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NORDIRLAND

Gewalt und die öffentliche Meinung

Seit dem Scheitern der Friedensverhandlungen in Nordirland und dem Ende der von der IRA er- klärten Waffenruhe wurde in britischen Zeitungen wiederholt erwähnt, daß die IRA, nach inoffiziellen Schätzungen, nur ueber ungefähr 400 Freiwillige verfügt. Die britische Presse benutzt diese Zahl bewusst als Vorwand, um andere Tatsachen zu verschweigen und die IRA als eine rein terroristische Gruppierung darstellen zu können, die, abgesehen von ein paar Sinn Fein-Mitgliedern und -Wählern, keinen größeren Rückhalt in der Bevölkerung hat. Sie folgt damit der Taktik der Britischen Regierung, die Schuld am Scheitern des Friedensprozesses vollkommen der IRA zuzuschieben und eine Teilnahme von Sinn Fein an zukünftigen All-Parteiengesprächen zu verhindern.

Die Wirklichkeit sieht, wie so oft, etwas anders aus. Der Widerstand gegen den Kurs der britischen Regierung ist erheblich größer als die britischen Zeitungen ihrer Leserschaft weiszumachen versuchen. Sowohl in den besetzten Provinzen, als auch in Irland selber, unterstützt ein erheblicher Teil der Bevölkerung die Politik von Sinn Fein, was sich allerdings, vor allem in der Republik, nicht automatisch in hohen Wahlergebnissen ausdrückt. Die jüngsten Bombenanschläge der IRA stoßen in beiden Landesteilen mehrheitlich auf Ablehnung. Trotz allem vertreten viele Iren, angesichts massiver britischer Polizeigewalt und anhaltenden Übergriffen auf Katholiken in den besetzten Provinzen, mehr oder weniger offen IRA-ähnliche Positionen, wenn es um Fragen, wie die Zukunft des Friedensprozesses oder des geteilten Landes geht.

Vor 40 Jahren, Anfang 1956, versuchte die IRA an ihre Erfolge vor dem WK 2 anzuknüpfen und startete die gewalttätige "border campaign". Die Aktionen endeten bereits wenige Jahre später, da die irische Bevölkerung damals die Gewaltakte mehrheitlich ablehnte. 1962 legte die IRA ihre Waffen nieder und verkaufte große Teile ihres übrigen Materials, fest davon überzeugt, daß Verhandlungen, nicht Gewalt, zu einem Fortschritt führen würden. Protestantische Paramilitärs, Hand in Hand mit britischen Soldaten und Polizisten, waren es, die viele Katholiken wieder zu Waffen greifen ließen, um sich und ihre Familien vor Übergriffen zu schützen. Brandbomben, will- kürliche Erschiessungen, Übergriffe britischer Soldaten auf friedliche katholische Demonstrierende und der gewaltsame Tod von Divis Flat im Maschinengewehrfeuer britischer Polizisten, brachten nach 1971 viele Katholiken dazu, zu offensiven militärischer Aktionen überzugehen. Die Unterstützung bewaffneter Aktionen erreichte zu dieser Zeit, zwischen 1969 und 1971, ihren Hö- hepunkt innerhalb der irischen Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze. In gewisser Weise zehrt die IRA heutzutage immer noch von dem damals geschaffenen Unterstützungspotential, das sich zuerst in einigen wenigen Orten, wie z.B. Enniskillen konzentrierte. Später, nach weiteren Gewalttaten britischer Soldaten und protestantischer Unionisten, dehnte es sich auch auf andere Orte aus, wie z.B. Derry (Bloody Sunday'). Die 400 freiwilligen IRA-Kämpfer kommen aus solchen, über das ganze Land verteilten, Hochburgen katholischen Widerstands und die IRA hat gegenwärtig in diesen Gebieten Wartelisten für Rekrutierungswillige; Listen, die durch zukünftige Gewalteinsätze der britischen Polizei und insbesondere durch weitere Verhaftungen nur noch größer werden. Ohne Unterstützung durch große Teile der Bevölkerung in diesen Regionen, könnte die IRA heute kaum noch operieren. Diese, mehr oder weniger offenen Unterstützer der IRA in der irischen Bevölkerung, sind es, die mit in den aktuellen Friedensprozeß einbezogen werden müssen und deren Erfahrungen und Vorbehalte erkannt und respektiert werden sollten. Zu denken, daß "wenn wir die 400 Terroristen erstmal alle erledigt/verhaftet haben wird Ruhe sein", ist angesichts erwähnter Rekrutierungslisten sinnlos. Die Einstellung und Meinungen dieser Menschen müssen ernst genommen werden, soll es zu einem dauerhaften stabilen Frieden kommen. Das Gleiche muß aber auch für die protestantischen Paramilitärs und ihre UnterstützerInnen gelten. Ulster Unionists haben ihre ganz eigenen Erfah- rungen und Nöte, die bisher ebenfalls noch kaum berücksichtigt wurden, was für einen wirklichen Frieden aber unerlässlich wäre.

