diner) abstrahiert würde.

Die Alltagsgeschichtsschreibung war einer jener Diskussionsstränge, durch die das Lager der in der Historikerdebatte"linken" Geschichtswissenschaftler in den Konsens mit den "Rechten" hineingeführt wurde - ein Konsens, der im Ziel einer positiven deutschen Nationalgeschichtsschreibung trotz Auschwitz definiert werden kann. Einem solchen Auftrag kann Goldhagen nicht dienen, da er die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als Kontinuum antisemitischer Vergesellschaftung auffaßt. Wenn Goldhagen massiv dafür angegriffen wird, als generalisierenden Begriff für die Täter "Deutsche" zu verwenden, bezieht sich dies darauf, daß er auf der Beschreibungsebene den Holocaust überzeugend als nationales deutsches Projekt dargestellt hat.

Daß Goldhagen in diesem Sinne als Provokation begriffen wurde, bedeutet allerdings nicht, daß er den Holocaust tatsächlich analytisch als "nationales deutsches Projekt" definiert und beschrieben wie etwa Jürgen Elsässer in derjungen welt (30.9.) behauptet. Wenn Goldhagen in seiner Untersuchung von "den Deutschen" spricht, handelt es sich vielmehr tatsächlich nur um verallgemeinernden Sprachgebrauch. Bei Goldhagen liegt kein Begriff von "Nation" vor, der dieses Phänomen der modernen, bürgerlichen Welt kritisch durchdrungen hätte. Für Goldhagen ist "Nation" vielmehr etwas Evidentes, empirisch Vorgefundenes. Goldhagen kann so den modernen deutschen Antisemitismus keiner Theorie der Nation zuordnen. Die besondere Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland beschreibt er zwar als nationale Besonderheit, die er aber letztlich nicht aus dem deutschen Nationalismus erklären kann.

Goldhagens Kontinuitätsthese

Das liegt nicht zuletzt daran, daß Goldhagen den Antisemitismus des 19./20. Jahrhunderts nicht als originäre Ideologie der Moderne zu begreifen versucht. Er defi niert den " europäischen Antisemitismus " vielmehr insgesamt als "eine Begleiterscheinung des Christentums. " (S.7 1) Zwar sieht Goldhagen den Antisemitismus im 19. Jahrhundert einem Wechselspiel von "Kontinuität und Wandel par excellence " unterworfen, er betont aber doch, daß es sich in seinem Verständnis dabei um Transformationen des Immergleichen handelt (3): " Während der kognitive Gehalt des Antisemitismus im Sinne einer Modernisierung' neue Formen annahm, um sich der veränderten gesellschaftlichen und politischen Landschaft Deutschlands anzupassen, bewies das kulturell-kognitive Modell für die Wahrnehmung der Juden eine bemerkenswerte Beständigkeit in seinen kulturellen und ideologischen Äußerungen. Das kulturelle Modell bewahrte, nein, war selbst bleibender Ausdruck jene r von Gefühlen bestimmten Haltung, die die überwiegende Mehrheit der Deutschen gegenüber den Juden einnahm und die sich auf den mittelalterlichen Geist stützte, der der Vorstellung der Deutschen zugrunde lag, wie Juden seien und wie man sich ihnen gegeniiber zu verhalten habe." (S.76) Der antisemitischen Vorstellung", wie Juden seien", liege demnach auch in der Moderneein"mittelalterlicherGeist" zugrunde. Dieser anachronistische Geselle diene - so eine von Goldhagen eingeführte Vorstellung - als "Gehilfe" dazu, "den Menschen in der modernen Welt" trotz des enormen Wandels "ein gewisses Maß an Kohärenz zu verschaffen. Jahrhundertelang hatte der Antisemitismus den Zusammenhang und das Selbstwertgefühl der christlichen Welt gewährleistet. Als im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts viele der alten Gewißheiten zerbrachen, nahm die Bedeutung des Antisemitismus als Modell zur Sicherung kultureller Kohärenz und schließlich auch als politische Ideologie sprunghaft zu. " (S.76)

Die Veränderungen des Antisemitismus in der Moderne beurteilt Goldhagen als "ungewöhnliche Anpassungs- und Modernisierungsfähigkeit" (S. 63), eine "bemerkenswerte Geschmeidigkeit des Antisemitismus" (S. 66). Daß er die Quelle des Antisemitismus allein dem Mittelalter zuordnet, bleibt davon unberührt.

