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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822  
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

31. Oktober 1989

Das SED-Politbüro tritt zu einer Sitzung zusammen. In der Pressemitteilung heißt es u. a.:

Das Politbüro behandelte Vorschläge für ein Aktionsprogramm der Partei, das der 10. Tagung des Zentralkomitees zur Beratung unterbreitet wird. ( ... ) Weiter beriet das Politbüro den Entwurf eines Gesetzes über Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland, der dem Ministerrat zur weiteren Behandlung unterbreitet wird. ( ... )"

(ND, 1. 17. 1989)

Am Abend trifft Staats- und Parteichef Egon Krenz auf Einladung Michail Gorbatschows zu einem Arbeitsbesuch in Moskau ein. Auf Fragen von Journalisten erklärt Krenz u. a.:

"( ... ) Wir haben sehr interessante Erfahrungen auf vielen Gebieten, vor allem auf der Ebene der Ökonomie, im politischen Leben. Aber wir wollen weiter voran. Und als Kommunisten denken wir immer daran. Wir sind die Partei der Neuerer, und den Neuerem folgen die Leute gern. Wir sind für alle Fragen offen. Unsere Partei schaut der Wahrheit ins Gesicht. Und wenn es um die Wahrheit geht, bin ich zu jedem Streit bereit. (..

(ND, 1. 11. 1989)

In Beantwortung eines Briefes des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes an das SED-Zentralkomitee schreibt Generalsekretär Krenz u. a.:

"( ... ) Die eingeleitete Wende, die es durch konkrete Taten weiter zu untermauern gilt, braucht auch fürderhin und jetzt erst recht das Wort der Autoren unseres Landes. Die notwendige Erneuerung unserer Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie von den breitesten Schichten des Volkes getragen wird. Das diesem Ziel dienende umfassende offene Gespräch muß fester Bestandteil unserer politischen Kultur werden. Dabei werden Wort und Tat auch der Schriftsteller gebraucht, damit wir gemeinsam in der Verantwortung gegenüber unserem Volk für ein sinnerfülltes Leben in Frieden und in einem stetig attraktiver werdenden' Sozialismus ' gerecht werden. Ich möchte die Hoffnung ausdrücken, daß Ihr unserer Politik der Wende Eure ganze Unterstützung angedeihen laßt. ( ... )"

(ND, 1. 11. 1989)

Das Präsidium der Akademie der Wissenschaften der DDR gibt die von ihm verabschiedete Erklärung bekannt, in der es u. a. heißt:

Wir bekennen uns zu engagierter Suche nach neuen gesellschaftlichen Lösungen, zum offenen Streit der Meinungen und zu verantwortungsbewußter, disziplinierter Arbeit als Weg aus der kritischen Situation.

I. Die Fehlentwicklungen, die zu dieser Situation geführt haben, bedürfen einer gründlichen Analyse, die Irrtümer und Versagen offenlegt, Verantwortlichkeiten benennt und daraus die notwendigen Konsequenzen zieht. Von der bevorstehenden 10. Tagung des Zentralkomitees der SED erwarten wir dazu einen wesentlichen Beitrag. ( ... )

Kritisches Nachdenken über die Grundwerte des Sozialismus ist unerläßlich, um zu einer neuen gesellschaftlichen Identität zu finden. Die Gesellschaft braucht Klarheit darüber, auf weichen Ebenen. und in welcher Reihenfolge grundsätzliche Veränderungen vorgenommen werden müssen und welche Ergebnisse unserer bisherigen Arbeit wir in den Prozeß der Erneuerung mitnehmen können.

Wir erklären uns

- für die konsequente Weiterführung der wissenschaftlich-technischen Revolution auf einem Niveau, das alle Vorzüge der internationalen Zusammenarbeit und Arbeitsteilung nutzt und auf eine höhere Lebens- und Umweltqualität gerichtet ist,

- für die Entwicklung und Anwendung von. Hochtechnologien bei grundlegend verbesserter Einhaltung der volkswirtschaftlichen Proportionalität und raschem Ausbau der vernachlässigten Infrastruktur;

- für eine von Gängelei und Formalismus befreite Planung, die Zielstrebigkeit mit Flexibilität verbindet und Raum für Eigenverantwortung und schöpferische Initiative gewährt,

- für eine Preisgestaltung, die den realen Aufwand für alle Leistungen durchschaubar macht und den sparsamen Umgang mit Ressourcen aller Art fördert

- für eine gerechte Leistungsbewertung in allen Bereichen der Gesellschaft, die von niemand umgangen werden kann, bei gleichzeitiger Gewährleistung sozialer Sicherheit für alle.

Die Ausübung leitender Funktionen in Politik und Staat sollte künftig grundsätzlich auf zwei aufeinanderfolgende Wahl- bzw. Berufungsperioden begrenzt werden. Bei der Besetzung von Ämtern und Funktionen in Wirtschaft, Wissenschaft, Volksbildung, Gesundheitswesen usw. sollten Sachkompetenz und Führungsqualitäten, moralische Integrität und Verbundenheit mit dem Sozialismus, nicht Parteizugehörigkeit das entscheidende Kriterium bilden. Für alle Wahlfunktionen sollte die Wahl als Auswahl verstanden werden und geheim erfolgen.

