zurück

Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822  
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

25. Oktober 1989

Die Bürgerbewegung Demokratie jetzt gibt eine "Erklärung zu Krenz" ab. Sie lautet:

"Die Initiativgruppe der Bürgerbewegung Demokratie jetzt bedauert die Wahl des Generalsekretärs der SED Egon Krenz zum Vorsitzenden des Staatsrates und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates.

Als Vorsitzender der Zentralen Wahlkommission ist Egon Krenz verantwortlich für die Fälschung der Kommunalwahl am 7. 5. 1989. In seiner Zuständigkeit für Sicherheitsfragen im Politbüro muß er als einer der Hauptverantwortlichen für den gesetzwidrigen Terror der Schutz- und Sicherheitsorgane gegen meist friedliche Demonstranten in den Tagen um den 7. Oktober angesehen werden.

Er ist somit in hohem Maße mitverantwortlich für die andauernde Staatskrise der DDR. Dazu kommt, daß er die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in China wiederholt und zuletzt bei seiner Chinareise im September begrüßt und gutgeheißen hat. Es muß bezweifelt werden, daß er als Vorsitzender des Staatsrates das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung der DDR genießt. Die Wahl ohne Gegenkandidat und die Vereinigung der höchsten Staatsämter in der Hand des Generalsekretärs der SED legt den Schluß nahe, daß die Unterordnung des Staates unter die Politbürokratie der Partei in Form des Regimes der Parteinomenklatur weitergehen soll. Dies ist aber nach unserer Einsicht der wesentliche Grund für die gegenwärtige Krise."

(DJ 3/89)

Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow, empfängt Vertreter des Neuen Forum zu einem Gespräch. Im Gegensatz zu einer Anweisung aus dem SED-ZK-Apparat, das Gespräch zur Bürgerbewegung zwar zu suchen, sie aber nicht zu akzeptieren, bezieht Modrow in dieser Begegnung eine Position, die eindeutig auf das Suchen politischer Lösungen gerichtet ist.

Nach einem Friedensgebet in der Johanniskirche von Neubrandenburg formieren sich 20 000 Bürger zu einem "Marsch der Hoffnung" ins Zentrum der Bezirksstadt. Oberbürgermeister Dr. Heinz Hahn fordert zum Wochenende zu zwei Diskussionsrunden auf, denen weitere "Sonnabendgespräche" mit den BürgerInnen folgen sollen. SED-Bezirkschef Johannes Chemnitzer bittet, die Lösung von angestauten Fragen nicht länger in Demonstrationen zu suchen.

Auch in Jena gehen 10 000 auf die Straße.

In der ARD-Sendung "Tagesthemen" teilt SED-Politbüromitglied und SED-Bezirkssekretär von Berlin, Günter Schabowski, mit, er habe Konsistorialpräsident Manfred Stolpe gebeten, die Kirche möge ihren Einfluß geltend machen, damit Demonstrationen friedlich verlaufen,- das Gespräch mit Oppositionsgruppen sei "längst im Gange".

Der Vorsitzende des Verbandes der Journalisten, Eberhard Heinrich, schlägt in einem Brief an SED-Politbüromitglied und DDR-Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph u. a. vor, ein Mediengesetz zu erarbeiten und durch die Volkskammer zu verabschieden, in dem Rechte und Pflichten eindeutig geregelt sind, womit Subjektivismus und Willkür ausgeräumt, die Verfassungsgrundsätze über Pressefreiheit im Sozialismus eindeutig geregelt und ein Mißbrauch ausgeschlossen werden kann. Dieses Gesetz, an dessen Erarbeitung der VDJ bereit ist mitzuwirken, sollte vor Beschlußfassung öffentlich diskutiert werden.

Der Rat der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR verabschiedet eine Erklärung, in der er erste Vorschläge für den Ausbau der Rechtsordnung und die Erhöhung der Rechtssicherheit im Lande unterbreitet.

