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SOZIALTERROR - das Rollback des Kapitals

von R@lf G. Landmesser

Dieser Artikel wurde 1994 von mir für den KALENDA geschrieben, ist jedoch aus Platzgründen 1995 und 1996 nicht in diesem Medium erschienen. Er ist zwar ein Rundumschlag, der vielleicht keine neuen Horizonte erschließt, aber dennoch, so meine ich, eine gute Zusammenfassung von dem was abgeht.

Alles was die Industrie erträumte und nie zu hoffen wagte, geht nun in Erfüllung. Jahrelange Spitzen-Traumgewinne in einem Konsumboom sondersgleichen, z.B. in der Automobil- und Bekleidungsindustrie, bei den Lebensmittelkonzernen, in der Elekronikbranche, ja fast in allen Bereichen. Der Osten offen zum Plündern der Sahnestücke für die kapitalkräftigsten Bewerber, und alles für`n Appel und`n Ei. Dazu, trotz explodierender Gewinnkonten ein Subventionsregen aus den Steuergeldern, der seinesgleichen sucht. Die Arbeitszeit wird Scheibchen um Scheibe wieder verlängert, die Löhne und Gehälter real gekürzt, Sozialleistungen gestrichen (im Sozialhaushalt der Bundesregierung 1993 um 72 %). Die arbeitsrechtliche Situation wird Stück um Stück ausgehöhlt: Dienstleistungstage, verlängerte Geschäftsöffnungszeiten, Flexibilisierung, d.h. den Unternehmern permanent zur Verfügung stehen, unbezahlte Sonderleistungen an Wochenenden und Feiertagen, Einführung von "Karenztagen" bzw. Streichung von Freizeit. Die Ausbildungsplätze werden elitisiert: qualifiziert ausgebildet wird speziell für die Bedürfnisse des Kapitals und aus dem Nachwuchs der Etablierten, Reichen, zunehmend gegen hohe Bezahlung. Die Angst vor der Zukunft läßt die überwiegende Mehrheit der StaatsbürgerInnen dem sogar zustimmen. Aus ihrer blöden Deutschtumsmentalität, gemixt aus Obrigkeitsglauben und "die Ärmel hochkrempeln und anpacken", wächst ihre Instrumentalisierbarkeit. Da, wo selbst der lasche DGB noch Widerstand zu leisten versucht, zieht ihm die eigene Basis den Teppich unter den Füßen weg. Gleichzeitig wird die neue Rolle des Militärs eingeprobt. Von "Nie wieder Krieg!" und der anfänglichen grundgesetzlichen "Abschaffung der Armee" sind wir wieder bei der "Mitverantwortung der Deutschen im Ausland" als rundumerneuerte Großmacht gelandet. Mit Somalia und Bosnien soll nur die Gewöhnung auf die langfristigen Kriegseinsätze hin eintreten. Schon übt die Bundeswehr zusammen mit U.S.-Streitkräften im Ami-Bundesstaat Louisiana den Angriffskrieg unter Einsatz schweren Geräts. Das wird immer noch von der Rüstungsindustrie hergestellt, die einen Großteil der Schwerindustrie und Luftfahrttechnik darstellt, und die ihre Profite nicht angesichts einer veränderten Weltlage geschmälert sehen will. Sie und ihre Lobby konstruieren neue "Feinde" und Einsatzbereiche. Schon jetzt (1994) ist Deutschland der drittgrößte Waffenhändler und nach den U.S.A. der zweitgrößte Großwaffenexporteur der Welt.