Ley: Antisemitismus als religiöse Regression

In den deutschen Diskussionen um Goldhagens Buch hat sich der österreichische Religionssoziologe Michael Ley zu Wort gemeldet und sich gerade auf Goldhagens Kontinuitätsannahme positiv bezogen. Ley beansprucht, in seiner schon etwas früher veröffentlichten Studie" Genozid und Heilserwartung " zur Theorie zu erweitern, was bei Goldhagen als These angelegt ist. Antisemitismus" und ..Holocaust" wären demnach nur aus einer reli gionssoziologischen Perspektive adäquat zu erklären.

Mit diesem Ansatz gelingt es Ley zunächst, den Ursprung des christlichen Antisemitismus logisch aus der Entwicklung der Religionen abzuleiten. Das Judentum habe, so Ley, nicht nur den Übergang zum Monotheismus vollzogen, sondern dabei vor allem die Traditionen der polytheistisehen Menschenopfer überwunden. Demgegenüber habe das Christentum das Motiv des Opfertodes in Christus symbolisch wiederaufgenommen: "Das christliche Herrenmahl, die Eucharistie, bedeutet nichts anderes als die Verspeisung des Gottessohnes. " (S. 67) Daß die Tötung des Gottessohnes den Juden zugeschrieben wird und dies den Antisemitismus begründet, ist vor diesem Hintergrund wie eine psychologische Verschiebungsleistung gedeutet: Die gegenüber dem Judentum regressive Rückkehr zum (symbolischen) Opfermordbegründet nach Ley die"Angst vor der Überlegenheit derjiidischen Religion " (S.70). Viele antisemitische Muster - z.B. Ritualmordlegenden, der Vorwurf von Hostienschändungen etc. können auf einen solchen Erklärungszusammenhang schlüssig bezogen werden.

Statt die Konstellation an historische Bedingungen zu binden, gerinnt sie Ley allerdings zu einer iiberhistorischen Konstante, indem er den christlichen Antisemitismus auf unveränderliche psychische Mechanismen des Menschen zurückführt: "Diese religionsgeschichtliche Regression zeigt die tendenzielle Überforderung der menschlichen Psyche durch den Glauben an einen bilderlosen, opfergereinigten Monotheismus. Das menschliche Bediirfnis nach Aggressionsabfuhr kann nur durch die Sublimierung derartiger Triebbedürfnisse überwunden werden und verlangt historisch nach Religionen, die diesein Bedürfnis Rechnung tragen."(S.67f)

Die Abschaffung der Opfertötungen war nach Ley "der wichtigste jüdische Beitrag zur Zivilisation und zugleich ihr Verbrechen, denn das von ihnen geforderte Opfer übersteigt die menschlichen Möglichkeiten." (S. 69) Ley kann so Veränderungen des Antisemitismus nur als Variationen des im Kern Gleichbleibenden begreifen. Noch im antisemitischen Massenmord ging es nach Ley den Nationalsozialisten darum, den Opfermord gegen seine Kritiker durchzusetzen:"Der eucharistische Akt wird aber nicht mehr symbolisch' vollzogen, die nationalsozialistische Religion begeht den Ritus real, das Menschenopfer wird in den Vernichtungsanstalten vollzogen." (S.211)

Transformationen des Antisemitismus

Die These vom nationalsozialistischen "Opfermord" entwickelt Ley über eine umfassende Geschichtsschreibung, die zeigen soll, wie sich christliches Denken durch Formwandlungen durch die Jahrhunderte tradierte. Daß Begriffe wie "3. Reich", "tausendjähriges Reich" der christlichen Apokalyptik entstammen, die sich auf das Johannes-Evangelium bezieht, gilt als Beleg für eine solche Kontinuität.

Ley beschreibt (zusammenfassend auf S. 1 95f), wie sich die Vorstellung eines solchen "tausendjährigen Reichs" bis zum Nationalsozialisms verändert: Zunächst sei die Erlösungs- Vorstellung noch "an den göttlichen Heilsplan gebunden" und werde als "Tat Gottes bzw. Christi" verstanden -" es ist nicht das Werk der Menschen, den Beginn des neue Äons zu bestimmen ".

