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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Für eine vereinigte Linke in der DDR
Appell von Vertretern verschiedener sozialistischer Tendenzen in der DDR, verabschiedet nach einem Treffen Anfang September in Böhlen

D O K U M E N T A T I O N (Text in Auszügen)
Quelle: TAZ Nr. 2914 Seite 8 vom 19.09.1989
Angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation und der sich verschärfenden politischen Krise in unserem Land wenden wir uns mit diesem Aufruf an alle politischen Kräfte in der DDR, die für einen demokratischen und freiheitlichen Sozialismus eintreten. Ein linkes, alternatives Konzept für eine Wende wird immer dringlicher!

Wir sind der Auffassung, daß insbesondere die DDR vor einer historischen Chance radikaler Erneuerung des sozialistischen Gesellschaftskonzepts steht. Wird sie warten, so hat das Folgen, die möglicherweise nicht nur in unserem Land über lange Zeit hinweg die Aussicht auf ein sozial gerechtes und die freie Entfaltung jedes Gesellschaftsmitglieds garantierendes Gemeinwesen suspendieren.

Die äußeren Bedingungen für eine radikale Erneuerung sind kompliziert genug: Im modernisierten internationalen Kapitalismus begünstigt die Enttäuschung der Werktätigen über die Wirkungslosigkeit des sozialdemokratischen Wohlfahrtstaatlichkeitsmodells die weiter anhaltende neokonservative Wende nach rechts. Die Gewerkschaften stehen mit dem Rücken zur Wand. Der Rückgang des Einflusses westeuropäischer kommunistischer Parteien und der Prozeß ihrer galoppierenden Sozialdemokratisierung verdienen das Prädikat dramatisch. Der Internationalismus kommunistischer Massenparteien hat de facto aufgehört zu existieren und kann sich hinter dem dagegen noch funktionierenden, aber nichtsdestoweniger kläglichen sozialdemokratischen Internationalismus verstecken. Die Faszination des ermutigenden Aufbruchs der KPdSU aus dem Getto von Stagnation, Stalinismus und Machtanmaßung weicht mehr und mehr der Sorge, die nun anwachsenden zentrifugalen Kräfte könnten noch mehr zerreißen als die Blockaden gegen eine wirklich sozialistische Entwicklung. Der wirtschaftliche Umbruch in den Reformländern greift nicht oder bedient sich zweifelhafter Methoden. Die Defizite einer radikalen Erneuerung theoretischen Denkens auf marxistischer Grundlage sind angesichts der heutigen Herausforderungen katastrophal.

Und doch ist die Chance da: ein souveräner Umschwung in Richtung Sozialismus wäre heute nicht mehr militärischer Einmischung seitens "wohlmeinender Bruderländer" ausgesetzt. Aufgrund der desolaten Wirtschaftslage ist die politische Einmischung des Westens über den Kanal der "Wirtschaftskooperation" viel größer.

Die entscheidende Frage bleibt die soziale Basis, die politische Reife und die seriöse Programmatik sozialistisch votierender Kräfte im Lande selbst. Für uns heißt dies unter den in der DDR herrschenden Bedingungen, dieses Fundament wiederzugewinnen. Und hier sind bei uns die Voraussetzungen zweifellos günstiger als in anderen "realsozialistischen" Ländern - ungeachtet der weiter bestehenden politischen Unterdrückung auch und erst recht linker Kräfte in der DDR. Die Linken in unserem Land können sich kein Sektierertum leisten. Sie müssen die treibende Kraft einer "Koalition der Vernunft" sein, welche sich auf die Vielfalt aller sich zum Sozialismus bekennenden politischen und sozialen Kräfte in der DDR stützt, aber darüber hinaus allen sozialen und politischen Gruppierungen unter dieser Voraussetzung des Sozialismus eine Perspektive bieten kann. Eine vereinigte Linke muß in diesem Sinn in freier, gleichberechtigter, offener und öffentlicher Diskussion in kürzester Zeit ein konzeptionelles Programm für die politische und wirtschaftliche Umgestaltung erarbeiten, welches den Charakter hat, sich bei seiner Realisierung auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz stützen zu können. Niemand, der diesen Prozeß der Erneuerung mitgestalten will, auch kein Mitglied der SED, darf aus diesem Prozeß ausgegrenzt werden. Andererseits zeigen gerade wieder jüngste Erfahrungen, wohin prinzipienloser gesellschaftskonzeptioneller Relativismus führen kann. Wir wenden uns entschieden dagegen, daß politbürokratische Unterdrückung durch kapitalistische Ausbeutung "ersetzt" wird. Die Linken müssen sich auf der Basis

