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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Dieter Bongartz

Quedlinburger Requiem
Bericht vom Ende der Utopie

aus: Deutsche Volkszeitung/die tat Nr. 50 • 8. Dezember 1989

Donnerstag, 30.11.1989

Pünklich um 19.30 Uhr eröffnet der Pfarrer der Nikolaikirche, Jörg Reißmann, das "Gebet für unser Land". Der Redner, ein starker Raucher mit einem schmalen verkniffenen Gesicht, stark geränderten Augen und einer brüchigen Stimme, im Neuen Forum aktiv, resümiert, was bislang erreicht wurde: Reisefreiheit, Meinungsfreiheit ... und setzt sich mit der um sich greifenden Forderung nach Wiedervereinigung auseinander. "Ich habe noch ein Stückchen Angst vor einer Wiedervereinigung", meint der Pfarrer - schwungvoll sagt er es nicht. Reißmann zitiert einen Satz aus der Schrift "Wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird leben." Er bietet die Worte seinen Zuhörern an: "Und uns wünsche ich auch, daß wir unser Leben nicht mehr so sichern wie gewohnt und uns entschließen, Verantwortung zu übernehmen. ... Ich wünsche uns Nachdenklichkeit. Daß wir nicht nur schimpfen und den Finger in die Wunden legen, sondern anfangen zu überlegen und mitzuarbeiten." Er bekommt Beifall von denen, die in den engen Kirchenbänken sitzen und auf der Empore und in den Gängen dichtgedrängt stehen, von älteren, jüngeren Menschen, die aufmerksam sind, deren innere Verfassung der Beobachter aber nicht aus ihrem Mienenspiel ablesen kann. In der Versammlung, die ohne eine lenkende Leitung auskommt, herrscht Ernsthaftigkeit.

Zwei Jugendliche treten ans Mikrophon, am Montag und Mittwoch haben sie sich in ihrer Gruppe bemüht, Worte für das, was sie wünschen, zu finden. Es fiel ihnen schwer, und sie wären sicher nicht weit gekommen, wenn nicht der Jugenddiakon Hans Jaekel, der seit langem in Quedlinburg oppositionelle Arbeit zusammen mit Jugendlichen unter dem Schutzdach der Kirche organisiert hat, wenn der in solchen Dingen erfahrene Jaekel ihnen nicht die Formulierungen abgenommen hätte. So lesen sie fremde Worte, erwachsene Worte, die dennoch ihre Gefühle treffen, das merkt man an dem verhaltenen Stolz und dem Ernst, der sie nebeneinander, sich abwechselnd, den "l. Standpunkt der Arbeitsgemeinschaft Jugend des Neuen Forums Quedlinburg" vortragen läßt. Aber auch ihre Aufforderung, nun massenhaft die FDJ zu verlassen, findet eher pflichtgemäßen Beifall.