Dann entstehe "mit der Lehre von Joachim di Fiore, der Lehre von den drei Welten", die Interpretationsmöglichkeit, daß "vor dem Kommen des Messias ein charismatischer Führer das, Tausendjährige Reich'einleiten werde. " Die Romantik rezipiere später diese Vorstellungen und interpretiere sie neu: "Das neue auserwählte Volk sind die Deutschen. Gott, vermenschlicht' sich in den Deutschen. Anders ausgedruckt: Die Deutschen werden vergottet,- in ihre Hände wird der ehemals göttliche Heilsplan gelegt. " Die Romantik, so Ley, habe dadurch das apokalyptisehe Modell ästhetisiert und ein "ästhetisch-religiöses Gegenmodell zu den modernen Gesellschaften " geschaffen, auf das sich die Nationalsozialisten bezogen.

Ley führt u.a. Fichte an, der die Erwählung auf das deutsche Volk übertrug, es als "das einzig göttliche Volk auf der Erde" bezeichnete. (4) Es lasse sich, so hebt Ley hervor, "an Fichtes Argumentation leicht aufzeigen, daß die Grundlage seines 'Rassismus' eine gnostisch-johanneische Eschatologie ist", und daß seine völkische Utopie ohne die religiöse Tradition "des millenaristischen Denkens gar nicht verstanden werden" könne.

Ley diskutiert aber erst gar nicht, ob das Einfließen der apokalyptischen Muster in Fichtes nationale Begründungsmythen in der Erklärung einen Paradigmenwechsei erfordern könnte. Daß dabei nunmehr der moderne Nationalismus als Quelle des Antisemitismus gelten könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Bereits das von Ley präsentierte Material hätte indessen eine solche Schlußfolgerung nahegelegt, führt er doch beispielsweise an, daß Fichte die Auserwähltheit der Deutschen an der besonderen Rei nheit ihrer Sprache begründete, sie als besondere" Ursprache " bezeichnete (z. B. S. 42).

Nicht nur bezüglich Fichtes, in seiner ganzen Darstellung nimmt Ley nicht adäquat zur Kenntnis, daß die aufkommende Romantik in der homogenen Nation eine neue Form, ein Phänomen der Moderne metaphysisch zu begründen sucht. Jedes aus dem Christentum tradierte Motiv gilt ihm vielmehr als neuerlicher Beleg dafür, daß es sich um eine "Säkularisierung christlicher Gehalte" handle, "die Struktur des apokalyptischen Denkens (... ) jedoch gleich" bleibe (S. 46) und daß der " russische Antisemitismus " daher nur als Fortsetzung und Radikalisierung des christlichen Judenhasses interpretiert werden" könne (S. 142).

Die nationalsozialistische "Opferung" der Juden

So gilt ihm schließlich auch der Holocaust als" Ganzbrandopfer", durch das die Nationalsozialisten eine symbolische Reinigung des eigenen Volkes bewirken wollten: "Der Vollzug der Opferung, die millionenfache Ermordung, lassen nur den Schluß zu, daß der Nationalsozialismus eine politische Religion millenaristischen (5) Zuschnitts war " (S. 3 1 f) Hitler habe in diesem Konzept die Rolle des "heiligen Schlächters", eingenommen - eine Art Hohepriester, der den Tötungsakt zum Nutzen der Opfergemeinschaft auf sich nimmt.

Wo empirisch belegt werden soll, die Nationalsozialisten hätten die Ermordung der Juden selbst als religiöses Opfer empfunden, ist Leys Beweisführung wenig überzeugend. Ley führt an, Goebbels zeige sich "fasziniert von der Idee des Opfers. In seinen Tagebiichern und Schriften ist viel von christlicher Opfermystik die Rede. So schreibt er Opfer! im Opfer liegt die Reinigung von Schuld! Geht den harten Opfergang um der Zukunft willen Das Opfer ist alles, es macht uns zu Helden der Tat, vor deren berauschendem Atem das Alte stürzt unddas Neue sich formt wie von selbst. Bei diesen Überlegungen handelt es sich nicht um Formen eines soldatischen Selbstopfers, sondern die Opfertheorie ist auf die Juden bezogen." (S. 194f) -Tatsächlich läßt das Goebbels-Zitat in der Aufforderung an die fiktiven Leser eher an die Selbst-Opferung z.B. im Krieg denken ("harter Opfergang"), denn an einen an "Juden" zu vollziehenden Opferakt. Daß Goebbels, in einem Akt der Täter-Opfer-Verkehrung, auch die Judenvernichtung verherrlicht und dem deutschen " Opfergang " zugeschlagen hätte, ist zwar wahrscheinlich. Eine spezifische NSInterpretation der Judenmorde als "Opferhandlung " belegt das Zitat dennoch nicht.

