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Löcher in der Mauer
Materialiensammlung
DDR 1989

Neue Chronik DDR
1. Folge 2. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3730305822
 
2. Folge 1. Auflage Verlag Tribüne Berlin GmbH 1990 ISBN 3-7303-0594-8

Vom 2.9- 30.9.1989

2. September

  • Die Tageszeitungen der DDR teilen mit, daß Staats- und Parteichef Erich Honecker "nach erfolgreicher Gallenblasenoperation in gutem Gesundheitszustand" aus stationärer Behandlung entlassen wurde und einen Genesungsurlaub angetreten hat.
  • In ungarischen Auffanglagern warten mehr als 3 500 DDR-Bürger auf Ausreisemöglichkeiten in die BRD.
  • Die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen wendet sich mit einem Schreiben an DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker. Darin heißt es u. a.: "Beunruhigt und betroffen sieht die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, daß die Zahl derer, die einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen, nicht abnimmt, daß Bürger auf dem Weg über die ungarisch-österreichische Grenze die DDR verlassen und daß einzelne ihre Ausreise mit anderen Aktionen zu erzwingen suchen. Die Konferenz ist im Blick auf diese Situation ratlos. Auch die von der Konferenz erbetenen Reiseerleichterungen haben in ihrem bisherigen Umfang nicht dazu geführt, die Zahl der Ausreiseanträge zu vermindern. Die Konferenz kann keine kurzfristige Lösung für dieses Problem anbieten. Sie sieht eine wesentliche Ursache für Reiseanträge darin, daß von den Bürgern erwartete und längst überfällige Veränderungen in der Gesellschaft verweigert werden. Sie hält es für unabdingbar und dringlich, in unserem Land einen Prozeß in Gang zu setzen, der die mündige Beteiligung der Bürger an der Gestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens und eine produktive Diskussion 'der anstehenden Aufgaben in der Öffentlichkeit sichert und Vertrauen zur Arbeit der staatlichen Organe ermöglicht.
    Wir bitten deshalb erneut und dringlich darum,
    - offene und wirklichkeitsnahe Diskussionen über die Ursachen von Unzufriedenheit und Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft zu führen und sie nicht sogleich durch stereotype Belehrungen oder sogar Drohungen abzuweisen;
    - kritische Einwände der Bürger aufzunehmen und so zu berücksichtigen, daß sie in erkennbaren Veränderungen wirksam werden, die allen zugute kommen;
    - auf zutreffende Informationen in allen Bereichen von Politik und Wirtschaft und auf eine realistische Berichterstattung in unseren Medien hinzuarbeiten, die nicht im Widerspruch zu dem stehen, was der Bürger Tag für Tag selbst sieht und erlebt;
    - darauf hinzuwirken, daß alle Behörden jeden Bürger als mitverantwortlichen Partner respektieren und ihn nicht als Untergebenen bevormunden;
    - für alle Bürger, unabhängig von verwandtschaftlichen Beziehungen, Reisemöglichkeiten in andere Länder zu eröffnen;
    - allen ehemaligen DDR-Bürgern, die in ein anderes Land übergesiedelt sind, die Rückkehr offiziell zu ermöglichen.
    Die Konferenz ist sich dessen bewußt, daß die Lösung der gegenwärtigen Probleme ein langwieriger Prozeß sein wird. In diesem Prozeß wird auch die Verhandlungs- und Veränderungsbereitschaft anderer Staaten, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland, wichtig. Damit der Abbau der gegenwärtigen Spannungen und des einseitig wirkenden Wirtschaftsgefälles möglich wird, sind Umdenken und neue Konzeptionen erforderlich.
    Die Konferenz sieht ihre Aufgabe vordringlich darin, mit den Gemeinden zu bedenken, was es für uns als Kirche bedeutet, daß Menschen bei uns nicht bleiben wollen. Am Leben und Handeln der Christen soll erkennbar sein, daß sie selbst bereit sind, sich zu verändern und in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. (... ) Manche der Ausreisewilligen müssen wir fragen, an welchen Maßstäben sie ihre Lebensumstände und Lebenserwartungen messen. Wir warnen vor der Illusion, daß höherer wirtschaftlicher Wohlstand schon Lebenserfüllung bringt. Angesichts der bereits gerissenen unübersehbaren Lücken im Gesundheitswesen, in der Wirtschaft und in anderen Bereichen. müssen wir daran erinnern, daß jeder Mensch nicht nur Verantwortung trägt für die Gestaltung seines eigenen Lebens, sondern Mitverantwortung hat für die Gemeinschaft, in die er hineingestellt wurde. ( ... )"

3. September

  • In Leipzig wird die Herbstmesse eröffnet. Die Rundgangzeremonie der DDR-Staatsführung erfolgt unter Leitung des Vorsitzenden des Ministerrates und Politbüromitglieds Willi Stoph. Die SED-Zeitung "Neues Deutschland" berichtet auf vier Zeitungsseiten, die sie mit 30 Fotos illustriert, auf denen Stoph und andere SED-Führer posieren.
  • In Ungarn teilt Innenminister Horvath mit, die Lösung des Problems der DDR-Flüchtlinge werde noch ein bis zwei Monate Zeit in Anspruch nehmen, da zwischen DDR und BRD erst eine Lösung ausgehandelt werden müsse. Wie die BRD-Nachrichtenagentur dpa berichtet, sagte Horvath gegenüber dem Hamburger Magazin "Stern": "Eine Nacht- und Nebelaktion können wir und werden wir nicht zulassen. Die Erwartungen in der Bundesrepublik, daß in den nächsten Tagen 15 000 bis 20 000 Flüchtlinge auf einen Schlag Ungarn verlassen dürften, bezeichnet der Minister als falsch. Auf die Frage, ob die DDR-Bürger dann geordnet, Zug um Zug, ausreisen dürften, antwortete er: ,Nein. Erst müssen sich die BRD und die DDR darüber einigen.' ( ... ) Der Schlüssel liege in Bonn und Ost-Berlin, sagte Horvath. Zuerst muß die Bundesrepublik mit der DDR verhandeln und eine Einigung finden. Das ist nicht die Aufgabe Ungarns. Nicht wir sollen die DDR überreden, einer Lösung zuzustimmen, sondern die Bundesrepublik sollte das tun.' Die Ausreise der DDR-Bürger mit bundesdeutschen Pässen, die von der Bonner Botschaft in Budapest ausgegeben werden, sei vorläufig nicht' möglich. Denn dann würden wir anerkennen, daß Bonn die DDR-Bürger als eigene Staatsangehörige behandelt. Wir haben eine Vereinbarung mit der DDR. Für uns hat die DDR die Souveränität über ihre eigenen Staatsbürger.' Auch die Ausreise mit Papieren des Roten Kreuzes, wie bei den 104 Besetzern der bundesdeutschen Botschaft in Budapest, stellt laut Horvath keine Lösung dar. Was sich bei zehn, zwanzig oder hundert Leuten bewährt, kann man nicht für Tausende oder Zehntausende anwenden.
    (ND, 5.9. 1989)