Angenommen, die durchgeführten Kapital-Manöver sollten wirklich das bringen, was ihnen nachgesagt wird: "Stabilisierung der Wirtschaft", "Sicherung des Industriestandorts Deutschland", "Gesundung der Sozialen Sicherung" etc., was kommt denn danach? Rückkehr zu den alten, fetten Zeiten? Vorgegaukelt wird ein Übergangszeitraum von 2-3 Jahren, in denen "wir alle" zurückstecken müßten. Aber ist es nicht immer schon so gewesen, daß das, was der Staat, das Kapital einmal hatten, nicht mehr hergeben wollten? Noch heute zahlen wir die "Sektsteuer", die der deutsche Kaiser zum Aufbau der Kriegsflotte eingeführt hat. Wird es nicht vielmehr so sein, daß ein (qualifizierter) Teil der Bevölkerung weiter mehr arbeiten muß und die anderen noch weniger Arbeit=Verdienstmöglichkeit bekommen und somit ins untere Drittel oder gar Viertel der Konsumgesellschaft abrutschen? Für diesen letzten Teil der Menschen heißt es, am Sozialtropf zu hängen, der bis aufs äußerste Minimum gedrosselt wurde, und verfügbar für jede entgarantierte Sklavenarbeit zu fast jedem Preis zu sein. Dies in einer Konkurrenzsituation zu Menschen aus anderen Teilen Europas und der Welt, die noch ärmer und bedürftiger gehalten werden. Ein Boden, auf dem mit tödlicher Sicherheit Haß gegen alles Andere gedeihen wird, Faschismus. Für jedEn wird die soziale, computer-gestützte Kontrolle ausgeweitet werden, um auch ihre/seine absolute Verfügbarkeit für Staat und Kapital zu erreichen und zu sichern. Preis- und Gebührenerhöhungen werden mit der Begründung verbesserter und sicherer sozialer Leistungen durchgesetzt, während sichtbar permanent das Gegenteil der Fall ist und auch die Regel bleiben wird. Die Wohlfahrtsstaaten als Kampfinstrument gegen den real existiert habenden Sozialismus haben ausgedient. Das Kapital glaubt freie Bahn zu haben. Die Arbeitsverhältnisse werden entgarantiert (d.h. keine oder weniger soziale Absicherung wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Rente, kein Recht auf den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes oder auch nur tariflich festgelegter Arbeitsbedingungen, mithin Rückkehr zu frühkapitalistischen Verhältnissen). Das heißt die Heimkehr der bisher ins Ausland verlagerten verschärften Ausbeutungsverhältnisse. Nicht umsonst wird uns immer wieder die fernöstliche Arbeitsmoral mit 10, 12 und mehr Arbeitsstunden, weniger Feiertagen und kurzem Urlaub bei geringen Gehältern als leuchtendes Beispiel vorgehalten.

Die Konsequenz für uns ist die breite Bewußtmachung dieser Prozesse und die organisatorische Strukturierung des Kampfs der bewußten Basis gegen die ökonomischen und die mit ihnen verflochtenen politischen Eliten. Dieser Kampf wird aus dezentralen Strategien der Verweigerung und nicht zuletzt der Sabotage bestehen müssen. Parallel dazu ist es aber unumgänglich, ökonomische, grundlegende, erlebbare und nachvollziehbare Alternativen anzulegen, die über gesellschaftliche Nischenexistenzen hinausgehen, und die in ihrem Anwachsen einmal den Wandel des Gesellschaftssystems auf die Tagesordnung setzen. Die Machtfrage muß jeden Tag im Kleinen und Kleinsten gestellt werden, indem individuell und kollektiv die Substanz der Macht der Herrschenden ausgehöhlt, und daraus die zunächst passive, positive Gegenmacht formiert wird. Mit putschistischen Barrikadenrevolutionen aus militaristischen, mythischen und romanitizistischen Klischees kann keine gesellschaftliche Auseinandersetzung gewonnen werden. Sie sind höchstens Ausdruck einer sozial explosiven Situation und dauern einen kurzen euphorischen Zeitraum. Danach kommen "die Mühen der Ebenen", der oft genug frustrierende Alltag des sozialen Um- und (Wieder)Aufbaus. Ist die Substanz der Gesellschaft nicht weit genug libertär umgeformt, wird der Rückfall in eine anarchische oder diktatorische Barbarei um so gravierender sein.

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