  • des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln als die vorherrschende und perspektivische Grundlage sozialistischer Vergesellschaftung -des Ausbaus der Selbstbestimmung der Produzenten in Verwirklichung realer Vergesellschaftung der gesamten ökonomischen Tätigkeit
  • der konsequenten Verwirklichung des Prinzips der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder
  • der politischen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, konsequenten Verwirklichung der ungeteilten Menschenrechte und freien Entfaltung der Individualität jedes Gesellschaftsmitglieds
  • des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft

treffen. Die Zeit ist überreif für eine offene Diskussion der damit verbundenen Fragen. Der Prozeß des Dialogs einer sich vereinigenden Linken auf solcher Grundlage kann und sollte auch unter den heute noch geltenden Bedingungen der beruflichen Diskriminierung und der Ausübung politischen Drucks auf politisch nicht angepaßtes Denken trotzdem öffentlich erfolgen. Dem organisatorischen Zusammenschluß einer vereinigten Linken hat der beschriebene Prozeß des Dialogs vorauszugehen.

Mindestanforderungen für die Gestaltung einer freien sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Vorschlag für einen Minimalkonsens einer breiten unabhängigen sozialistischen Opposition

1. Verwirklichung der sozialistischen Demokratie als Ausdruck der Volkssouveränität durch die Volksmacht, das heißt der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des werktätigen Volkes. Dem dient die Realisierung folgender Grundsätze:

a) Sicherung individueller und kollektiver Freiheitsrecht entsprechend der UN-Menschenrechtscharta (einschließlich ungehinderter Reisefreiheit und Streikrecht)

b) Rechtsstaatlichkeit (einschließlich individueller und kollektiver Einklagbarkeit der Freiheitsrechte sowie gesetzliche Verantwortlichkeit der Behörden und ihrer Funktionstärger gegenüber den Bürgern)

c) Funktionelle Gewaltenteilung auf der Grundlage der Volkssouveränität (einschließlich Verfassungskontrolle und Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Wahrnehmung der Volkssouveränität (einschließlich Verfassungskontrolle und Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Wahrnehmung der Volkssouveränität gegenüber den rechtsprechenden und vollziehenden Apparaten)

d) Starke basisdemokratische Verankerung der staatlichen Gewalt mittels Volksabstimmungen sowie politischer Rechte für Betriebsräte und Wohnbezirksräte

e) Selbstverwaltung aller territorialen politischen Gemeinschaften (Gemeinden, Kreise usw.) einschließlich der Bildung ihrer Rechtspflege- und Polizeiorgane durch sie selbst bei ausschließlich gerichtlicher Kontrolle ihrer von staatlicher Aufsicht freien Tätigkeit

f) Bundesstaatlichkeit auf der Grundlage der Länderstrukturen von 1949 sowie des Landes Berlin (DDR) und Bildung einer Länderkammer nach dem Senatsprinzip aus den Volksvertretungen der Länder

g) Politische und Meinungspluralität einschließlich Parteienpluralität auf der Grundlage freiheitlich -sozialistischen Verfassungsrechts

h) Verhältniswahlrecht

i) Recht von Gesetzesinitiativen und geregelte Vetorechte für demokratische Massenorganisationen (Gewerkschaften usw.)