Überhaupt untersucht Ley das Bild des "Juden " im NS- Antisemitismus allzu oberflächlich. So kommt er zur Sichtweise, die Nationalsozialisten hätten ihren im Kern religiösen (damit der Vergangenheit verpflichteten) Antisemitismus um einige antimoderne Vorstellungen (wie die Identifikation der "Juden" mit der "Geldwirtschaft") ergänzt. Die Nationalsozialisten hingen aber in ihrer Mythologie durchaus nicht einer einfachen Gleichsetzung der Juden mit "Moderne" oder "Geldwirtschaft" an. Sie brachten so verschiedene Phänomene wie "Asphaltdschungel", "Kulturbolschewismus", proletarische Bewegungen und "Plutokratie" mit "Juden" in Verbindung. Diese Phänomene können auf den Nenner gebracht werden, daß im" Juden" die Personifizierung einer bedrohlichen, abstrakten Seite der Moderne erfolgte. Im Gegenzug überhöhten die Nationalsozialisten aber Momente, die ebenso der Moderne zugehören, und die sie als "natürlich", "organisch" und "konkret" kennzeichneten. Nicht allein der Bauer auf seiner Scholle war ein Idealbild der Nationalsozialisten, sie feierten ebenso den schaffenden Werktätigen und die Maschine. Dem rebellischen Proleten setzten sie - "hart wie Krupstahl"- den Typus des soldatischen Arbeiters gegenüber, dem Bonzen den verantwortlichen Industrieführer. Alle diese Momente gingen in die "Volksgemeinschaft" ein, in jenes biologistische Konstrukt, in dem die Nazis ihr Modell eines effizienten, modernen, organisierten Kapitalismus faßten.

Nationalsozialismus: Zwischen Mittelalter und Moderne

Ley dagegen sieht das Zentrum des Nationalsozialismus, seine Mythologie, als anachronistisch, als eigentlich vermodern an. Zwar erkennt er an, daß die nationalsozialistische Herrschaft neben "archaischen" Denkformen auch einige "moderne" Momente mit sich brachte. Hitler habe aber, so Ley, allein deshalb weniger" antimodernistisch, das heißt antikapitalistisch " gedacht, als die"andern völkischen Schriftsteller", weil Vorstellungen einer "Reagrarisierung ( ) seinem auf, Kampf' und, Offensive'gerichteten Denken viel zu defensiv " erschienen wären. Nur aus solch pragmatischen Gründen habe er eine" Modernisierung der Wirtschaft auf autarker Grundlage" konzipiert. (S. 202)

Ley trennt damit vom christlich-apokalyptischen "Wesen" des Nationalsozialismus eine Sphäre des"modernen" NS-Handelns ab, der er recht hilflos gegenübersteht. Ley greift zur Beschreibung der modernen Momente ausgerechnet - aber keineswegs zufällig - auf den neurechten Zitelmann zurück (vgl. S, 204). Zitelmann versucht, Aspekte des "modernen" vom problematischen Nationalsozialismus abzutrennen, um sie als für die Zukunft vorbildhaft präsentieren zu können. Obwohl Ley dieses Motiv fern liegt, verdoppelt er Zitelmanns politische Absicht.

