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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822  
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

8. Oktober 1989

In Berlin kommt es im Bereich der Gethsemanekirche und der Schönhauser Allee erneut zu Demonstrationen. Tausende nehmen daran teil. Die Polizei geht mit Hunden und Räumfahrzeugen gegen die Demonstranten vor. Über die gewaltsame Auflösung dieser und anderer Demonstrationen in Berlin verfassen von der Polizei Festgenommene später Gedächtnisprotokolle in einem Gesamtumfang von etwa 80 Seiten. Hier einige Auszüge:

“Eine Gruppe von etwa 100 Menschen bewegte sich vom Alexanderplatz über die Prenzlauer Allee und Dimitroffstraße und bog in eine Seitenstraße ein. Die Leute gingen ruhig, ohne Sprechchöre, unter Beachtung der STVO auf dem Bürgersteig lang. Von einem ‚Rädelsführer' war die Gruppe vorher eindringlich ermahnt worden, in keinem Fall, selbst bei Gewaltanwendung durch die Polizei, Gewalt in irgendeiner Form anzuwenden. Wer dafür nicht garantieren könne, wurde aufgefordert, die Gruppe zu verlassen. Nachdem die Gruppe in die Dunckerstraße eingebogen war, wurde diese von beiden Seiten durch Polizeiketten abgeriegelt ... Von hinten fuhr ein Wasserwerfer heran und beschoß alle im Kessel Befindlichen. Pfiffe aus den umliegenden Häusern wurden mit einem Wasserstrahl in die Fenster beantwortet. Danach wurden alle auf Wagen geladen und abgefahren. ( ... )"

"Nachdem sich etwa 20 Personen auf dem Wagen befanden, drei Uniformierte aufgesprungen waren, wurde gestartet. Und mit uns gemeinsam bewegten sich fünf LKWs in Richtung Immanuelkirchstraße, Polizeirevier ... Auf unserem LKW kamen Gespräche zustande, die die Gründe der Menschen für den Aufenthalt im Bereich Lychener/Ecke Stargarder Straße beinhalten. Eine Frau erzählte, daß sie in der Stargarder Straße wohne und mit dem Auto unterwegs war. Sie wurde aufgefordert, ihr Au ' to abzustellen. Beim Aussteigen wurde sie sofort festgenommen und auf den LKW befördert. Einem Mann ging es ähnlich. Er wollte zu seiner Freundin in die gemeinsame Wohnung. Nachdem man ihn vertröstet hatte, eine Weile zu warten', wurde er ebenfalls grundlos aufgeladen. Eine Mutter, die gemeinsam mit ihrem zwölfjährig en Mädchen unterwegs war, wurde gemeinsam mit der Tochter aufgeladen. Nur zwei von den auf unserem Wagen befindlichen Menschen waren von der Gethsemanekirche gekommen und wollten nach Hause gehen. Alle wurden einfach so, ohne Grund, aufgegriffen."