j) Förderung von vielfältigen Bürgerinitiativen und Sicherung ihrer breiten Einbeziehung in die staatlichen Entscheidungsprozesse

k) Umbildung der Massenmedien aus Organen der monopolisierten Regierungsgewalt in Medien der Öffentlichkeit durch Anwendung des öffentlichen Rechts unter Sicherung des Medienzugangs für jeden Bürger

l) Informationsfreiheit in allen öffentlichen Angelegenheiten und Rechtsschutz gegen den "gläsernben Menschen".

Sozialistische Konkurrenz für Honecker
Quelle: TAZ Nr. 2918 Seite 3 vom 23.09.1989

Die "Vereinigte Linke" organisiert 300 bis 500 Leute in autonomen Betriebs- und Universitätsgruppen GewerkschafterInnen, autonome Studentenseminare, engagierte  ChristInnen und Leute von der Szene gehören zu der ersten größeren Gruppe in der DDR, die den Begriff des Sozialismus mit neuen Inhalten füllen will. Ihr erstes Ziel ist der Aufbau einer Alternativgewerkschaft - doch vorerst arbeiten sie noch - konspirativ - im FDGB.

Viele sind auch Mitglieder der SED, die sie als Bündnispartnerin betrachten. Um seine Arbeit nicht zu gefährden, kann die taz den Interviewpartner nicht namentlich nennen.

taz: Wieviele Leute arbeiten in der "Vereinigten Linken" mit, die Anfang September in Böhlen ein Positionspapier zur weiteren Entwicklung der DDR vorgelegt hat?

N.N.: Genaue Zahlen hab ich nicht. Man kann aber davon ausgehen, daß die einzelnen Gruppen, in denen jeweils zwischen zehn und 20 Leute aktiv arbeiten, zusammen ein aktives Potential zwischen 300 und 500 Leuten umfassen, im Augenblick. Ich denke aber, daß nach der Veröffentlichung unseres Papiers, noch mehr zu uns stoßen werden. Zu diesen einzelnen Gruppen zählen autonome Studentenseminare, Aktivgruppen, die in den Betrieben Gewerkschaftsarbeit machen, genauso wie Szenevertreter und engagierte Christen.

Wie sieht das Kräfteverhältnis in eurem Spektrum aus, überwiegen da die Intelligenzler?

Das ist eben nicht der Fall. Versuche, Arbeiter aus den Betrieben, Studenten und Akademiker an einen Tisch zu holen, haben wir schon vor längerer Zeit unternommen. Das scheiterte zunächst. Den Intelligenzlern wurde vorgeworfen, daß sie keine Ahnung hätten von der Praxis. Und umgekehrt wurde den Werktätigen vorgehalten, daß sie unter einem akuten Theoriemangel litten. Jetzt scheint es uns gelungen zu sein, beide zusammenzuführen. Allerdings müssen wir unsere Ziele noch immer populärer formulieren, an der Sprache krankt es noch sehr.

Im Unterschied zu den anderen oppositionellen Gruppen, die in den letzten Wochen in der DDR an die Öffentlichkeit getreten sind, habt ihr schon ein ziemlich ausgefeiltes wirtschaftliches und gesellschaftspolitisches Programm. Wie steht ihr zu den anderen oppositionellen Gruppen, gibt es da Kontakte?

Zunächst gehe ich davon aus, daß es in der DDR noch keine klare Opposition gibt. Die üblichen Pauschalforderungen der Szene, Reise- und Pressefreiheit, Einschränkung der Repressionen und öffentliche Diskussionsmöglichkeiten bieten allenfalls eine Grundlage zur Bildung einer Opposition. Bisher hatte ich deshalb Schwierigkeiten mit der Titulierung "Opposition" bei uns. Jetzt, in der Vielzahl der Neugründungen, scheint die Etablierung einer Opposition möglich. Das "Neue Forum" glaube ich, hat eine Chance, flächendeckend zu arbeiten. Ich selbst habe Vorbehalte dieser Gruppierung gegenüber. In ihr sammeln sich, das sieht man ja schon an den Erstunterzeichnern, so heterogene Positionen, daß es im Vorfeld schon unmöglich wird, gemeinsame Zielvorstellungen zu entwickeln oder sie wieder in den üblichen Pauschalitäten ersticken werden.