4. September

  • In einer Erklärung gegenüber ADN stellt der Sprecher des DDR-Außenministeriums, Wolfgang Meyer, fest:
    "( ... ) Die DDR- hat gegenüber den DDR-Bürgern, die einen illegalen Grenzübertritt via UVR beabsichtigen, verbindlich zugesagt, daß sie nach Verlassen der diplomatischen Vertretungen beziehungsweise nach Rückkehr in die DDR keinerlei Strafverfolgung unterliegen.“ Ihnen werde auch rechtsanwaltschaftlicher Beistand zugesichert bei Antragstellung bzw. Wiederholung der Antragstellung auf ständige Ausreise. "Die DDR hat außerdem zugesichert, das sei unterstrichen, daß diese Bürger grundsätzlich in ihren Beruf und an ihre Arbeitsstelle zurückkehren können. ( ... ) Der Aufenthalt in diplomatischen Vertretungen oder an anderen Aufenthaltsorten außerhalb der DDR bringt keine Begünstigung und ist kein Weg zur Erreichung der ständigen Ausreise aus der DDR.
    (ND, 5.9. 1989)
  • In Leipzig versammeln sich am Nachmittag etwa 1 200 Menschen in der Nikolaikirche zum Friedensgebet:
    "( ... ) In seiner Andacht vermied Superintendent Magirius allzu harsche Kritik an der Staatsführung der DDR. Er beließ es bei der Anmerkung, daß wir, die wir hier leben und bleiben wollen, darunter leiden, daß nicht gemeinsam nach den Wurzeln gesucht wird, warum Leute das Land verlassen'. Den sehnlichsten Wunsch vieler GottesdienstbesucherInnen hatten einige in ein Buch am Eingang geschrieben: Wir halten durch bis zum Tag der Ausreise'. Zwei Personen beschränkten sich auf eine neue Kurzformel: 4. 9. 89, 9. Woche'. Draußen dann versuchten einige Oppositionelle, die sich nicht zu den Ausreisern' zählen, einen Demonstrationszug Richtung Marktplatz zu formieren. Blitzschnell entrollten sie Transparente mit den Forderun­gen: Versammlungsfreiheit - Vereinigungsfreiheit', Für ein offenes Land mit offenen Menschen- und Reisefreiheit statt Massenflucht'. Noch bevor Stasi-Beamte den Demonstranten die Transparente entrei­ßen konnten, hatten Fotografen und Kameraleute ihre Bilder im Kasten. Schweigend marschierte die erste Reihe los. Aus den umliegenden Straßen rückten Polizeiketten an. Alles sah danach aus, daß die 800 bis1000 Menschen eingekesselt werden sollten. Aber plötzlich klafft eine Lücke im Zug. Hinten blieben Menschen stehen und riefen: Wir wol­len raus!' Die Spannung war perfekt. Hilflos und wütend gaben die vor­deren Demonstranten ihren Versuch, durch die Innenstadt zu mar­schieren, auf; die meisten gingen frustriert nach Hause. Einige Aktivi­sten waren aus Furcht, vor den Karren der Ausreiser gespannt' zu werden, erst gar nicht zur Demo gekommen. Die Zurückgebliebenen wurden nicht müde, sich vor den Kameras zusammenzudrängen und die Hände zum Victoryzeichen emporzurecken. Vereinzelte Parolen zielten auf Veränderungen in der DDR, doch die Stimmung brachte eine Frau auf den Punkt: Die einzige Veränderung für mich besteht darin, daß ich ausreisen kann..' Erst als die Fernsehkameras nach zwei Stunden abzogen und auch der letzte Reporter genug geknipst hatte, löste sich die Versammlung allmählich auf. Unter Beachtung der roten Verkehrsampeln zogen schließlich gegen 20 Uhr 200 Menschen zum Bahnhof und forderten dort freie Fahrt nach Gießen'. ( ... )"
    (taz, 9. 9. 1989)
  • In Böhlen, Bezirk Leipzig, treffen sich Vertreter der sozialistischen Opposition. Zu ihnen gehören GewerkschafterInnen, autonome Studentenseminare, engagierte Christlnnen, Mitglieder der SED. Sie verabschieden den Appell "Für ' eine Vereinigte Linke in der DDR": "Angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation und der sich verschärfenden politischen Krise in unserem Land wenden wir uns mit diesem Aufruf an alle politischen Kräfte in der DDR, die für einen demokratischen und freiheitlichen Sozialismus eintreten. Ein linkes alternatives Konzept für eine Wende wird immer dringlicher! Wir sind uns der schwierigen Voraussetzung durchaus bewußt: Die Diskreditierung einer sozialistischen Perspektive durch das, was die hier Herrschenden zum Zerrbild dieses alten Kampfziels der Arbeiterbewegung verkommen ließen, hat bei der Bevölkerung mehr Desillusionierung und* Passivität als mutiges und problembewußtes Denken und Handeln bewirkt. Und doch gibt es nicht nur die Ausreisewelle, sondern auch immer mehr Menschen, die bleiben und die bestehenden Verhältnisse ändern wollen. Dabei ist die Herstellung eines breiten Konsenses unter den Linken in unserem Land und die Ausarbeitung eines realistischen, politisch tragfähigen und durchgreifenden gesellschaftlichen Programms einer sozialistischen Umgestaltung der DDR heute wichtiger als jemals zuvor. Das gilt aus mehreren Gründen:
    Zunächst zeigt die Umgestaltung in der UdSSR, daß tiefgreifende Reformen im real existierenden Sozialismus' nicht nur notwendig, son­dern auch möglich sind. Andererseits sprechen die gefährlichen politi­schen Turbulenzen im Gefolge des viel zu spät begonnenen gesell­schaftlichen Wandels in der UdSSR und der VR Polen eine deutliche Sprache: So zeigen zum Beispiel die jetzt ausufernden (weil über Jahr­zehnte angestauten) nationalen Konflikte in der UdSSR oder die weit­gehende Neutralisierung kommunistischen, sozialistischen und selbst sozial-demokratischen Denkens im Sog des Bankrotts der PVAP sowie das noch unbewältigte stalinistische Erbe der kommunistischen Par­teien mit aller Deutlichkeit, was geschieht, wenn zum Problem des ver­schleppten Wandels noch die Abwesenheit tragfähiger sozialistischer Konzepte hinzukommt. Das Beispiel der Ungarischen VR zeigt über­dies deutlich, wie unter diesen Bedingungen die konzeptionslosen An­leihen aus dem Arsenal marktwirtschaftlicher Regulative im Bemühen um eine Wirtschaftsreform selbst Krisen und soziale Divergenzen pro­duzieren. Wenn wir es auch in der DDR zulassen, daß die hier sich anstauenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme überfällige Reformen zu einer dramatischen Flucht nach vorn' werden lassen, sind die Gefahren eines Ausverkaufs an den Kapitalismus oder einer Militärdiktatur neostalinistischer Option durchaus real.
    Jedoch bieten die DDR und die CSSR noch die besten wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen radikalen Wandel in Richtung Sozialismus, wenn es gelingt, die zweifellos starken sozialistischen Potentiale für eine solche Perspektive wiederzugewinnen. Daß gerade diese beiden Länder weitab von dieser Entwicklung zu verharren scheinen, ist nicht nur politbürokratischer Herrschaftstechnik geschuldet. Die geht eben auf die vergleichsweise günstigere wirtschaftliche Situation zurück. So kann es den Machthabern gelingen, jenen auf demokratische Wirtschaftsreformelemente' gestützten Beharrungskurs solange fortzusetzen, wie die sozialen Spannungen noch beherrschbar bleiben.
    Wir sind der Auffassung, daß insbesondere die DDR vor einer historischen Chance radikaler Erneuerung des sozialistischen Gesellschaftskonzepts steht. Wird sie warten, so hat das Folgen, die möglicherweise nicht nur in unserem Land über lange Zeit hinweg die Aussicht auf ein sozial gerechtes und die freie Entfaltung jedes Gesellschaftsmitglieds garantierenden Gemeinwesens suspendieren.
    Die äußeren Bedingungen für die radikale Erneuerung sind kompliziert genug: Im modernisierten internationalen Kapitalismus begünstigt die Enttäuschung der Werktätigen über die Wirkungslosigkeit des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatlichkeitsmodells die weiter anhaltende neokonservative Wende nach rechts. Die Gewerkschaften stehen mit dem Rücken zur Wand. Der Rückgang des Einflusses westeuropäischer kommunistischer Parteien und der Prozeß ihrer galoppierenden Sozialdemokratisierung verdient das Prädikat dramatisch. Der Internationalismus kommunistischer Massenparteien hat de facto aufgehört zu existieren und kann sich hinter dem dagegen noch funktionierenden, aber nichtsdestoweniger kläglichen sozialdernokratischen Internationalismus verstecken. Die Faszination des ermutigenden Aufbruchs der KPdSU aus dem Ghetto von Stagnation, Stalinismus und Machtanmaßung weicht mehr und mehr der Sorge, die nun anwachsenden zentrifugalen Kräfte könnten noch mehr zerreißen als die Blockaden gegen eine wirkliche sozialistische Entwicklung. Der wirtschaftliche Umbruch in den Reformländern greift nicht oder bedient sich zweifelhafter Methoden. Die Defizite einer radikalen Erneuerung theoretischen Denkens auf marxistischer Grundlage sind angesichts der heutigen Herausforderungen katastrophal.
    Und doch ist die Chance da: Ein souveräner Umschwung in Richtung Sozialismus wäre heute nicht mehr militärischer Einmischung seitens wohlmeinender Bruderländer ausgesetzt. Aufgrund der desolaten Wirtschaftslage ist die politische Einmischung des Westens über den Kanal der ‘Wirtschaftskooperation' viel größer.