Diese aufspaltende Wahrnehmung des Nationalsozialismus spiegelt sich auch im Begriff der" charismatischen Herrschaft", den Ley von Max Weber übernimmt, und in dem er den NS adäquat definiert sieht. Ley betont zunächst, daß der Kern der charismatischen Bewegung in ihrer antimodernen Ausrichtung zu suchen sei: "Reines Charisma ist antirational, antibiirokratisch und antiökonomisch. Die Legitimation charismatischer Herrschaft ist an religiöse undloder politische Offenbarung gebunden. " Um geschichtswirksam zu werden, bediene sie sich aber moderner Mittel: "Die charismatische Herrschaft, deren Legitimation eine wertrationale Grundlage hat, muß sich in der Praxis besonders in der Beziehung zur Wirischaft und zur staatlichen Bürokratie - rational bewähren. (S. 25) - "Diesen ökonomischen Modernisierungsprozeß mußten die Nationalsozialisten aus strukturellen Bedingungen heraus vorantreiben, wenn sie politisch überleben wollten. " (S. 26) Den Nationalsozialismus machte demnach ein antimodernes ideologisches Zentrum aus, das mit moderner Wirtschaftspolitik, mit moderner Ökononiie pragmatisch einherging.

Deutscher Anachronismus - deutscher Sonderweg

Leys NS-Analyse spiegelt die Grundfigur sozialdemokratischer Sonderwegsthese wieder: Vormoderner Überbau hier - moderne ökonomische Basis da. Ley erwähnt die zehnfache Steigerung der Industrieproduktion in Deutschland zwischen 1850 und 1913 und kommentiert:"Dieser rasanten Modernisierung von Wirtschaft, Technik, Bürokratie und den sozialen Strukturen standen traditionelle Wertvorstellungen und Verhaltensmuster gegenüber die mit diesen gesellschaftlichen Veränderungen nicht Schritt halten konnten. " (S.160) Daß in Deutschland eine als kapitalistischenorm begriffene Demokratisierung nicht adäquat Fuß fassen konnte, liegt am raschen Tempo der Modernisierung einerseits, an der deutschen Tradierung von Antisemitismus andererseits: " Es ist nicht ausschließlich ein Problem der zeitlichen Dimension, sondern der unterschiedlichen politisch-theologischen Entwicklung. ( Die rasche Durchsetzung der Industrialisierung in Deutschland und die parallele Emanzipation der Juden erzeugten ein explosives Gemisch von irrationalem Nationalismus und Judenhaß. " (S. 155) Aus diesen Gründen tritt der - als Norm und Fortschritt definierten - wirklich" modernen ", verfassungspatriotischen Nation in Deutschland die anachronistische, völkisehe "Nation " entgegen.

Bei Ley, der keine Theorie der Nation entwickelt, bleibt unverstanden, daß der völkische Nationenbegriff aus dem verfassungspatriotischen - wenn schon ein zeitlicher Ablauf zugrundegelegt werden soll - hervorgeht, daß er ihmjedenfalls als Phänomen der Moderne untrennbar verbunden ist. Das Überwiegen des völkischen Moments von Anfang an und seine dauerhafte Dominanz kennzeichnen die deutsche Entwicklung. Diese Besonderheit kann aber nicht stimmig analysiert werden, wenn eine unüberbrückbare Dichotomie zwischen den beiden Legitimationsgrundlagen von "Nation" behauptet und an die entsprechenden Beispiele gebunden wird. Die daran geknüpfte Behauptung, daß "der organische Staatsbegriff, der eine Einheit von Mensch und Natur einschließt, ( ) antirational und antimodern " sei (S. 1 17), trifft in der zweiten Bestimmung einfach nicht zu. Wie sonst wäre zu erklären, daß das substantialistisch-völkische Legitimationsprinzip von Nation auch in den "westli chen" Ländern Fuß gefaßt und an Bedeutung gewonnen hat?

Ley steht aber allen materialistischen Erklärungen, die moderne biologistische Ideologien zu erfassen suchen, verständnislos und ablehnend gegenüber. Zu Recht kritisiert er linke Erklärungstraditionen, die "den nationalsozialistischen Antisemitismus nur als ideologisches Manipulationsinstrument interpretieren. " (S. 20) Seine Behauptung, auch die" Kritische Theorie " sei in solch funktionalistischem Denken verharrt (vgl.S. 13ff), ist aber von wenig Kenntnis getrübt. Leys Festschreibung, die Erklärung des modernen Antisemitismus als ein Phänomen der Moderne ende zwangsläufig in Manipulationsthesen, ist ein Vorurteil, das darauf beruht, daß er selbst eine Überwindung der kategorialen Teilung Basis- Überbau nicht zu denken vermag.