Das "Neue Forum" versteht sich doch aber explizit als eine Sammlungsbewegung, die es erst einmal ermöglichen soll, durch vereinte Kraft Voraussetzungen für die Arbeit unterschiedlicher politischer Orientierungen in der DDR zu schaffen. Eine anschließende Ausdifferenzierung schließt es doch nicht aus?

Wenn es dem Anspruch, eine öffentlich legitimierte Streitplattform zu sein, gerecht wird, wäre ich der letzte, der sich an dem Disput nicht beteiligen würde. Nach außen tritt es aber so auf, als wolle es trotz der Heterogenität ein gemeinsames Programm entwickeln. Da bin ich skeptisch. Außerdem sammeln sich da auch die "Medienhaie", die in der Lage sind, die Ausrichtung dieser Gruppe zu beeinflussen. Wir haben daher die Befürchtung, verheizt zu werden und uns dem Medienmonopol unterordnen zu müssen.

Werdet ihr am 2. Oktober an der Veranstaltung teilnehmen, die sich einen übergreifenden Zusammenschluß aller oppositionellen Kräfte zum Ziel gesetzt hat?

Hier werden zunächst alle Vertreter der Szene zugegen sein, die bisher schon in Erscheinung getreten sind. Darüber hinaus - und dazu zählen wir auch - gibt es Gruppen, die sich in der Tagepolitik nicht spektakulär zu Wort gemeldet haben. Ihr Aktionsradius bestand darin, in den Betrieben Vertrauensarbeit aufzubauen, konkret Gewerkschaftsarbeit mit neuen Zielsetzungen vorsichtig anzugehen.

Wie sieht diese Gewerkschaftsarbeit aus, und wo findet sie statt?

Das ist unterschiedlich. Angefangen beim Sammeln vieler Details, um konkrete Alternativen für die Produktion der Betriebe zu entwickeln. Die Frage nach den konkreten Produktionsverhältnissen ist zentral für uns. Bishin zu sozialen Fragen der Humanisierung der Arbeitswelt. Natürlich diskutieren wir auch generell Reformperspektiven in unserem Land: Was hieße das, wenn es sofort zur Öffnung bei uns käme? Bei einer fundamentalen Öffnung müssen wir damit rechnen, daß es zu einem starken Rechtsruck kommt. Dafür haben die Herrschenden den Sozialismus zu sehr diskreditiert. Viele Werktätige haben mit dieser Form des Sozialismus gebrochen. Für uns heißt das, wir müssen den Begriff mit neuen Inhalten füllen. Wir diskutieren daher Konzepte der Sozialpolitik und veränderter Planungszusammenhänge. Was bedeutet Eigenfinanzierung der Kombinate? Wie kann man die Kompetenzen der staatlichen Plankommissionen einschränken? Wer wird die Entscheidungsbefugnisse beim Abbau der zentralen Verwaltung in den Händen haben? Sind es wieder die Technokraten und alten Betriebsleiter die natürlich auch ein Interesse an mehr Entscheidungsgewalt hegen, um ihre Machenschaften fortzusetzen? Dem setzen wir ein Konzept von Betriebsräten entgegen. Was die Effektivierung der Arbeit angeht, müßten bei uns viele Betriebe zumachen. Wir befassen uns mit der Frage, was geschieht mit den Arbeitslosen, die es auf jeden Fall geben wird?

Woher stammen ursprünglich diese Initiativen?