    Die entscheidende Frage bleibt die soziale Basis, die politische Reife und die seriöse Programmatik votierender Kräfte im Lande selbst. Für uns heißt dies unter den in der DDR herrschenden Bedingungen, dieses Fundament wiederzugewinnen. Und hier sind uns die Voraussetzungen zweifellos günstiger als in anderen sozialistischen Ländern' - ungeachtet ' der weiter bestehenden politischen Unterdrückung auch und erst recht linker Kräfte in der DDR. Die Linken in unserem Land können sich kein Sektierertum leisten. Sie müssen die treibende Kraft einer Koalition der Vernunft' sein, weiche sich auf die Vielfalt aller sich zum Sozialismus bekennenden politischen und sozialen Kräfte in der DDR stützt, aber darüber hinaus allen sozialen und politischen Gruppierungen unter dieser Voraussetzung des Sozialismus eine Perspektive bieten kann. Eine vereinigte Linke muß in diesem Sinne in freier, gleichberechtigter, offener und öffentlicher Diskussion in kürzester Zeit ein konzeptionelles Programm für die politische und wirtschaftliche Umgestaltung erarbeiten, weiches den Charakter hat, sich bei seiner Realisierung auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz stützen zu können. Niemand, der diesen Prozeß der Erneuerung mitgestalten will, auch kein Mitglied der SED, darf aus diesem Prozeß ausgegrenzt werden.
    Andererseits zeigen gerade wieder jüngste Erfahrungen, wohin prinzipienloser gesellschaftskonzeptioneller Relativismus führen kann. Wir wenden uns entschieden dagegen, daß politbürokratische Unterdrückung durch kapitalistische Ausbeutung ersetzt' wird. Die Linken müssen sich auf der Basis:
    - des gesellschaftlichen -Eigentums an Produktionsmitteln als die vorherrschende und perspektivische Grundlage sozialistischer Vergesellschaftung,
    - des Ausbaus der Selbstbestimmung der Produzenten in Verwirklichung realer Vergesellschaftung der gesamten ökonomischen Tätigkeit,
    - der konsequenten Verwirklichung des Prinzips der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder,
    - der politischen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, konsequenten Verwirklichung der ungeteilten Menschenrechte und freien Entfaltung der Individualität jedes Gesellschaftsmitglieds,
    - des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft treffen. Die Zeit ist überreif für eine offene Diskussion der damit verbundenen Fragen. Der Prozeß des Dialogs einer sich vereinigenden Linken auf solcher Grundlage kann und sollte auch unter den heute noch geltenden Bedingungen der beruflichen Diskriminierung und der Ausübung politischen Drucks auf politisch nicht angepaßtes Denken trotzdem öffentlich erfolgen. Dem organisatorischen Zusammenschluß einer vereinigten Linken hat der beschriebene Prozeß des Dialogs vorauszugehen.
    Mindestanforderungen für die Gestaltung einer freien sozialistischen Gesellschaft in der DDR
    Vorschlag für einen Minimalkonsens einer breiten unabhängigen sozialistischen Opposition
    Vorbemerkung
    Die hier formulierten Vorschläge sind der Versuch, ein Minimum konstruktiver Gemeinsamkeiten zu finden, die für alle sozialistischen Tendenzen akzeptabel, sind. Dieser Versuch ist schwierig, weil so grundsätzliche Probleme, wie die Form der sozialistischen Demokratie (Parlamentarismus, Rätesystem oder Kommune) als politisch umstritten innerhalb der Linken ausgeklammert werden müssen.
    Die Präzisierung solcher Feststellungen muß nicht nur klärender Diskussion innerhalb der Linken, sondern auch vor allem dem Prozeß der Selbsttätigkeit der Massen vorbehalten bleiben.
    1. Verwirklichung der sozialistischen Demokratie als Ausdruck der Volkssouveränität durch die Volksmacht, das heißt der Selbstbestimmung und der Selbstverwaltung des werktätigen Volkes. Dem dient die Realisierung folgender Grundsätze:
    a) Sicherung individueller und kollektiver Freiheitsrechte entsprechend der UN-Menschenrechtscharta (einschließlich ungehinderter Reisefreiheit und Streikrecht)
    b) Rechtsstaatlichkeit (einschließlich individueller und kollektiver Einklagbarkeit der Freiheitsrechte sowie gesetzliche Verantwortlichkeit der Behörden und ihrer Funktionsträger gegenüber den Bürgern)
    c) Funktionelle Gewaltenteilung auf der Grundlage der Volkssouveränität (einschließlich Verfassungskontrolle und Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Wahrnehmung der Volkssouveränität gegenüber den rechtsprechenden und vollziehenden Apparaten)
    d) Starke basisdemokratische Verankerung der staatlichen, Gewalt mittels Volksabstimmungen sowie politischer Rechte für Betriebsräte und Wohnbezirksrätee) Selbstverwaltung aller territorialen politischen Gemeinschaften (Gemeinden, Kreise usw.) einschließlich der Bildung ihrer Rechtspflege ­und Polizeiorgane durch sie selbst bei einschließlich gerichtlicher Kontrolle ihrer von staatlicher Aufsicht freien Tätigkeit
    f) Bundesstaatlichkeit auf der Grundlage der Länderstrukturen von 1949 sowie des Landes Berlin (DDR) und Bildung einer Länderkammer nach dem Senatsprinzip aus den Volksvertretungen der Länder
    g) Politische Meinungspluralität einschließlich Parteienpluralität auf der Grundlage freiheitlich-demokratischen Verfassungsrechts
    h) Verhältniswahlrecht
    i) Recht von Gesetzesinitiativen und geregelte Vetorechte für demokratische Massenorganisationen (Gewerkschaft usw.)
    j) Förderung von vielfältigen Bürgerinitiativen und Sicherung ihrer breiten Einbeziehung in die staatlichen Entscheidungsprozesse
    k) Umbildung der Massenmedien aus Organen der monopolisierten Regierungsgewalt in Medien der Öffentlichkeit durch die Anwendung des öffentlichen Rechts unter Sicherung des Medienzugangs für jeden Bürger
    1) Informationsfreiheit in allen öffentlichen Angelegenheiten und Rechtsschutz gegen den gläsernen Menschen' (Datenschutz)
    2. Wirtschaftliche und soziale Grundlagen:
    a) Öffentliches Eigentum an den Hauptproduktionsmitteln in demokratischer Mitbestimmung und Selbstverwaltung durch die Arbeitenden
    b) Eigene freie Arbeit des einzelnen als Grundlage seiner Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum
    c) Konsequente Anwendung des Leistungsprinzips bei der Verteilung der Einkommen
    d) Recht auf Arbeit
    e) Kollektive Kontrolle der Arbeitenden über den Produktionsprozeß in Betrieb und Gesellschaft
    f) Freie Entfaltung von Genossenschaften und Privateigentum auf der Grundlage eigener Arbeit
    g) Verbot der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen (Aneignung fremder Arbeit),- insbesondere Verbot
    - monopolbürokratischer Lohnarbeit
    - kapitalistischer Lohnarbeit (auch in privaten Kapitalgesellschaften)
    h) Eigenfinanzierung der Wirtschaftssubjekte mit Rentabilitätszwang
    i) An sozialen, wissenschaftlich-technischen, ökologischen und kulturellen Programmen ausgerichtete marktökonomische Wirtschaftssteuerung mittels aus solchen Programmen abgeleiteten Normativen
    j) Umsetzung von Rahmenplänen mittels Staatsauftragstätigkeit auf der Basis von abzuschließenden Wirtschaftsverträgen mit Vorzugsbedingungen sowie mit ökonomischen Hebeln, Wie Abgabe- und Zuschußpräferenzen, Krediten Preisen, Zöllen usw.
    k) Ökonomische Bewertung von Ressourcen, insbesondere Natur-Ressourcen
    l) Konsequenter Ausbau der Haftung für Umweltschäden nach dem Verursacherprinzip
    m) Durchsetzung staatlicher Außenwirtschaftspolitik mittels rahmenplangebundener Präferenzen, Zölle, Tarife
    n) Dezentralisierung staatlicher Finanzpolitik zur Sicherung des finanziellen Eigenaufkommens der territorial-politischen Gemeinschaften sowie Lasten- und Finanzausgleich zwischen Ländern und Kommunen
    o) Humanisierung und Qualifizierung der Arbeit, Verkürzung der Arbeitszeit und ökologischer Umbau der Industriegesellschaft als Hauptkriterien der Produktivkraftentwicklung in einer freiheitlichen sozialistischen Gesellschaft
    p) Verfassungszwang für die vollziehenden Gewalten, im Falle ökologischer Notstände auch Notstandsmaßnahmen anzuordnen (Smog etc.)
    3. Ziele der Verfassungs- und Gesellschaftsreform
    a) Freie Entwicklung jedes einzelnen als Grundlage für die Entwicklung aller
    b) Überwindung der Ungleichheit der Klassen zugunsten der Verschiedenheit der Individuen
    c) Kontrolle der Arbeit und ihrer Produkte durch die Arbeitenden
    d) Emanzipation der Frau
    e) Schrittweise Zurückdrängung aller knechtenden und unterordnenden Verhältnisse und Tätigkeiten
    f) Förderung solidarischer Verhaltensweisen und Minderheitenschutz
    g) Verfassungsrechtliche Garantie des freiheitlichen Charakters der DDR auch durch die Fixierung der freiheitlichen und solidarisch-demokratischen Verhältnisse im Innern
    h) Verteidigung des Charakters der DDR als Gesellschaft sozialistischer Freiheit in der verfassungsrechtlichen Fixierung ihres
    - Antidespotismus im allgemeinen und ihres
    - Antistalinismus
    - Antifaschismus
    - Antimilitarismus im besonderen;
    - Antikapitalismus
    - Antinationalismus
    - Antirassismus"
    (AKTION, S. 937-942)