Dann tritt Dieter Rehbein, einer der zahlreichen Arzte des Ortes, die auf der Plattform des Neuen Forums arbeiten, vor. Der Psychiater trägt eine Lederjacke. Über seine Lesebrille hinweg schaut er sein Publikum an. Rehbein besitzt vor diesem Auditorium Autorität Am letzten Donnerstag, als es in der Nikolaikirche um die Ereignisse in der cssr 1968 ging, stand er ebenfalls an dieser Stelle und las aus Stefan Heyms "Nachruf" passende Passagen vor. Jetzt wirft der Arzt Rehbein dem Schriftsteller Heym wegen seines Aufrufs "Für unser Land" "platte Schwarzweißmalerei" vor. (Eigenständigkeit der DDR oder Ausverkauf an die Bundesrepublik, so skizziert der Appell die herangereifte Alternative. Er fordert auf, den ersten Weg zu gehen.) "Dagegen steht", sagt Rehbein, "daß in Leipzig, der Hauptstadt der Revolution, immer mehr Demonstranten die deutsche Einheit verlangen." Starker Beifall. - "Ich bin für eine baldige Konföderation beider deutscher Staaten, mit dem Endziel: Deutschland - einig Vaterland." Der Beifall wächst zum Jubel. Zwei junge Männer stehen auf, entrollen ein schwarzrotgoldenes Transparent. Ihr Spruchband wiederholt die Zeile aus der Nationalhymne der DDR, die der Doktor soeben zitiert hat: "Deutschland - einig Vaterland". Ich schaue mich um. In den Tagen meines Aufenthalts habe ich einige von denen, die hier stehen, kennengelernt, darunter solche, von denen ich genau weiß, daß sie eine Wiedervereinigung, die derzeit nur nach den Regeln der Deutschen Bank funktionieren kann, ablehnen. Das sind vor allem junge Leute, die sich schon langer und unter Inkaufnahme von persönlichem Risiko mit ihrer Gesellschaft auseinandersetzen. Ich sehe sie, wie sie ein paar Augenblicke, dem allgemeinen Strom folgend, dem Doktor zuklatschen. Erst nach quälenden Sekunden scheinen sie wach zu werden, lächeln irritiert, mokant oder verlegen, schauen an sich herunter, als wäre gerade an ihnen ohne ihr Zutun eine Reflexhandlung (aus dem resultierend, was sie in der Vergangenheit gelernte haben) abgelaufen. Doch dann verstehen sie rasch: daß sie - kaum aus den Kellern ihrer Opposition zu Hauptdarstellern emporgeklettert - schon wieder zur Minderheit gehören. Sie sind gegängelt und drangsaliert worden in der Vergangenheit (Sie erzählen das ohne Effekthascherei.) Nun stehen sie da und haben den Stein endlich ins Rollen gebracht, und die Sache nimmt eine andere als die gewünschte Richtung.

Henning, einem lang aufgeschossenen Zivildienstleistenden, entfährt ein Fluch, als der Beifall für Dr. Rehbein eindeutig macht, wessen Stunde in diesem Land geschlagen hat: "Da wünscht man sich ja fast die SED wieder herbei!"

Neue Redner kommen, darunter vor allem solche, die Rehbein unterstützen. Als einziger spricht der Bildhauer Dreysse gegen den Strom. "Der Wohlstand drüben", sagt er, "ist nicht durch unsere Hände gewachsen, also gehörte er uns auch nicht... Des hemmungslosen Konsums wegen an die Bundesrepublik sich angliedern zu lassen: Das sollten wir doch auf keinen Fall als das ansehen, weswegen wir seit Wochen streiten. Wir brauchen Demokratie, nochmals Demokratie..." Er findet für seine moralischen Argumente keine Mehrheit.

Draußen, eine Stunde später, gegen halb zehn, zum Abschluß der Demonstration, haben sich dann doch noch andere Sprecher der Minderheit gefaßt, Henning spricht von seiner "Angst" vor dem Ausverkauf, der Schäfer Holm Petri - ein arbeitsloser Zweiundzwanzigjähriger mit scharfen Gesichtszügen, einem Mozartzopf, Mittelscheitel und journalistischen Ambitionen - von dem "bequemen Weg", den Deutsche im Jahre 1933 und nach 1945 gewählt haben und den sie nun ein weiteres Mal wählen wollen. Dr. Buch, einer der tonangebenden Ärzte, tritt als einziger älterer aus dem Kreis seiner Kollegen und warnt davor, daß seine Mitbürger bald "als die neuen Türken der Bundesrepublik" verschlissen werden. Es gibt Zwischenrufe auf diese Rede ("Sollen wir noch einmal 40 Jahre warten?!) und verhaltenen Beifall.