Goldhagens "kulturelles Axiom"

Ley sucht die Entstehung wie auch die innere Struktur des Antisemitismus aus der christlichen Tradierung zu erschließen, zielt also auf eine religionssoziologische Theorie des Antisemitismus ab. Bei Goldhagen kann dagegen von einer Theorie des Antisemitismus nicht gesprochen werden. Wo er theoretische Voraussetzungen zur Untersuchung von Antisemitismus klärt, unterscheidet er zwar verschiedene Formen des Judenhasses entlang der ihnen jeweils zugrundeliegenden Vorstellung vom "Juden". Es handelt sich dabei aber um die bloße Systematisierung von Beobachtungen, ohne den Anspruch, die spezifische Figur und ihre Entstehung auch zu erklären (vgl.Goldhagen S. 54ff).

Für Goldhagens Untersuchung des Antisemitismus ist von größter Bedeutung, daß er antisemitisches Bewußtsein im Bereich der Kognition ansiedelt. Diese Bestimmung ist seinen empirischen Untersuchungen wie allen entwickelten Kategorien vorausgesetzt. Goldhagen ordnet seine Methodik selbst der " Wissenssoziologie " zu (S. 61). Für das Zustandekommen von Ideologie, beispielsweise antisemitischen Wahnideen, kommen für ihn keine Erklärungen in Betracht, die außerhalb der Sphäre des Wissens und ihrer Tradierung liegen. Gesellschaft definiert sich in dieser Tradierung, ihre Konstition kann nicht umgekehrt Ideologien erklären - es ist ernstzunehmen, wenn Goldhagen in Umkehrung des verkürzenden Marx-Zitats "Sein" als vollständig von "Bewußtsein" determiniert betrachten will.

Der individuelle Wissensbestand ist bei Goldhagen eingebunden in das nationale " Gespräch " oder die nationale"politische Kultur". Die Entscheidungsfreiheit des bürgerlichen Individuums ist insofern eingeschränkt - eine andere Meinung als das gültige"kulturelleaxiom" zu vertreten ist laut Goldhagen so schwierig wie eine gänzlich fremde Sprache zu verstehen oder zu sprechen (vgl. S. 52f). Solche Einschränkung sprengt sein Verständnis von der Autonomie des Individuums indessen nicht auf; Goldhagen entwirft vielmehr das Bild "herausragender Persönlichkeiten", die, fast wie der Genius im frühbürgerlichen Sturm und Drang, zwar selten vorkommen, aber doch als Garanten der bürgerlichen Willensfreiheit auftreten und ihre Gültigkeit erretten können.

Die Kategorie des gesellschaftlichen "Gesprächs", derjeweils gültigen gesellschaftlichen Kultur, ermöglicht nach Goldhagen in letzter Instanz eine Qualifizierung des Antisemitismus. Goldhagen unterscheidet für das nationale" Gespräch ", die"politische Kultur", zwei einander dichotomisch, alternativ entgegengesetzte Fixierungen: Demokratie auf der einen, Antisemitismus auf der anderen Seite. Zwei grundsätzlich unterschiedene Formen von Antisemitismus knüpfen sich daran: Das ungefährliche, oberflächliche Vorurteil, wie es auch in Demokratien vorkommen kann, steht dem gefährlichen eliminatorisehen Antisemitismus entgegen, der gesellschaftlich prägend geworden ist.

"Kulturelles Axiom" und "Sonderwegs"-These

Da Antisemitismus im Kern als aus dem mittelalterlichen Christentum überliefert erscheint, verknüpft sich diese Dichotomie bei Goldhagen zu einem Muster, das der Konstellation der sozialdemokratischen Sonderwegsthese sehr ähnelt: Es gilt, die im Kern als vermodern begriffene gesellschaftliche Verfaßtheit zu überwinden, und sie durch die moderne Demokratie zu ersetzen.