6. September

  • In einer von ADN verbreiteten Information "zu Falschmeldungen der BRD-Medien" heißt es, "in Gesprächen mit der BRD, so am 31. Au­gust," sei in der Frage der ausreisewilligen DDR-Bürger in BRD-Vertre­tungen "grundsätzliche Übereinstimmung über einen Lösungsweg er­zielt' worden. "Es bestand auch Einvernehmen darüber, daß der Auf­enthalt von DDR-Bürgern in Vertretungen der BRD nicht geeignet ist, eine Genehmigung zur ständigen Ausreise aus der DDR zu erreichen."

7. September

  • Der Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Dr. Bertele, teilt im Außenministerium der DDR mit, daß die BRD die in ihren Vertretungen befindlichen DDR-Bürger mit den Zusicherungen der DDR vertraut machen und ihnen raten werde, die Vertretung zu verlassen und in ihre Heimatorte zurückzukehren.

8. September

  • Alle 116 DDR-Bürger, die sich zum Teil seit mehr als einem Monat in der Berliner Ständigen Vertretung der BRD aufhalten, verlassen ihren Zufluchtsort. Wie es in einer von ADN verbreiteten Erklärung der Ständigen Vertretung heißt, wurden die DDR-Bürger "umfassend über die Situation unterrichtet, so daß sie in die Lage versetzt wurden, ihre selbständige Entscheidung zu treffen. Alle Facetten des Problems wurden dargelegt, es wurde keinerlei Druck auf die Betroffenen ausgeübt. Zusagen zur Ausreise wurden nicht gegeben, aber die umfassende anwaltliche Betreuung wurde zugesagt. An den Gesprächen nahmen neben dem Leiter der STÄV, Dr. Bertele, Rechtsanwalt Prof. Dr. Vogel, Staatssekretär im BMB, Dr. Priesnitz, und der Vorsitzende des Berliner Kollegiums der Rechtsanwälte, Dr. Gregor Gysi, sowie Dr. Stagulla, teil."
    (ND, 9./10. 9. 1989)