So endet dieser Abend in Quedlinburg im Widerspruch der Bewegung, die sich über kurz oder lang spalten wird: Mit Begeisterung singt die Mehrheit die Becher-Hymne. Die Minderheit zieht ratlos nach Hause. Erst am nächsten Morgen erfahre ich, daß im hinteren Bereich der Kundgebung auf dem Carl-Ritter-Platz, am Fuße des 1000jährigen Schlosses, wo Heinrich I. seine Residenz hatte, sich incognito, als wollten sie das Gesamtbild runden, zu den Demonstranten einige Vertreter des amtierenden Kreisrats gestellt hatten. Unerkannt hörten sie in der Dunkelheit die Redner an, waren nicht Teil der Menge und gewannen einen falschen Eindruck von der Stimmung in der Bewegung. Die Forderung nach der Wiedervereinigung habe ja unter den Versammelten mehr Gegner als Freunde gehabt, erzählte mir am nächsten Morgen einer von ihnen.

Auch in dieser staatlichen Fehldiagnose liegt ein Stück meiner Quedlinburger Wahrheiten.

Samstag, 2.12.1989, Ballenstedt

Am Fuß eines Berges in Ballenstedt fliegt eine Lungenklinik, oben auf der Erhöhung die Bezirksparteischule der SED, wo die Kreisdelegiertenkonferenz der Quedlinburger Genossen ab 8.00 Uhr stattfindet. Ab 7.15 Uhr ist ein Protest gegen diese Veranstaltung an der Lungenklinik angesagt.

Um 7.15 Uhr sind dann tatsächlich einige hundert Menschen versammelt, mit Kerzen und Transparenten. Zufällig gerate ich in den Strom der ersten zur Bezirksparteischule hochfahrenden Delegierten und werde, meinem Autokennzeichen zum Trotz, mit Pfiffen und Beschimpfungen ein Stück auf dem Weg geleitet "Arbeiten, arbeiten", brüllen die Demonstranten. Auch der Quedlinburger SED-Kreis hat seine Mini-Mittags: der ehemalige Erste Sekretär der Partei und der Vorsitzende des Rates stehen unter Verdacht des "Amtsmißbrauchs und der Korruption". Den einen hat man angezeigt, beide aber erst vor zwei Tagen aus der Kreisleitung entlassen. - Nicht schneller als in der Berliner Zentrale erfolgt der Wandel in der Provinz.

 

Ich gehe noch einmal zu den Demonstranten zurück. Die Stimmung gegen die SEDler wird zunehmend aggressiver. Fäuste werden geschwungen und klatschen auch schon mal auf die Plastekarosserien. Nur eine Minderheit steht schweigend Spalier, hält die Zeichen der Friedfertigkeit, die Kerzen, mahnend den Delegierten entgegen. Es ist bitterkalt, heißer Tee wird gereicht ein Delegierter, ein Mitarbeiter vom VEB Mertik, dem größten Quedlinburger Betrieb, kommt zu Fuß durch die Gasse und erntet Pfiffe, als er für sich reklamiert "Auch ich bin das Volk." "Dann geh doch nicht hoch", sagen die, die ihn umringen. Der Delegierte rückt seine Brille zurecht "Ich will etwas ändern, darum nehme ich teil." - "Laßt ihn doch", lenkt einer ein, "er kneift wenigstens nicht" So lassen sie ihn, er geht, sie sprechen noch kurz über den Vorfall und wenden sich dem nächsten Fahrzeug zu.

