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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822  
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

23. Oktober 1989

In Leipzig demonstrieren nach Schätzungen aus Kirchenkreisen rund 300 000 (nach ADN 150 000) Bürger. Der Zug formiert sich nach Friedensgebeten in sechs Kirchen. Unter Rufen "Ohne Gewalt' ziehen die Demonstranten diszipliniert auf den Ring um das Stadtzentrum. Sie fordern freie Wahlen, weiterführenden Dialog und kritische Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR,- sie warnen vor neuen Machtkonzentrationen. in Sprechchören rufen sie u. a.: "Visafreiheit!" und "Reden und Handeln - Land verwandeln!". Ordnungskräfte greifen nicht ein.

Zum Montagsgebet versammeln sich im und um den Magdeburger Dom 10 000 Bürger und fordern in einem anschließenden Demonstrationszug entschiedene gesellschaftliche Erneuerung. Zu weiteren Kundgebungen und Demonstrationen kommt es in Dresden (mehrere zehntausend), Schwerin (50 000), Zwickau (15 000), Halle (10 000), Stralsund (4 000); die über 2 000 Demonstranten in Berlin fordern, daß sich der bevorstehenden Wahl zum Staatsratsvorsitzenden mehrere Kandidaten stellen.

Im Gemeindezentrum der evangelischen Kirchengemeinde am Fennpfuhl in Berlin-Lichtenberg berichtet Konsistorialpräsident Manfred Stolpe vor in- und ausländischen Journalisten, daß Bischof Forck dem Staatsrat der DDR eine Materialsammlung über die Ereignisse am 7. und 8. Oktober 1989 zugeleitet habe.

Mit einem von 59 Akademiemitgliedern unterzeichneten Schreiben wendet sich die Vollversammlung der Akademie der Künste an Volkskammerpräsident Horst Sindermann (SED). Unter Hinweis auf die aus Augenzeugenberichten bekanntgewordenen, durch Sicherheitskräfte an Demonstranten und Unbeteiligten verübte Gewaltakte wird die unverzügliche Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission durch die Volkskammer gefordert. "Es 'wäre uns unerträglich, wenn diese Vorgänge nicht restlos geklärt und die Verantwortlichen für die Befehle sowie diejenigen, die sie ausführten, nicht bestraft werden würden." Die Kommission müsse Zugang zu allen der Aufklärung dienenden Materialien haben und Empfehlungen geben, wie mit dem Untersuchungsergebnis zu verfahren ist. Sie soll der Öffentlichkeit über den Fortgang der Untersuchung laufend berichten.

Analoge Erklärungen richteten der Bezirksvorstand Berlin des Schriftstellerverbandes und der Berliner Verband Bildender Künstler an den Volkskammerpräsidenten.

Auf einer Zusammenkunft des Präsidiums des Komitees für Unterhaltungskunst äußert SED-Politbüromitglied und ZK-Sekretär Kurt Hager auf die Frage nach dem Beweggrund, Egon Krenz auch für den Vorsitz im Staats- sowie Nationalen Verteidigungsrat vorzuschlagen, das ZK der SED halte dies für notwendig, um die Wende zu sichern.

Im einem Flugblatt äußert sich Neues Forum zur Erklärung des neuen SED-Generalsekretärs Krenz vom 18. 10. 1989 wie folgt:

"Die neue Führung hat eine große Wende ausgerufen und unternimmt Anstrengungen, dafür Glaubwürdigkeit zu erwerben. Wir begrüßen diesen Wechsel.

Es bleiben kritische Fragen. Auch sie müssen beantwortet werden, wenn wir Vertrauen in die Wende gewinnen sollen.

Die erste Frage: Glasnost auf Knopfdruck? Innerhalb von 24 Stunden? Wie viele Wetterfahnen sind da umgeschwenkt? Wie konnten so viele im Apparat, in der Regierung, in der Volkskammer, in den bewährten Formen und Foren' so lange sprachlos sein und wie durch eine Wunderheilung die flüssige Rede wiederfinden?

Wer garantiert, daß nicht mit dem nächsten Knopfdruck der Schweigechor erneut einsetzt?

Welche Kontrolleinrichtungen sind notwendig, um das in Zukunft zu verhindern?

Hier sind Antwortvorschläge:

Schafft ein, zwei, drei, ... viele neue Foren, in denen Bürger Fragen stellen und Verantwortliche Antwort geben können, ebenso aber auch Regierende die Probleme darlegen und die Bürger Lösungen diskutieren und auswerten können. Erkennt das Neue Forum an! Verlangt von ihm, daß es seinen Status an die Verfassung anbindet, aber gebt ihm das Recht, sich über brennende Probleme zu äußern. Daß es mit Eingaben die Volkskammerausschüsse aufwecken kann, wenn diese wieder einschlafen. Daß es die Parteiführer einladen kann, wenn sich in deren

Verantwortungsbereich Hindernisse auftürmen. Daß es in den Medien Fragen stellen und Anhörungen organisieren kann und eine eigene Zeitung herausgeben kann.”

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