9./10. September

  • In Erfurt verabschieden Frauen nach einem Erfahrungsaustausch einen Offenen Brief der Bürgerinneninitiative "Frauen für Veränderung". In dem Brief, der am 2. 10. 1989 als Flugblatt veröffentlicht wird, heißt es u. a.: "Wir Frauen sind betroffen von der Massenauswanderung unserer Mitmenschen, die noch immer anhält, und empört über die Reaktion von Partei und Regierung. ( ... ) Auch uns geht es um Veränderungen, die den Sozialismus lebendig werden lassen. Deshalb organisieren wir uns mit allen Menschen, Gruppen und Initiativen, die sich um von der Basis ausgehende gewaltfreie, ökologische, soziale, demokratische Umgestaltung unserer Gesellschaft bemühen. Wir brauchen neue Möglichkeiten der aktiven Mitgestaltung in allen Lebensbereichen. Von Partei und Regierung erwarten wir deshalb, daß sie sich endlich zu einer öffentlichen Diskussion mit allen Menschen im Land, die Veränderung wollen, bereit finden und diese nicht weiterhin, entgegen unserer verfassungsmäßigen Rechte, kriminalisieren. Diese Diskussion muß in den Medien ungehindert ausgetragen werden. Dabei entstehende Spannungen gilt es kreativ umzusetzen. ( ... )"
  • ADN teilt mit: "Wie aus Budapest verlautet, wurde sich in der UVR aufhaltenden DDR-Bürgern illegal Und unter Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Vereinbarungen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über die Grenze zur Österreich die Ausreise in die BRD ermöglicht. Dabei handelt es sich um eine direkte Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik. Unter dem Vorwand humanitärer Erwägungen wird organisierter Menschenhandel betrieben. Mit Bedauern muß festgestellt werden, daß sich Vertreter der Ungarischen Volksrepublik dazu verleiten ließen, unter Verletzung von Abkommen und Vereinbarungen diese von der BRD von langer Hand vorbereitete Aktion zu unterstützen.
    (ND, 11. 9. 1989)
  • Die DDR-Behörden verschweigen, daß es sich um rund 6 500 DDR-Bürger handelt, die sofort nach Öffnung der ungarischen Grenze das Land Richtung Westen verlassen. Die DDR-Bevölkerung ist ausschließlich auf Informationen durch BRD-Medien angewiesen.
  • Außer mit Schuldzuweisung an andere äußert sich die SED- und Staatsführung zu dem Massenexodus nicht. In vollkommener Verkennung der Lage im Land erklärt Politbüromitglied und ZK-Sekretär der SED Hermann Axen auf der Berliner Großkundgebung am Internationalen Gedenktag für die Opfer des Faschismus und Krieges u. a.: “(...) All jenen, die durch zügellose Verleumdung, durch eine wahre Frontberichterstattung von der Politik der Konfrontation und Hochrüstung ablenken wollen, sei ins Stammbuch geschrieben: Täuschen Sie sich nicht, meine Herren. Wie des öfteren in den 40 Jahren, sind auch dieses Mal Ihre Spekulationen zum Scheitern verurteilt. ( ... ) Dabei stützen wir uns auf die revolutionäre Ideologie und Energie der von Ausbeutung befreiten Werktätigen unseres Landes, auf ihre Kraft und ihre Entschlossenheit, die sozialistischen Errungenschaften zielstrebig zu mehren und zuverlässig zu verteidigen. Die Bürger unseres Landes empfinden: Unsere sozialistische Heimat ist die Heimstatt des Friedens, der Humanität, der sozialen Sicherheit und Geborgenheit, in der ein jeder gebraucht wird und jeder die Möglichkeit hat, sich zu verwirklichen. Die Bürger der DDR finden ihre nationale Identität in ihrem sozialistischen Vaterland, in der sich entwickelnden sozialistischen Nation in der DDR. ( ... )"
  • Oppositionelle Kräfte rufen zur Gründung der Initiativgruppe "Neues Forum" auf. Zu den 30 Erstunterzeichnern gehören die Malerin Bärbel Bohley sowie der Arzt und Molekularbiologe Prof. Dr. Jens Reich, beide aus Berlin. Der Aufruf Aufbruch 89 - Neues Forum" lautet:
    "In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weit verbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen dieses Ausmaßes sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein. Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit. In Staat und Wirtschaft funktioniert der Interessenausgleich zwischen den Gruppen und Schichten nur mangelhaft. Auch die Kommunikation über die Situation und die Interessenlage ist gehemmt. Im privaten Kreis sagt jeder leichthin, wie seine Diagnose lautet und nennt die ihm wichtigsten Maßnahmen. Aber die Wünsche und Bestrebungen sind sehr verschieden und werden nicht rational gegeneinander gewichtet und auf Durchführbarkeit untersucht. Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir dessen soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewußte Menschen, die doch gemeinschaftsbewußt handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen. Faulpelze und Maulhelden sollen aus ihren Druckposten vertrieben werden, aber wir wollen dabei keine Nachteile für sozial Schwache und Wehrlose. Wir wollen eine wirksames Gesundheitswesen' für jeden, aber niemand soll auf Kosten anderer krank feiern. Wir wollen an Export und Welthandel teilhaben, aber weder zum Schuldner und Diener der führenden Industriestaaten noch zum Ausbeuter und Gläubiger der wirtschaftlich schwachen Länder werden. Um all diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und zu bewerten, allgemeine von Sonderinteressen zu unterscheiden, bedarf es eines demokratischen Dialogs über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese Fragen müssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land, nachdenken und miteinander sprechen. Von der Bereitschaft und dem Wollen dazu wird es abhängen, ob wir in absehbarer Zeit Wege aus der gegenwärtigen krisenhaften Situation finden. Es kommt in der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung darauf an,
    - daß eine größere Anzahl von Menschen am gesellschaftlichen Reformprozeß mitwirkt,
    - daß die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem Gesamthandeln finden.
    Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen. Für eine solche übergreifende Initiative wählen wir den Namen Neues Forum.
    Die Tätigkeit des Neuen Forum werden wir auf gesetzliche Grundlagen stellen. Wir berufen uns hierbei auf das in Art. 29 der Verfassung der DDR geregelte Grundrecht, durch gemeinsames Handeln in einer Vereinigung unser politisches Interesse zu verwirklichen. Wir werden die Gründung der Vereinigung bei den zuständigen Organen der DDR entsprechend der VO vom 6. 11. 1975 über die Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen' (GBI. Nr. 44, S. 723) anmelden.
    Allen Bestrebungen, denen das Neue Forum Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Es ist dieser Impuls, den wir bei der kommenden Umgestaltung der Gesellschaft in allen Bereichen lebensvoll erfüllt wissen wollen. Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des Neuen Forum zu werden. Die Zeit ist reif."

11. September

  • Die Partei- und Staatsführung der DDR nimmt offiziell zur Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich und dem Massenexodus von DDR-Bürgern nicht Stellung. Lediglich die Nachrichtenagentur verbreitet eine agitatorische aufgeheizte Stellungnahme unter der Überschrift "Der große Coup' aus der BRD". Darin heißt es u. a.: Es ist bedauerlich, daß sich Vertreter der Ungarischen Volksrepublik zur Verletzung von Abkommen und Vereinbarungen verleiten ließen. Völkerrecht und internationale Vereinbarungen können in keiner Weise als Rechtfertigung für diese Entscheidung angerufen werden (...). Die Vertreter aus Bonn nutzten die ungarische Haltung für ihre antisozialistischen und revanchistischen Ziele weidlich aus. Dieser Coup aus der BRD ist weder eine zufällige noch vereinzelte Aktion. Er ist Bestandteil des Kreuzzuges des Imperialismus gegen den Sozialismus insgesamt, wobei für die einzelnen sozialistischen Bruderstaaten von Berlin bis Peking jeweils spezielle Rezepte verordnet werden. (...) Der Sieg des Sozialismus auf deutschem Boden, die 40jährige erfolgreiche Entwicklung des sozialistischen deutschen Staates - das ist doch zugleich die historische Niederlage des deutschen Imperialismus. (...)"
    (ND, 12.9. 1989)
  • Aus der BRD-Stadt Passau berichtet ADN-Korrespondent Horst Schäfer aus Auffanglagern des bayerischen Grenzgebietes für DDR-Übersiedler. "Neues Deutschland" (12. g. 1989) versieht den Beitrag mit der, Überschrift: "Provokation gegen die DDR stabsmäßig organisiert. Eiskaltes Geschäft mit DDR-Bürgern - Silberlinge für Ungarn".