Diese Ähnlichkeit führt allerdings nicht zu einer Identität von Goldhagens Argumentationsstruktur mit den deutschen Sonderwegstheorien. Zwar nimmt Goldhagen auf den Begriff "Sonderweg" positiven Bezug - er reproduziert dabei aber die dazugehörenden Theoriemuster nicht:" Welche antisemitische Traditionen in anderen europäischen Ländern auch bestanden haben mögen: Nur in Deutschland ist eine offen undfanatisch antisemitische Bewegung an die Macht gekommen (gewählt worden!), die auch willens war, ihre antisemitischen Phantasniagorien in staatlich organisierten Völkermord umzusetzen. Allein darum hatte der Antisemitismus in Deutschland völlig andere Konsequenzen als der Antisemitismus in anderen Ländern. Zu Recht spricht man also von einem deutschen, Sonderweg': Deutschland ist einen einzigartigen Weg gegangen, einen Weg, der es von den anderen abendländischen Nationen wegführte. " (S, 490) Goldhagen rückt, zum einen, im Unterschied zu den Sonderwegs-Theoretikern den Antisemitismus in den Mittelpunkt des Interesses. Zum anderen ist die Kennzeichnung " Sonderweg " nach Goldhagens Definition der Zeit der NS-Machtausübung zwischen 1933 und 1945 vorbehalten. Der "Sonderweg" der Deutschen ist in eben jener NS- Vernichtung definiert, deren Zustandekommen "Sonderwegs"- Theorien üblicherweise erklären sollen.

Die Ähnlichkeit der Denkfiguren Ist dennoch bedeutsam. Goldhagen rechnet den Antisemitismus" den Grundzügen der christlichen Kultur" zu und schlägt vor, "vom Mittelalter" auszugehen, "um herauszufinden, wo, wann und wie etwa Deutsche ihren kulturell allgegenwärtigen Antisemitismus aufgegeben haben" (S. 49); er stellt für die Moderne verwundert fest, daß der Antisemitismus seine Quelle überdauern konnte: "Der Antisemitismus war ein mehr oder weniger dauerhaftes Charakteristikum des Abendlandes" und hat sich "in mancher Hinsicht (... ) sogar als dauerhafter erwiesen" als "die christlichen Vorstellungen" (S. 62). Wie die Sonderwegs-Theorien faßt also auch er den Antisemitismus der Moderne als im Grunde eine anachronistische Erscheinung, die in einer anderen Zeit, aus inzwischen vergangenen gesellschaftlichen Bezügen, entstanden ist.

So ist auch kein Zufall, daß Goldhagen den sozialdemokratischen Sonderwegsthesen in der überaus optimistischen Einschätzung der deutschen Nachkriegsentwicklung nahekommt. Ist die Tradierung eines am Antisemitismus orientierten nationalen "Gesprächs" erst einmal unterbrochen, gibt es ihm zufolge kaum mehr Anlaß zur Befürchtung, daß eine solche Fixierung wiederkehren könnte. Die positive Sicht auf Nachkriegsdeutschland speist sich bei Goldhagen aus dem Theoriemodell, das verhängnisvolle antisemitische Bewußtsein könne als ein Vermächtnis der vormodernen Vergangenheit begriffen werden. In derselben Logik wie die sozialdemokratisehen Sonderwegs-Theoretiker sieht auch er - sind die Traditionslinien erst einmal ernstlich demokratisch unterbrochen - eine dauerhafte Fortschrittsentwicklung garantiert. Goldhagens überaus positive Prognosen für die deutsche Entwicklung sind von seinen Kategorien (dem nationalen "Gespräch " und dem in erster Linie tradierten Antisemitismus) nicht zu trennen.

Berthold Brunner

Anmerkungen:

1) Michael Ley, "Genozid und Heilserwartung. Zum nationalsozialistischen Mord am europäischen Judentum", Wien 1993

2) Dan Diner, "Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus", in ders., "ist der Nationalsozialismus Geschichte", S. 62ff, vgl. dort S. 70

3, Vgl. Goldgagen, S. 76; in einer Anmerkung zu dieser Textstelle betont Goldhagen: "Mein Verständnis von Antisemitismus des neunzehnten Jahrhunderts hebt wegen meiner theoretischen und methodischen Positionen die Kontinuität des deutschen Antisemitismus hervor".Ddie methodischen Positionen, die Goldhagen hier anspricht, werden am Ende dieses Artikels erörtert.

4) Die Zitate zu Fichte vgl. bei Ley S.1 1 lff

5) Millenaristisch: Auf das tausendjährige Reich bezogen

6) Zitat bei Ley S.29, zitiert nach: Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit", Ffm. 1977, S. 109

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