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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822

2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

1. November 1989

Die Partei- und Staatschefs der UdSSR, Michail Gorbatschow, und der DDR, Egon Krenz, führen in Moskau einen Meinungsaustausch und kommen zu "völliger Übereinstimmung in allen Fragen". Im Bericht von ADN heißt es:

"(...) Sie betonten die Verantwortung und Entschlossenheit ihrer Parteien, mit der Kraft aller Kommunisten und der ganzen Gesellschaft die revolutionäre Umgestaltung zum Erfolg zu führen und dafür das bei weitem noch nicht erschlossene moralische, geistige und materielle Potential des Sozialismus umfassend zu mobilisieren. Sie unterstrichen, die Kommunisten beider Länder seien dabei, den heutigen Bedingungen entsprechend Formen und Methoden zur weiteren qualitativen Ausgestaltung der politischen Vorhutrolle der marxistisch-leninistischen Parteien zu suchen und zu erproben. (...)" (ND, 2. 11. 1989) 

Auf der anschließenden Pressekonferenz wertet Krenz das Gespräch als "ausgezeichnet'. Auf entsprechende Fragen von Journalisten äußert Krenz u. a., sein unlängst mit BRD-Kanzler Helmut Kohl geführtes Telefongespräch habe in ihm den Eindruck hinterlassen, man sei sich einig, daß die Tatsache zweier deutscher Staaten genutzt werden solle, um miteinander auszukommen. Auf die Frage, ob mit der nun zugesagten Reisefreiheit für DDR‑Bürger auch die Mauer abgetragen werde, sagte Krenz, solche Gründe, die zur Errichtung der Grenze führten, bestünden weiter. Man müsse reale Schritte tun und keinen Träumen nachhängen. Auch die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands stehe nicht auf der Tagesordnung. Zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages 1968 in die CSSR sagt er, er habe nichts zu revidieren und diesen Beschluß nicht zu bedauern. Zum Führungsanspruch der SED erklärt Krenz, er werde alles dafür tun, damit dieses in der Verfassung verankerte Prinzip realisiert werde. Zur Wende in der DDR äußerte er, die Entscheidung für die Wende sei nicht von heute auf morgen getroffen worden, sie sei Ergebnis einer kollektiven Diskussion innerhalb der Partei, die die Kraft besitze, diese Wende selbst herbeizuführen. Eine Partei mit über zwei Millionen Mitgliedern sei in der Lage, auch schwierige Zeiten zu überstehen. Die derzeitigen Veränderungen in der DDR seien Ergebnis der Arbeit des Politbüros und des Zentralkomitees der SED. Er fasse die Tatsache, daß viele DDR‑BürgerInnen auch in diesen Tagen sich zu Kundgebungen, zu Treffen zusammenfinden, als Ausdruck dafür, daß man dafür ist, daß die Neuerungen, die die SED begonnen habe, unumkehrbar gemacht werden. 

Die seit Mitternacht wieder geöffnete Grenze zur CSSR passieren bis in die Nachmittagsstunden rund 8 000 DDR-BürgerInnen. 

In Berlin beginnt ein dreitägiger Philosophiekongreß. In seiner Eröffnungsrede stellt Prof. Dr. Alfred Kosing, Präsident der Vereinigung der Philosophischen Institutionen der DDR, u. a. fest:

"(...) Wir, jeder von uns, wir haben uns kritisch und selbstkritisch mit Verantwortungsbewußtsein und wissenschaftlicher Redlichkeit zu fragen, ob und in welcher Weise die marxistisch‑leninistische Philosophie ihren gesellschaftlichen Auftrag erfüllt hat, wieweit sie ihn und aus welchen Ursachen verfehlt hat und welche Konsequenzen sich daraus auch für die Erneuerung der Philosophie selbst ergeben. (...)" (ND, 2. 11. 1989) 

Frauenforscherinnen wenden sich im Ergebnis eines Rundtischgespräches mit der Illustrierten "Für Dich" 'in einem Brief an das SED-Zentralkomitee, der wie folgt lautet, 

"Geht die Erneuerung an uns Frauen vorbei? 

In dem jetzt in Gang gekommenen Dialog spielen die Interessen von Frauen bislang keine Rolle. In unserer Gesellschaft existiert kein öffentliches Bewußtsein über die reale Lage der Frauen und ihres weitgehenden Ausschlusses aus den wichtigsten Entscheidungsbereichen der staatlichen und politischen Macht. Reformen werden nur dann Erfolg haben, wenn die Interessen der weiblichen Hälfte unserer Gesellschaft wahrgenommen und berücksichtigt werden. Das müssen in erster Linie Frauen selbst in Gang bringen und mit allen gemeinsam durchsetzen. Dazu bedarf es konkreter Interessenvertretungen, demokratischer Organisationsformen und -strukturen, die den Frauen Macht- und Entscheidungsbefugnisse geben. 

Wir fordern, daß auf dem anstehenden Plenum des Zentralkomitees der SED diese Fragen auf die Tagesordnung kommen und bei der konzeptionellen Vorbereitung des XII. Parteitages der SED wie auch bei der Veränderung politischer und staatlicher Strukturen grundsätzlich mitgedacht werden. 

Auf der Grundlage der bereits geschaffenen Bedingungen für Frauen stehen unseres Erachtens kurzfristig folgende Aufgaben zur Entscheidung an:  

- Quotierung, das heißt gleiche Anteile von Frau und Mann an Funk­tionen und Ämtern in Staat, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft und Schaffung entsprechender Arbeits- und Lebensbedingungen; 

- Umgestaltung im Staatsapparat, in Parteien, in der Gewerkschaft und den gesellschaftlichen Organisationen in der Weise, daß spezielle Bedingungen, Bedürfnisse und Interessen von Frauen artikuliert und durchgesetzt werden können, zum Beispiel durch Frauenabteilungen und -kommissionen mit entsprechenden Macht- und Entscheidungsbefugnissen; 

- Neuprofilierung des DFD und/oder Zulassung einer selbständigen Frauenbewegung, die die Interessen der Frauen in allen Bereichen ihres Lebens erfaßt 

- Bildung eines Ausschusses für Frauenfragen in der Volkskammer und eines Gremiums auf höchster Regierungsebene; 

- Förderung der Aktivitäten von Frauen, sich eigene Lebensräume zu schaffen (Medien, Klubs u. ä.); 

- der vorrangigen Zuschreibung von Familienaufgaben an Frauen ist durch Orientierung auf Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft und Änderung der entsprechenden sozialpolitischen Maßnahmen, die Väter bisher nur bedingt daran beteiligten, entgegenzuwirken; 

- das System der Dienstleistungen und Versorgung, der Kinderbetreuung und des öffentlichen Nahverkehrs ist qualitativ zu verbessern, und territoriale Unterschiede sind abzubauen. 

Wir sind bereit, unsere Vorstellungen, die Ergebnisse unserer wissenschaftlichen Arbeiten und unsere Vorschläge öffentlich zur Diskussion zu stellen." (BZ, 7. 11. 1989)

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