12.September

  • In einer Note des DDR-Außenministeriums an das ungarische Außenministerium heißt es: "(...) Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik hat mit Befremden die Entscheidung der Regierung der Ungarischen Volksrepublik zur Kenntnis genommen, Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik ohne gültige Reisedokumente die Ausreise in dritte Staaten zu ermöglichen. Dieser Schritt ist damit verbunden, daß die Regierung der Ungarischen Volksrepublik die Artikel 6 und 8 und das dazugehörige Protokoll zum Abkommen über den visafreien grenzüberschreitenden Verkehr vom 20. Juni 1969 zeitweilig außer Kraft gesetzt hat. (...) Das ungarische Vorgehen stellt (...) eine eindeutige Verletzung völkerrechtlicher Verträge und damit verbunden, eine Verletzung grundlegender Interessen der Deutschen Demokratischen Republik dar. Für die eingetretene Situation trägt die ungarische Seite Verantwortung. (...)" (ND, 13.9. 1989)
  • Rund 250 ausreisewillige DDR-Bürger verlassen die Prager BRD-Botschaft und kehren in ihre Heimatorte zurück, der zugesicherten Straffreiheit und juristischen Beratung bei Ausreiseanträgen vertrauend.
  • Das auf Einladung des DGB in der BRD weilende Mitglied des SED-Politbüros Harry Tisch, Vorsitzender des FDGB-Bundesvorstandes, entgegnet auf Fragen von BRD-Journalisten, er verwahre sich gegen "die von der BRD und ihren Medien inszenierte Nacht-und-Nebel-Aktion" der DDR-Ausreiser in Ungarn, die er als "Schlammschlacht" bezeichnete.
  • In Berlin verabschieden oppositionelle DDR-Bürger, unter ihnen Dr. Hans-Jürgen Fischbeck, Ludwig Mehlhorn, Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß, den "Aufruf zur Einmischung", der zu einer Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" auffordert. In dem Gründungsaufruf heißt es u. a.:
    "(...) Unser Land lebt in innerem Unfrieden. Menschen reiben sich wund an den Verhältnissen, andere resignieren. Ein großer Verlust an Zustimmung zu dem, was in der DDR geschichtlich gewachsen ist, geht durch das Land. Viele vermögen ihr Hiersein kaum noch zu. bejahen. Viele verlassen das Land, weil Anpassung ihre Grenzen hat. (...) Trotz seiner unbestreitbaren Leistungen für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit ist es heute offenkundig, daß die Ära des Staatssozialismus zu Ende geht. Er bedarf einer friedlichen, demokratischen Erneuerung. Eingeleitet und gefördert durch die Initiative Gorbatschows wird in der Sowjetunion der Weg der demokratischen Umgestaltung beschritten. (...) Der Sozialismus muß nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll. Er darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muß. Entgegen aller Schönfärberei sind die politischen, ökonomischen und ökologischen Krisenzeichen des Staatssozialismus auch in den Farben der DDR' unübersehbar. Nichts aber deutet darauf hin, daß die SED-Führung zum Umdenken bereit ist. Es scheint, als spekuliere sie auf ein Scheitern der Reformen in der Sowjetunion. Es kommt aber darauf an, die demokratische Umgestaltung mitzuvollziehen. Die politische Krise des staatssozialistischen Systems der DDR wurde besonders deutlich durch die Kommunalwahlen am 7.5. 1989. Die Doktrin von der moralisch-politischen Einheit von Partei, Staat und Volk', die das von Wahlen unabhängige Machtmonopol rechtfertigen soll, konnte nur noch durch eine Wahlfälschung vor dem Gegenteil geschützt werden. 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung der großen Städte haben den Kandidaten der Nationalen Front offen ihre Zustimmung verweigert. Zweifellos wäre die Zahl bei geheimen Wahlen noch erheblich höher ausgefallen. So viele Menschen werden durch die Nationale Front nicht mehr vertreten. Sie haben keine politische Vertretung in der Gesellschaft. Der Wunsch vieler BürgerInnen und Bürger nach einer Demokratisierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft kann in der DDR noch immer nicht öffentlich zur Sprache gebracht werden. Deshalb rufen wir auf zu einer Bürgerbewegung "Demokratie jetzt".
    Wir wenden uns an alle, die von der Not unseres Landes betroffen sind, und laden sie zum Zusammengehen ein. Wir hoffen auf ein Bündnis aller reformwilligen Menschen, auch von Christen und kritischen Marxisten. (...) Alle, die sich beteiligen wollen, laden wir zu einem Dialog über Grundsätze und Konzepte einer demokratischen Umgestaltung unseres Landes ein. (...) Wir hoffen auch auf die Möglichkeit, eine eigene Liste von Kandidaten für die bevorstehenden Volkskammerwahlen aufstellen zu können. (...)
    Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR
    (...) Statt eines vormundschaftlichen, von der Partei beherrschten Staates, der sich ohne gesellschaftlichen Auftrag zum Direktor und Lehrmeister des Volkes überhoben hat, wollen wir einen Staat, der sich auf den Grundkonsens der Gesellschaft gründet, der Gesellschaft gegenüber rechenschaftspflichtig ist und so zur öffentlichen Angelegenheit (RES PUBLICA) mündiger Bürgerinnen und Bürger wird. Soziale Errungenschaften, die sich als solche bewährt haben, dürfen durch ein Reformprogramm nicht aufs Spiel gesetzt werden.
    Als Deutsche haben wir eine besondere Verantwortung. Sie gebietet, daß das Verhältnis der deutschen Staaten beiderseits von ideologischen Vorurteilen befreit und in Geist und Praxis ehrlicher und gleichberechtigter Nachbarschaft gestaltet wird. Wir laden die Deutschen in der Bundesrepublik ein, auf eine Umgestaltung ihrer Gesellschaft hinzuwirken, die eine neue Einheit des deutschen Volkes in der Hausgemeinschaft der europäischen Völker ermöglichen könnte. Beide deutsche Staaten sollten um der Einheit willen aufeinander zu reformieren.
    Die Geschichte auferlegt uns Deutschen eine besondere Friedenspflicht. Wir sollten ihr entsprechen durch eine Reduzierung der Potentiale der Nationalen Volksarmee und die Einführung eines sozialen Friedensdienstes als Alternative zum Wehrdienst.
    1. Vom Obrigkeitsstaat zur Republik
    Die Unterordnung des Staates unter die Politbürokratie der Partei und deren institutionalisierte Ämterpatronage müssen ein Ende haben. Die strikte Trennung von Legislative (Volksvertretungen) und Exekutive (Räte) ist notwendig, damit eine wirksame Kontrolle der Räte durch die Volksvertretungen erfolgen kann. Das Wahlrecht muß so reformiert werden, daß Wahlfreiheit und Wahlgeheimnis gewährleistet sind. Es muß möglich sein, über verschiedene politische Programme und zwischen deren Vertretern zu entscheiden. Wir schlagen vor, UNO-Beobachter zu den nächsten Volkskammerwahlen einzuladen. Der Staat sollte sich aus Funktionen zurückziehen, die Sache der Gesellschaft sind:
    - Die Medien gehören in die Hände von nichtkommerziellen Körperschaften des öffentlichen Rechts (...)
    - Die Schulen, Hochschulen und Ausbildungseinrichtungen dürfen nicht länger Instrument ideologischer Ausrichtung und der Indoktrination im Sinne einer Partei bleiben (...)
    - Parteien und Organisationen sollten von staatlicher Ausrichtung und Aufsicht gelöst werden. Die volle Freiheit zur Bildung gesellschaftlicher Vereinigungen muß gewährleistet sein.
    - Die Gewerkschaften müssen unabhängige Interessenvertreterinnen der Werktätigen werden und das Streikrecht erhalten.
    - Wissenschaft, Kunst und Kultur müssen bei Selbstverwaltung ihrer Institutionen gemäß der Verfassung die Möglichkeit erhalten, sich frei und ohne ideologische Gängelung zu entfalten. (...)
    Eine Rechtsreform sollte willkürlich auslegbare Straftatbestände beseitigen und die Unabhängigkeit von Richtern und Verteidigern gewährleisten. (...)
    Eine Verfassungsgerichtsbarkeit sollte eingeführt und die Verwaltungsgerichtsbarkeit soll verwirklicht werden.
    Die Reisefreiheit und das Auswanderungsrecht sollten gemäß der Wiener KSZE-Beschlüsse verwirklicht werden.
    2. Von der Verstaatlichung zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel
    Wir befürworten ein Ende der politbürokratischen Kommandowirtschaft. Der bestehende Staatsplandirigismus sollte durch eine staatliche Rahmenplanung abgelöst werden. Nur solche staatlichen Aufsichts- und Lenkungskompetenzen sollten bestehen bleiben, die für die Bindung jeglicher Wirtschaftstätigkeit an das Gemeinwohl erforderlich sind (Umwelt­- und Sozialverträglichkeit).
    Betriebe und Vereinigungen von Betrieben sollten ökonomisch selbständig werden und ihr Angebot und ihre Preise am Markt orientieren, damit aus dem bestehenden Nachfrage- ein Angebotswettbewerb wird.
    Wir befürworten eine gewerkschaftliche Mitbestimmung in den Betrieben, die Wählbarkeit von Leitungskräften, eine echte Rechenschaftspflicht der Leitung gegenüber der Belegschaft und eine Gewinnbeteiligung der Belegschaft.
    Wir befürworten eine Stärkung der Unabhängigkeit der bestehenden landwirtschaftlichen, handwerklichen und Handelsgenossenschaften.
    Wir befürworten die Zulassung privater Kooperativen sowie die Ermöglichung privater Wirtschafts- und Eigentumsformen, sofern eine angemessene Mitbestimmung der Beschäftigten gewährleistet ist.
    3. Von der Ausbeutung und Verschmutzung der Umwelt zu einem dauerhaften Zusammenleben mit der Natur Grundvoraussetzung ist die Offenlegung der relevanten Umweltdaten und der Verschmutzungs- und Ressourcenprobleme unseres Landes.
    Wir brauchen eine lückenlose und landesweite Überwachung der Schadstoffkonzentration in Wasser, Luft und Boden.
    Die Praxis einer kostenlosen' Entsorgung und Verdünnung von Schadstoffen muß so schnell wie möglich beendet werden. Die Entsorgung muß in vollem Umfang in die Kostenrechnung der Betriebe eingehen.
    Es sollte eine Umwelthaftpflicht eingeführt werden. Die Beweislast für die Schadlosigkeit der Produktion sollte bei den Betrieben liegen.
    Ein rigoroseres Energiesparprogramm muß Vorrang haben. Eine effektive Beteiligung aller Verbraucher sollte durch eine entsprechende Preis- und Steuerpolitik herbeigeführt werden. Eine strenge staatliche Umweltverträglichkeitsprüfung und Kontrolle von Produktion und Produkten ist erforderlich.
    Die Nutzung, Erschließung und Erforschung erneuerbarer Energiequellen sollte in jeder Hinsicht gefördert werden.
    Eine öffentliche Diskussion der Umweltproblerne, besonders des Energieproblems, der Risiken der Kernenergie, des Treibhauseffektes und des Waldsterbens ist notwendig.
    Ein Wandel der gesellschaftlichen Zielbestimmung und der leitenden Werte ist nötig, damit wir auch zu einem Wandel des Lebensstils, zu mehr Gemeinschaftlichkeit und Lebensqualität kommen."