Sehr unterschiedlich. Zum einen aus Gewerkschaftsorganisationen und SED-Zirkeln, die nach einer Zeit angefangen haben, sich intensiver mit der Geschichtsaufarbeitung und den Klassikern zu befassen. Die meisten von ihnen stehen sehr weit links, sind schon für eine Einheitsgewerkschaft, aber nicht für den FDGB. Sie stellen sich nicht gegen die Gewerkschaft als Transmissionsriemen der Partei, aber weisen darauf hin, daß ein Rädchen davon ein entgegengesetztes Drehmoment hat. Das Allernotwendigste ist, einen Alternativgewerkschaftsverband zum FDGB ins Leben zu rufen. Daran arbeiten wir. Selbst wenn sich der FDGB veränderte, bliebe er durch seine alten Strukturen vorbelastet. Daneben denken wir darüber nach, eine Art Gewerkschaftsjugendbewegung zu beleben. Es ist eine Menge konkreter Arbeit, die die Leute leisten, und daher können ihre Aktionen nicht spektakulär sein, ja müssen sogar konspirativ bleiben. In vielen Großbetrieben sind sie ganz erfolgreich, und wenn es nur darum geht, einfach bestimmte Diskussionen dort in Bewegung zu bringen, Nachfragen zu stellen und die Abteilungsgewerkschaftsleitungen in die Zange zu nehmen. Angefangen bei den Schulden des Betriebes über den Lohnfonds bis hin zu den Neueinstellungen reichen die Aufgaben. Zu solchen Fragen haben die anderen Szene -Oppositionellen keine Position. Für viele von diesen Gruppen ist die Friedensbewegung einfach zu reaktionär. Sie betreibt teilweise einen Ausverkauf an den Westen. Dazu zählt sowas wie Bekenntnisse zur Wiedervereinigung. Das sind genauso unsere Gegner wie die Politbürokratie. Im Unterschied zu den anderen Gruppen hat sich euer Papier gegen die Entwicklungen in Polen und Ungarn abgegrenzt, sie sogar zum Vorwand genommen, um diesen Entwicklungen in der DDR prophylaktisch vorzugreifen. Der DDR geht es wirtschaftlich noch nicht so schlecht. Ginge sie den Weg Ungarns oder Polens, hätte die DDR ihre Existenzberechtigung als zweiter deutscher Staat verloren. Die Linken hier haben keineswegs ein Interesse an einer Wiedervereinigung, denn sie gehen davon aus, daß es hier eine Reihe von sozialen Errungenschaften gegeben hat, die es nach Möglichkeit zu wahren gilt. Diese können nur gehalten werden auf der Grundlage eines Übergangsprogramms mit sozialistischer Tendenz. Alle Linken sind sich einig, daß die alte stalinistische These vom Sozialismus in einem Land überholt ist. Von daher ist ein konkret sozialistisches Programm vorerst nicht möglich. Wir müssen die Form eines Übergangsprogramms für eine Übergangsgesellschaft entwickeln.

Was sind die Essentials eines solchen Übergangsprogramms?

In unserem Papier ist die Rede von Eigenerwirtschaftung der Mittel in den Betrieben neben Verstaatlichung und einem privaten Sektor, der aber nur auf Eigenarbeit beruhen darf, also ohne Angestellte. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen darf nicht zugelassen werden. Zur Steigerung der Produktivkraftentwicklung bemühen sich die anderen osteuropäischen Länder um Kapitalanleihen im Westen. Wie steht ihr dazu? An solchen Punkten gehen die Meinungen in der Tat auseinander. Als Problem wird definiert: Es gibt demnächst den EG-Binnenmarkt und kein Integrationsmodell des RGW. Die DDR kann sich nicht selbst versorgen, ist auf Handel angewiesen. Daher muß auch sie dem Weltmarkt Rechnung tragen. Kommt die SED für euch noch als Bündnispartner in Frage? Natürlich. Sie käme nicht nur in Frage. Ich bin felsenfest überzeugt: Wesentliche Veränderungen in unserem Land gehen nicht ohne sie. Wer das übersieht, hat Illusionen oder will ein bürgerlich-parlamentarisches System. Ein ganz wesentliches Moment in dieser Diskussion muß sein, was die SED bisher nicht geleistet hat: den Sozialismus in der DDR wieder mit visionären Vorstellungen zu füllen.