Einige Tage nach dem Bombenanschlag in den Londoner Docklands am 9. Februar befragte der "Irish Independent" Menschen in Irland und den besetzten Provinzen. Auf die Frage: "Glauben Sie, daß die Entscheidung der IRA, die Waffenruhe zu beenden, gerechtfertigt war?", antworteten in der Republik 23% der Befragten "ja" und 69% "nein". In Nordirland sagten 81% "nein" und 12% "ja". Die 12% Ja-Stimmen in den nördlichen Provinzen decken sich ziemlich genau mit den Ergebnissen für Sinn Fein bei den letzten Wahlen in Nordirland. Seit ihrem Entschluß an Wahlen teilzunehmen, der dem ersten großen Hungerstreik gefangener IRA-Mitglieder folgte, hat Sinn Fein bei allen Abstimmungen in diesen Gebieten knapp über 10% erzielt. Weit erstaunlicher dagegen, sind die 23% Ja-Stimmen im Süden, wo Sinn Fein bei Wahlen regelmäßig nur ein Zehntel dieses Ergebnisses erreicht. Auf die Frage, "Wer trägt Ihrer Meinung nach die Hauptschuld am Ende der Waffenruhe?", antworteten 61% der Befragten, die britische Regierung sei schuld. 7% beschuldigten die Ulster Unionists und lediglich 23% gaben die Schuld der IRA und Sinn Fein. Im weiteren Verlauf der Meinungsumfrage stellte sich heraus, daß 85% der Befragten im Süden und 56% im Norden sofortige All-Parteiengespräche befürworten, notfalls auch ohne eine erneute Waffenruhe.

Die Regierungen in London und Dublin einigten sich im März, vor eventuellen All-Parteienge- sprächen, Wahlen in Nordirland abzuhalten. Die Politiker mißachten damit bewußt den Willen einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. Ein bevorstehender Wahlkampf mit populistischen Phrasen und womöglich neuer Gewalt könnte die momentane Mehrheit in der Bevölkerung für Friedensverhandlungen unter sich begraben und wird mehr Schaden anrichten, als das er nützt. Alle Wählerstimmen für Parteien der Ulster Unionists würden von der irischen Regierung fälschli- cherweise automatisch als Stimmen gegen neue Verhandlungen gedeutet werden. Alle Stimmen für Sinn Fein würde die britische Regierung als Argument gegen Gespräche benutzen. Wichtig wäre im Moment allein, Gruppen, wie "Verhandlungen Jetzt!" zu unterstützen. "Verhandlungen Jetzt!" ist ein breites Bündnis von Menschen auf beiden Seiten der irischen Grenze, die für sofortige Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen demonstrieren. Aktiv in dieser Bewegung sind viele linke Gruppierungen und libertäre Menschen aus Irland und Großbritannien. Uneinigkeiten und Animositäten innerhalb der Linken müssen für einen Moment beiseite gelegt werden, soll nach 25 Jahren Gewalt endlich Frieden in Nordirland einkehren. Ein Lichtblick in dieser Beziehung war u.a. das vierte Treffen der "Northern Anarchist Network Conference" in Salford im März, bei dem so unterschiedliche Gruppen, wie "Classwar", "Anarchist-Communist Federation" und Einzelpersonen aus der Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung, friedlich an einem Tisch zusammensaßen und u.a. auch über die aktuellen Ereignisse in Nordirland diskutierten. Ihre Pläne für ein zukünftiges Irland hätten sicher nicht verschiedener sein können, aber gemeinsam hatten alle Anwesenden den Willen, die weiteren Entwicklungen in Nordirland nicht allein den Politikern in London und Dublin zu überlassen und stattdessen den Frieden von dort zu erreichen, wo auch die Gewalt herkam: Von den Straßen und Leuten auf beiden Seiten der irischen Grenze.

mARTin

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