14. September

  • In Berlin verabschiedet der Bezirksverband des DDR-Schriftstellerverbandes ein Papier, in dem unter anderem Forderungen nach "demokratischem Dialog auf allen Ebenen" erhoben werden. Rund 200 Mitglieder stimmen dafür, fünf dagegen.
  • Der Erfurter Pfarrer Edelbert Richter gibt in Bonn die Gründung der Gruppe "Demokratischer Aufbruch" in der DDR bekannt. In einem Zeitungsinterview erklärt Richter auf die Frage: "Würden Sie Ihre Plattform ähnlich breit formulieren wie das Neue Forum?": "Ganz so breit nicht. Hier liegt vielleicht ein Unterschied. Nicht nur das Wort sozialistisch, sondern auch bestimmte gesellschaftliche Prinzipien des Sozialismus haben für uns nach wie vor einen guten Klang. Rechte Gedankengänge sind damit ausgeschlossen." Auf die Frage: "Was heißt denn nach Ihren Vorstellungen sozialistisch?" antwortet er: "Soziale Sicherung, wie sie es bei uns gibt, so das Recht auf Arbeit, auch die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik gehören bei uns zu festen Bestandteilen, von denen man nicht abgehen sollte. Der Grenzbereich dieser Frage liegt bei der Initiative der Menschen, die bei uns über die Leistungen gleichzeitig entmündigt wurden. Hier muß die Korrektur ansetzen. Wir sperren uns auch nicht gegen den Einbau bestimmter marktwirtschaftlicher Elemente. Im sozialistischen Kontext ließe sich das durch freie Gewerkschaften als Korrektiv auffangen. Warum sollen nicht Mitbestimmung im Betrieb und Arbeiterselbstverwaltung, wie es in der UdSSR probiert wird, auch bei uns greifen. Bis hin zu Fragen der Humanisierung der Arbeit."
    (taz, 16. 9. 1989)
  •  In einem Flugblatt stellt sich der Demokratische Aufbruch als "ein Teil der politischen Opposition in der DDR" dar, der "für eine sozialistische Gesellschaftsordnung auf demokratischer Basis" eintritt. Weiter heißt es in dem "Flugblatt für die Demokratie": "(...) Wir fordern die Verwirklichung aller in der Verfassung garantierten und international vereinbarten Menschenrechte! Dazu gehören:
    - das Recht auf Reisefreiheit einschließlich des Rechts auf Rückkehr ins eigene Land;
    - das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes; Wahl des Wohnsitzes;
    - das Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit einschließlich des Rechts auf ungehinderte Willensbildung in Parteien und Vereinen (außer wenn damit faschistisches, chauvinistisches und militaristisches Gedankengut propagiert wird);
    - das Recht auf freie und geheime Wahlen zwischen unterschiedlichen Programmen und Personen.
    Wir fordern Reformen im Bildungswesen, die eine freie Persönlichkeitsentwicklung ohne ideologische Bevormundung ermöglichen.
    Wir fordern Reformen im Strafrecht und im Strafvollzugsrecht, die die Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat stärken.
    Wir fordern politische Reformen, die den bisher praktizierten staatlichen Zentralismus der SED beseitigen. Dazu gehört die Errichtung einer Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit.
    Wir fordern eine Wirtschaftspolitik, die die Qualität der Umwelt verbessert, nicht die natürlichen Ressourcen vergeudet und keinen Raubbau betreibt, die die schleichende Inflation bekämpft, die Leistung und Verantwortungsbereitschaft fördert.
    Dazu gehören:
    - Abschaffung von Privilegien und Bevorzugungen für nicht erbrachte Leistungen;
    - Änderung einer restriktiven Steuer- und Zulassungspolitik für Handwerksbetriebe; Abbau unsinniger Subventionen zugunsten einer gezielten Unterstützung der sozial Schwachen;
    - eine vordringlich durchzuführende umfassende Rentenreform;
    - die Unabhängigkeit der Gewerkschaften und Betriebsräte von staatlicher und parteipolitischer Bevormundung;
    - Einsparung im Militär- und Sicherheitswesen zur Freisetzung materieller und personeller Reserven.
    Der Demokratische Aufbruch hält die gegenwärtigen vorhandenen politischen Strukturen nicht für ausreichend, den notwendigen Demokratisierungsprozeß zu gewährleisten. Darum hat er sich als politische Vereinigung außerhalb der Nationalen Front formiert. Seine Mitglieder wehren sich gegen die Unterstellung, die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen. Sie stehen ein für die Umgestaltung untragbarer Zustände, um die zukünftige Existenz der DDR als Friedensfaktor in Europa zu ermöglichen."

