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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822

2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

12. November 1989

Nach Mitteilung des DDR-Innenministeriums sind seit Öffnung der Grenze 4 298 375 Visa für Privatreisen in die BRD und nach Berlin (West) bzw. andere Staaten sowie 10 144 Visa zur ständigen Ausreise erteilt worden.

Nach offiziellen vorläufigen Angaben besuchen am Wochenende annähernd zwei Millionen DDR-Bürgerlnnen Westberlin. Bei der Eröffnung des neuen Grenzüberganges Berlin Potsdamer Platz sind auch Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack und der Regierende Bürgermeister von Berlin (West), Walter Momper, zugegen und wenden sich mit Ansprachen an die anwesenden BürgerInnen.

Für die Initiativgruppe Neues Forum äußern sich Jens Reich, Sebastian Pflugbeil, Bärbel Bohley, Reinhard Schult, Eberhard Seidel und Jutta Seidel zum Fall der Mauer in einem Flugblatt:

"Auf diesen Tag haben wir fast 30 Jahre gewartet. Mauerkrank haben wir an den Gitterstäben des Käfigs gerüttelt. Die Jugend wuchs mit dem Traum auf, einst frei zu werden und die Welt zu erfahren. Dieser Traum wird jetzt erfüllbar sein: Es ist ein Festtag für uns alle!

Der Alltag wird wiederkehren. Die offene Grenze wird das politische Chaos und die desolate Wirtschaftslage kraß zutage bringen, die die abgetretene Politbürokratie hinterlassen hat. Wer vor 1961 schon dabei war, kennt die Auswirkungen, die uns drohen: Jagd nach der durch schiefes Preissystem überbewerteten DM, die zur Leitwährung für Dienstleistungen, Reparaturen und Mangelware wird; Ausverkauf unserer Werke und Güter an westliche Unternehmer (direkt oder indirekt)­; Grenzgängertum, Schwarzhandel und Devisenschmuggel (insbesondere in Berlin). Unsere Erholungsgebiete werden vom Westmarktourismus überfüllt werden, sicher auch die Sanatorien und Spezialkrankenhäuser von Westmarkpatienten. Unser Geld, das durch Tausch abfließt, wird wiederkehren, preisgestützte Waren aufspüren und die Inflation aufheizen. All das bedroht die sozial schwächere Hälfte der Bevölkerung, während die Westgeld-Löwen oben schwimmen und immer reicher werden.

Wir wollen jetzt keine Panik erzeugen. Wir stemmen uns auch nicht gegen die dringend notwendige Wirtschaftskooperation mit dem Westen. Wir rufen nicht nach Anordnungen und Verboten, die ohnehin nicht greifen werden. Wir rufen aber dazu auf, die drohenden Krisenfolgen nicht hinzunehmen.

Bürgerinnen und Bürger der DDR!

Eure spontanen und furchtlosen Willensbekundungen im ganzen Land haben eine friedliche Revolution in Gang gesetzt, haben das Politbüro gestürzt und die Mauer durchbrochen.

Laßt Euch nicht von den Forderungen nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft ablenken! Ihr wurdet weder zum Bau der Mauer noch zu ihrer Öffnung befragt, laßt Euch jetzt kein Sanierungskonzept aufdrängen, das uns zum Hinterhof und zur Billiglohnquelle des Westens macht! Achtet genau darauf, wem die jetzt eintretenden Unternehmungen und Geschäfte Vorteil bringen werden und wie hoch die sozialen Kosten sind. Laßt das Land nicht verhökern und Euch nicht als Mietsklaven verdingen!

Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen. Ihr seid die Helden einer politischen Revolution, laßt Euch jetzt nicht ruhig stellen durch Reisen und schuldenerhöhende Konsumspritzen!

Fordert die Erfüllung der politischen Reformen und die Ausarbeitung eines sozialverträglichen Wirtschaftskonzepts. Verlangt freie Wahlen für eine echte Volksvertretung ohne vorgeschriebene Führungsrolle, verlangt ein Verfassungsgericht, verlangt die Freiheit des Wortes und der Presse, eine Justizreform, eine Bildungsreform, unabhängige Gewerkschaften; fordert die sofortige schonungslose Offenlegung der ,tatsächlichen Wirtschaftslage. Laßt nicht zu, daß die Politbürokratie sich aus ihrer Verantwortung davonstiehlt und Euch das Auslöffeln der Suppe überläßt!"

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