Durch langjährige Gewohnheiten haben sich Verhaltensweisen der Anpassung an autoritär vorgegebene Ansichten, der Resignation und des Taktierens herausgebildet. Die Kultur des Meinungsstreites hat erheblichen Schaden genommen. Leitende Kader müssen lernen, Auffassungen ernsthaft zu prüfen, die ihrer eigenen Meinung entgegengesetzt sind. Wir müssen uns wieder daran gewöhnen, andere Ansichten nicht ungeprüft zu verwerfen oder gar als Angriff auf die eigene Person aufzufassen. Eine Atmosphäre freimütiger Kritik bei gegenseitiger Achtung der Partner, wie sie auch den traditionellen Werten der Wissenschaft entspricht; ist für unsere ganze Gesellschaft notwendig. ( ... )

Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands und die Regierung der DDR müssen durch eine Strategie, die den gemeinsamen Grundinteressen aller gesellschaftlichen Kräfte entspricht, das Vertrauen der Bürger wiedergewinnen. Wir sehen uns in der Pflicht, mit unserem Sachverstand und unserer Kritikfähigkeit dazu beizutragen.

II. ( ... ) Der gesellschaftliche Rang der Wissenschaft in Unserem Land muß spürbar erhöht werden., Vertrauen zur Wissenschaft, das sich in ihren ' Entwicklungsbedingungen objektiv ausdrückt, ein weiter Raum für ihre eigenverantwortliche Gestaltung und gewissenhafte Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft gehören untrennbar zusammen. ( ... )

Die Wissenschaft ist gefordert, alternative Möglichkeiten der Entwicklung für die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche zu erkunden, Entscheidungsgrundlagen vorzubereiten und der öffentlichen Diskussion vorzulegen. Dazu bedarf es des freien Zugangs zu allen relevanten Daten. Von der politischen Praxis erwarten wir, daß sie diese Leistungen der Wissenschaft umfassend in Anspruch nimmt und von ihr abfordert. ( ... ) Die Gesellschaftswissenschaften stehen dabei in einer besonderen Verantwortung. ( ... )

Wir wenden uns entschieden dagegen, mit hohem Aufwand Prestige- und Vorzeigeergebnisse zu schaffen und dafür große Potentiale von wissenschaftlich und volkswirtschaftlich wichtigen Aufgaben abzuziehen.

Für die Wissenschaft müssen strenge Effektivitätsmaßstäbe gelten, die auf den internationalen Höchststand bezogen sind. Das Messen und die Bewährung der eigenen Leistungen im internationalen Niveau bilden in der Wissenschaft die wirksamste Form des Wettbewerbs, neben der gesonderte Wettbewerbsprogramme keinen Platz haben. Der internationale Austausch in der Wissenschaft verdient jegliche Förderung. ( ... )

III. (...) Die Vertraulichkeitsvorschriften für die Forschung sind auf das unerläßliche Minimum zu reduzieren. Die Möglichkeiten der Institute, sich von für die Forschung ungenügend befähigten Mitarbeitern zu trennen, sind wesentlich zu verbessern. (. ..) Vordringlich ist die rasche Überwindung des unvertretbaren Rückstandes in der materiell-technischen Ausstattung der Institute, der von der Überalterung der hochspezialisierten Forschungstechnik bis zu erheblichen Mängeln in den elementaren materiellen Bedingungen des Forschungsbetriebes reicht. Drastisch gesenkt werden muß der organisatorische Aufwand für die Beschaffung von Forschungsmitteln. Die der Akademie übertragenen Fonds müssen rechtsverbindlich und einklagbar sein. Die unumgängliche Anhebung des gesellschaftlichen Status der Grundlagenforschung muß es für die begabtesten Wissenschaftler wieder attraktiv machen, mit strengen Leistungsansprüchen an sich selbst auf diesem Gebiet zu arbeiten. (...)"

(ND, 1. 11. 1989)

Nach Mitteilung der Pressestelle des Innenministeriums wird ein Einspruch gegen die ablehnende Entscheidung des Ministers des Innern geprüft, der sich auf die Anmeldung zur Gründung des Neuen Forum bezieht.

Der Vorsitzende der CDU-Volkskammerfraktion, Wolfgang Heyl, hatte in einer Anfrage die Auffassung vertreten, daß der frühere Bescheid des Innenministeriums in dieser Angelegenheit zurückgezogen werde und sich die Tätigkeit des Neuen Forum auf legaler Grundlage vollziehen kann.

Mehrere tausend Demonstranten verlangen in Weimar unverzüglich Reformen in Wirtschaft und Staat. Mit gleichen Forderungen versammelten sich in Meißen 10 000 und in Meiningen 5 000 BürgerInnen.

Die "Berliner Zeitung" informiert über den unter recht merkwürdigen Bedingungen entstehenden Bau eines Einfamilienhauses: "Zwei Etagen mit reichlich 200 m' Wohnfläche, zehn Räume, Gasheizanlage, Bäder und Duschen, die Fenster sind BRD-Import, ein zweistöckiger Wintergarten ist im Entstehen." Die Baukapazität für dieses Eigenheim wird offenbar aus der FDJ-Initiative Berlin zu Unrecht bezogen. Als Bauherr wird der Vorsitzende des Zentralvorstandes der IG Metall, Gerhard Nennstiel, festgestellt.

Diese Information löst in der Öffentlichkeit große Empörung aus. Sie ist die erste Veröffentlichung, die auf Erscheinungen von Amts- und Machtmißbrauch aufmerksam macht. Die Untersuchung der Umstände dieses Baus führt zum Rücktritt Nennstieis am 1. November 1989 von seiner Funktion.

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