In der Erklärung wird u. a. festgestellt, daß Fehlentwicklungen in der DDR zu lange geduldet wurden, bei anstehenden Reformen könne es jedoch nicht um weniger, sondern nur um mehr Sozialismus gehen. Dazu sei eine ehrliche Analyse in allen Bereichen Voraussetzung. Trotz beachtlicher Erfolge beim Ausbau der Rechtsordnung in der DDR sei zugelassen worden, daß mit Begriffen wie "Sozialistische Demokratie" und "Sozialistische Rechtsstaatlichkeit" vielfach selbstzufrieden umgegangen sei, ohne sie mit Leben zu erfüllen. Das Wort "sozialistisch" vor solchen Begriffen dürfe nicht länger als Einschränkung empfunden werden. Bei der Formulierung von Bürgerrechten sei nicht unabdingbar genug formuliert worden, zu oft gebe es Einschränkungen. In Einzelfällen habe es Verletzungen der Unabhängigkeit der Richter gegeben. Bei der Anwendung des § 213 des Strafgesetzbuches (Ungesetzlicher Grenzübertritt) habe es in letzter Zeit vielfach eine Verletzung der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz gegeben. Abgesehen von einem neuen Reisegesetz wird in der Erklärung folgende Rechtsentwicklung für erforderlich gehalten,

1. Ein neues Wahlgesetz sollte die Auswahl zwischen mehreren Kandidaten ermöglichen und bei der Stimmenauszählung in jedem Stadium die öffentliche Kontrolle garantieren.

2. Die Kontrolle der Rechtsvorschriften und anderer verbindlicher staatlicher Entscheidungen auf ihre Verfassungstreue sollte erweitert werden. Es sollte ein Organ geschaffen werden, an das sich auch Bürger wenden können, um entsprechende Überprüfungen zu veranlassen.

3. Wir brauchen ein Strafrecht, das klar zwischen Erlaubtem und Verbotenem unterscheidet und sich auf wirklich kriminelles Verhalten konzentriert, das von der Mehrheit der Bevölkerung als solches angesehen wird. Insbesondere bedürfen die Kapitel "Staatsverbrechen" und "Straftaten gegen die staatliche Ordnung" der Überarbeitung.

4. Die Arbeiten an der Neufassung der Strafprozeßordnung sollten mit der Zielstellung konsequent fortgesetzt werden, das Recht auf Verteidigung und die Rechte der Geschädigten und Opfer von Straftaten wesentlich auszubauen.

Die Transparenz der Rechtsprechung ist zu erhöhen.

Untersuchungshaftanstalten und Einrichtungen des Strafvollzugs .sollten in den Kompetenzbereich des Ministeriums der Justiz verlagert werden. Über Einschränkungen von Rechten der Untersuchungsgefangenen und der Strafgefangenen sollte ausschließlich der Richter entscheiden dürfen.

5. Das materielle Verwaltungsrecht sollte Schritt für Schritt neu gestaltet werden, um die Rechte und Pflichten der Bürger klarer zu formulieren und eine wirksame gerichtliche Nachprüfung zu ermöglichen.

6. Das VP-Gesetz ist neu zu gestalten, um die Befugnisse der Volkspolizei klarer, zu formulieren. Dies würde die Rechtssicherheit nicht nur für die Bürger, sondern auch für die Polizisten erhöhen.

7. Das Steuerrecht sollte für die Bürger vereinfacht, überschaubar und lebensnah gestaltet werden. Ungerechtfertigte Unterschiede in der Besteuerung von Handwerkern und Gewerbetreibenden sind zu beseitigen.

(BZ, 27. 10. 1989)

Der BRD-Politiker Wolfgang Mischnik, Vorsitzender der FDP-Fraktion im Bundestag, erklärt nach seiner mehrtägigen Reise durch die DDR, die u. a. auch zu einer Begegnung mit Staats- und Parteichef Krenz führte, vor der Bundespressekonferenz in Bonn u. a.: Aus den Gesprächen sei er zu dem Ergebnis gekommen, daß die in der DDR eingeleitete Wende nicht eine verbale Feststellung des Tages, sondern eine Veränderung in der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur mittel- und langfristig bedeute. Es sei von allen Seiten betont worden, daß das auf dem Boden der DDR-Verfassung geschehe, und das heiße auf dem Boden des Sozialismus.

nach oben