Wenn ihr von einem Programm für eine Übergangsgesellschaft sprecht, ist das doch aus parteimarxistischer Sicht erst mal ein Schritt zurück. Ihr verabschiedet euch von der "Gesetzmäßigkeit" in der Geschichte, um den Sozialismus nicht auf immer und ewig zu diskreditieren. Welche Konsequenzen erwachsen daraus für die Struktur des zukünftigen politischen Systems, und wo werden sich nach Preisgabe der monolithischen Struktur die divergierenden gesellschaftlichen Interessen repräsentieren können?

Das Einparteiensystem ist kein konstituierendes Moment einer sozialistischen Gesellschaft. Nirgends bei Marx läßt sich das finden, selbst Lenin hatte ein differenziertes Verhältnis dazu. Ein Mehrparteiensystem bei uns ist bitternotwendig, aber auf der Grundlage einer Verfassung, die geprägt ist von einem freiheitlich demokratischen Sozialismus. Das läßt sich erarbeiten. Alle stimmen einem Mehrparteiensystem bei uns zu, welche Rolle die Parteien spielen werden, darüber gibt es allerdings divergierende Auffassungen, ob Rätesystem, Parlamentarismus oder Kommune, da gibt es Streit.

Warum seid ihr die einzigen, die ihr Positionspapier nicht namentlich unterzeichnet haben. In eurer politischen Tradition steht ihr doch der SED näher als die anderen Gruppen?

Das sehe ich nicht so. Unser Konzept bildet eine viel größere Gefahr für die Erhaltung vorhandener Machtstrukturen. Eben weil an der SED-Basis, in Akademikerkreisen und sogar bei höheren Kadern große Sympathien für unser Projekt bestehen. Schon in unserer Befürwortung eines Mehrparteiensystems bewegen wir uns weit weg von der SED. Innerhalb der SED schotten sich die ab, die von den gegenwärtigen Strukturen profitieren. Das sind auch diejenigen, die das Gewaltmonopol innehaben.

Warum konspirativ?

Die Gruppen in den Betrieben und innerhalb der SED, aber auch an den Universitäten haben große Bedenken, sich zu früh zu weit vorzuwagen. In ihren Bereichen werden sie für konkrete Arbeit gebraucht, auch um Informationen aus der Partei und anderen Bereichen in die Gruppen hineinzutragen. Einzelne Leute haben sich ja schon hervorgewagt. Was war das Ergebnis? Man hat sie nicht einfach brotlos gemacht oder als Verräter abgestempelt, so läuft das heute nicht mehr. Nein, es wird intern geregelt, du wirst aus der Partei ausgeschlossen, was momentan sehr schnell geht, erhältst aber eine Pension, damit du ruhigbleibst. Daher wollen wir nicht, bevor die Strukturen stehen, die jahrelange Arbeit gefährden.

Hat die Veröffentlichung eures Programms zum jetzigen Zeitpunkt etwas mit der Ausreisewelle zu tun?

Mit dem Exodus hat es nichts zu tun. Daß es zu diesem Zeitpunkt kommt, ist natürlich nicht zufällig. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die in den Ausreisern Verräter sehen. Nur wenn sie sich drüben dann hinstellen und daraus ein Politikum machen, womit sie bestimmte Interessen der BRD stützen, dann stört mich das. Ich würde es mir aber auf keinen Fall anmaßen, so zu reagieren wie die Bonzen hier. Jeder soll seinen Paß bekommen und fahren können.

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