Als das Fahrzeug hielt und die hintere Klappe geöffnet wurde, erkannte ich sofort, daß wir in der Immanuelkirchstraße waren. Die große Aluminiumeinfahrtstür war weit geöffnet. Ich sah einen etwa fünf bis acht Meter langen Gang, auf dem etwa 20 Polizisten und zwei bis drei Helfer der VP (Volkspolizei), mit Gummiknüppeln rechts und links verteilt, eine Gasse bildend, standen. Gleichzeitig brüllten ein oder zwei Polizisten: Los runter! Im Lautschritt! und prügelten auf die ersten vor mir los. Dann war ich dran, Die ersten Schläge auf dem Fahrzeug, dann runterspringen, loslaufen, die Gasse' entlang (vor mir eine junge Frau). Schläge auf den Rücken, Hintern und Oberschenkel. Ich hielt die Arme vor dem Gesicht, kam auf einen Hof, hörte Kommandos: An die Wand stellen, Beine breit, Gesicht zur Wand, Arme hoch, Hände an die Wand.' Ich sehe beim Laufen drei Garagen, davon eine geöffnet, in der einige Leute breitbeinig stehen. Ich muß mich an ein geschlossenes Garagentor stellen. immer wieder höre ich, wie Leute geschlagen werden. Ich merke, wie ein Polizist von hinten auf mich zukommt. Er tritt mir gegen die Waden und brüllt: Beine und Arme weit auseinander!' Ich siehe jetzt etwa 90 Zentimeter von der Wand entfernt. Beine ungefähr genau so weit auseinander, die Arme gestreckt an die Wand gestützt. So stehe ich etwa eineinhalb Stunden. In dieser Zeit werden die Personalausweise eingesammelt und Leute geschlagen, die nicht ,richtig' stehen. Man hört Schreie und Hundegebell. ... Nachdem die eineinhalb Stunden vergangen sind, werde ich aufgefordert, im Laufschritt in die offene Garage zu gehen. Dort werde ich durch eine besonders extreme Körperhaltung gequält. Ich mußte mich an die Wand stellen in "gewohnter' Stellung. Dann kam ein Polizist von hinten und fordert mich mit den Worten Wir werden euch Demokratie schon beibringen' auf, von der Wand wegzukommen und die Beine noch weiter auseinander zu machen.... Mir wurden Schläge angedroht, falls ich zusammenbräche. Ich brach nach etwa 20 Minuten zusammen. Die Polizisten lachten und sagten, sie seien human, ich dürfe mich hinknien."

"Mein Nebenmann hielt nicht durch, brach langsam zusammen, dafür wurde er getreten, durfte sich danach aber als Gnadenakt (,Damit sie spüren, wie human wir sind') kniend an die Wand lehnen. Auf die Frage eines anderen, ob er auf die Toilette gehen kann, weil er blasenkrank sei, wurde geantwortet: Das will ein Deutscher sein? Bettnässer, was?' Andere hatten sich in die Hose gemacht vor Angst und wurden dafür verhöhnt und beschimpft."

"Ich hörte die Schläge und die Schreie des jungen, dazu bellten die beiden Polizeihunde, die ohne Maulkorb hinter uns angebunden waren. Ein Polizist sagte: Wollt ihr wissen, was Demokratie ist?' Darauf folgte ein Schlag und ein Schrei.... Es folgten noch Bemerkungen wie: ,In den USA hätten sie euch nicht anders behandelt.' Wir warten, bis ihr euch in die Hosen geschissen habt, dann können wir mit euch reden.' Ich stand da und zitterte vor Angst und Kälte."

"Seit ungefähr 30 Stunden hatten wir keine Information von draußen, und mir selbst kam es schon fast vor, als ob im Land ein Putsch der Republikaner stattgefunden hätte. Wir wußten nicht, wie lange das noch alles dauern würde, da von gesetzlichen Maßnahmen ja keine Rede mehr war."

"Danach wurde ich zum Verhör zu einer Frau der K. (Kriminalpolizei) gebracht. ... Ich mußte begründen, warum ich schwarze Kleidung trage, warum sich an meinem Sweatshirt ein Gorbatschow-Anstecker befindet, warum ich diesen Zettel (aus der Gethsemanekirche) in meiner Tasche habe. Ich wurde gezwungen, eine Erklärung zu schreiben, die beinhaltete, daß ich wisse, daß das Neue Forum verfassungsfeindlich sei und daß ich mit Ordnungswidrigkeitsbestrafung beziehungsweise mit strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen hätte, wenn ich die Ideen des Neuen Forums verbreitete oder mich mit ihnen identifizierte."

"Spätestens seit dem gestrigen Tag habe ich das Vertrauen zu unserem humanistischen Staat verloren. Ich dachte, daß wir den Militarismus spätestens seit 1949 abgebaut hätten. Für mich gibt es ab Sonnabend nichts mehr zu feiern. Ich glaube, daß 50 Prozent der jetzt Inhaftierten mit dem Gedanken spielen, einen Ausreiseantrag zu stellen."

(taz, 24. 10. 1989)

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