Kurz nach acht wird die Konferenz eröffnet. Der neue, noch junge Erste Sekretär Hans-Jürgen Schmidt, Anzug, Krawatte, weißes Hemd, schwarze, am Rande gescheitelte Haare, ein blasser, entschlossen wirkender Mann, erinnert an die verstorbenen Genossen des Jahres. Die Delegierten erheben sich. Dann verliest Schmidt die Geschäftsordnung. Ein zeitgemäß kleines, vierköpfiges Präsidium wird gewählt. Es nimmt sich in dem zweireihigen, auf 22 Sitze ausgelegten, festinstallierten Podium verloren aus. Vor grünem Vorhangtuch hängt die Fahne der Partei. Von 350 Delegierten sind 267 anwesend. Die Forderung nach Rücktritt der Kreisleitung findet keine Mehrheit im Saal. Dafür werden (mit etlichen Gegenstimmen) vier Vertreter des Neuen Forums eingeladen. (Sie treffen nach der Frühstückspause ein und entschuldigen sich für die Übergriffe am frühen Morgen.) Hans-Jürgen Schmidt stellt in seinem Bericht fest "Was in unserem Land abläuft, ist eine revolutionäre Volksbewegung für den Sozialismus, in der unsere Partei nicht an der Spitze steht... Der Sozialismus steht nicht zur.. Disposition. Aber viele fragen, ob der Sozialismus in der DDR noch eine Chance hat. Er fordert, sich "mit Nachdruck und unerbittlich einer wahren innerparteilichen Demokratie" zuzuwenden. "Daß wir 'auf dem Weg sind, beweisen die zuletzt stattgefundenen Mitgliederversammlungen in unserem Kreis." (Ich nahm an einer teil, bei VEB Mertik, ein niedergedrücktes Treffen, auf dem nur 35 Prozent der übriggebliebenen Genossen anwesend waren und nachdem sie sich über ihre Beschlußfähigkeit gestritten hatten - eine zeitlang die Frage künftiger Beitragsstaffelungen besprachen.)

Die Fakten, die der Erste Sekretär nennt, zeichnen das Bild des Verfalls: 2380 Austritte bei 9752 verbleibenden Mitgliedern im Kreis. Ein Ende der Austrittsflut ist nicht abzusehen. Das Gebäude der Ortsleitung Quedlinburg soll aufgegeben, das "Haus der Einheit", Sitz der Kreisleitung, zu einer allgemeinen Begegnungsstätte werden: Endzeitzeichen. Und es paßt nur zu gut daß im Saal eine beinahe gleichgültige Stille herrscht. Wer erwartet, daß die Delegierten aufstöhnen und klagen, wird enttäuscht. Sie bleiben ruhig, fast apathisch in den Kinositzen des Saals. (In der Sitzung beim VEB Mertik sprang einer auf, aus Wut über einen Ausgetretenen, und schrie in den Saal: "Das habt ihr doch alle gewußt, daß der mit Autos schiebt...". Eine Genossin legte die Hand auf seinen Arm. "Laß man, sagte sie) - "In wenigen Tagen", schließt Schmidt seinen Bericht, "klopft der Winter an die Tür. Der Sonderparteitag wird ihn nicht aufhalten... An die Spitze des Kampfes! muß die Losung sein..." Der Beifall ist höflich. Frühstückspause. Zielstrebig geht es in die Kantine. Ich höre, daß in dieser Versammlung ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl herrsche.

Nach der Pause sagt Gerhard Meyer, ein vierschrötiger alter Genösse, seit 40 Jahren in der Partei, einer der wenigen, aus dem die Erschütterung spricht "Ich habe oft aus Parteidisziplin gelogen und es ehrlich gemeint. Jetzt sehe ich, wie ich mißbraucht worden bin. Meine eigenen Kinder sagen zu mir, schon vor einem Jahr haben sie das getan: Vater, dein Sozialismus hat versagt ... Es ist eine Schande, es belastet mich so, daß meine eigenen Kinder mir als Politiker nicht vertrauen." Meyer fordert (wie wenige andere auch) die Auflösung der SED. Er ist in der Minderheit Auch hier steht die Moral auf der Verliererseite. Die meisten Mitglieder der SED registrieren zwar den Machtverfall, begreifen aber die Folgen nicht, daß die Tage gezählte sind; daß nichts mehr auf ewig bestimmt ist. Es muß wohl so sein, daß in diesem bitteren Auflösungsprozeß in Quedlinburg und andernorts kein Fehler vermieden wird.

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