15. September

  • SED-Politbüromitglied Horst Sindermann sagt in seiner Eigenschaft als Präsident der Volkskammer die für kommende Woche vorgesehene Reise einer Delegation der SPD-Bundestagsfraktion ab, deren Besuch der DDR im Frühjahr 1989 vereinbart worden war. Zur Begründung wird angegeben, Hans-Jochen Vogel, Vorsitzender der SPD und der SPD-Bundestagsfraktion, und der stellvertretende SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende Prof. Dr. Horst Ehmke hätten am 14. September in Bonn Erklärungen abgegeben, die "im Inhalt gegen die Vereinbarungen zwischen SED und SPD über die Notwendigkeit des Kampfes um die Sicherung des Friedens gerichtet und in ihrer Form beleidigend .und herausfordernd" seien.
  • Vogel und Ehmke hatten die Reformunwilligkeit der SED bemängelt. Die V. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR beginnt in Eisenach ihre bis zum 19. September gehende 5. Tagung, In ihrem 'am letzten Beratungstag verabschiedeten Beschluß zur gegenwärtigen Lage in der DDR heißt es u. a.:
    "(...) Die Massenauswanderung von Bürgern der DDR in die Bundesrepublik zwingt dazu, Ursachen dafür zu benennen, daß offensichtlich viele, besonders auch junge Menschen in unserem Land und für unser Land keine Zukunft mehr sehen. In der Synode wurden vielfältige Erfahrungen genannt:
    - erwartete und längst überfällige Reformen werden offiziell als unnötig erklärt;
    - die Mitverantwortung des einzelnen Bürgers und seine kritische Einflußnahme sind nicht ernsthaft gefragt;
    - den Bürgern zustehende Rechte werden vielfach lediglich als Gnadenerweise gewährt;
    - hier geweckte und von außen genährte Wohlstandserwartungen können nicht befriedigt werden;
    - ökonomische und ökologische Mißstände erschweren zunehmend das Leben;
    - Alltagserfahrungen und die Berichterstattung der Medien klaffen weit auseinander;
    - eine offene Aussprache über Ursachen der Krisenerscheinungen wird nicht zugelassen;
    - Hinweise auf offensichtliche Wahlfälschungen bleiben ohne Reaktionen;
    - offizielle Äußerungen zu Vorgängen in China und Rumänien wecken Befürchtungen und Ängste für die Zukunft;
    - gewaltlose Demonstrationen junger Menschen werden gewaltsam unterdrückt, Beteiligte werden zu Unrecht und überdies unangemessen bestraft;
    - Freizügigkeit im Reiseverkehr wird nicht gewährt.
    Aus diesen und anderen Gründen sind viele Hoffnungen auf Veränderung in der DDR erloschen.
    Die Folgen der Abwanderung betreffen alle in diesem Land: Familien und Freundschaften werden zerrissen, alte Menschen fühlen sich im Stich gelassen, Kranke verlieren ihre Pfleger und Ärzte, Arbeitskollektive werden dezimiert, haben die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht und überschritten, die Folgen für die Volkswirtschaft sind unübersehbar. Auch Kirchengemeinden werden kleiner.
    Das politische Klima der Entspannung ist bedroht.
    Feindbilder leben wieder auf, Probleme zwischen den beiden deutschen Staaten belasten die Nachbarn, besonders Ungarn, gewachsene Beziehungen und Gespräche werden abgebrochen. Der Ost-West-Konflikt in seiner deutsch-deutschen Zuspitzung verdrängt Zukunftsaufgaben und bindet Kräfte, die zur Gewinnung von Frieden und Gerechtigkeit und zur Bewahrung der Schöpfung dringend gebraucht werden. Angesichts dieser Situation haben wir im Bund der Evangelischen Kirchen Anlaß, uns selbst zu fragen, wie wir unserem Auftrag gerecht geworden sind. (...)
    Vierzig Jahre DDR sind auch ein Lernweg unserer Kirchen, Christsein in einem sozialistischen Staat zu bewähren. Wir sehen uns heute vor die Herausforderung gestellt, Bewährtes zu erhalten und neue Wege in eine gerechtere partizipatorische Gesellschaft zu suchen. Wir wollen mithelfen, daß Menschen auch in unserem Land gerne leben. Wir möchten sie dazu ermutigen. So bitten wir Sie, hier zu leben und einen Beitrag für eine gute gemeinsame Zukunft in unserem Land zu leisten. Wir können und dürfen aber nicht alle Probleme gleichzeitig lösen wol­len.
    Wir brauchen:
    - ein allgemeines Problembewußtsein dafür, daß Reformen 'in unserem Land dringend notwendig sind;
    - die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit unseren gesellschaftlichen Problemen;
    - jeden für die verantwortliche Mitarbeit in unserer Gesellschaft;
    - Wahrhaftigkeit als Voraussetzung für eine Atmosphäre des Vertrauens;
    - verantwortliche pluralistische Medienpolitik;
    - demokratische Parteienvielfalt;
    - Reisefreiheit für alle Bürger;
    - wirtschaftliche Reformen;
    - verantwortlichen Umgang mit gesellschaftlichem und persönlichem Eigentum;
    - Möglichkeit friedlicher Demonstrationen;
    - ein Wahlverfahren, das die Auswahl zwischen Programmen und Personen ermöglicht. (...)
    Nach wie vor steht die unbedingte Verpflichtung im Vordergrund, für den Frieden unter den Völkern einzutreten. Es gibt ermutigende Zeichen auf dem langen Weg zum Frieden.
    Das Neue Denken' hat weitere Konturen gewonnen. Z. B. durch die sowjetische Einladung zu globaler Solidarität', die militärische, ökonomische und ökologische Sicherheitspartnerschaft in weltweiter Perspektive einschließt.
    Signale des Friedens sind einseitige Rüstungs-, Truppen- und Rüstungshaushaltsreduzierungen sozialistischer Staaten, auch in der DDR. Wir erwarten die Antwort von NATO-Staaten, ihrerseits mit dem Abbau militärischer Ungleichgewichte zu beginnen. (...)
    Um uns den Weg in eine sozial gerechte, demokratische, nach innen und außen friedensfähige und ökologisch verträgliche Gesellschaft nicht zu verbauen, ist jetzt ein offener gesamtgesellschaftlicher Dialog dringlich geworden. Dazu gehört auch eine Öffnung der bisherigen politischen Strukturen.
    Keiner hat gegenwärtig die Lösung.
    Auf der Suche nach Wegen, die Zukunft eröffnen, werden wir der Tatsache ins Auge sehen müssen, daß uns Veränderungen nicht in ,den Schoß fallen. ' Es bedarf geduldiger und beharrlicher Bemühungen. Darum wollen wir uns nicht entmutigen lassen von Schwierigkeiten und Rückschlägen, von Mißverständnissen und Verdächtigungen. (...)"
  • Zu diesem Beschluß äußert sich das SED-Organ "Neues Deutschland" in einem mit "Großdeutsche Ladenhüter auf der Kirchenversammlung" überschriebenen Kommentar. Darin heißt es u. a.: "(...) Alter Quark wurde da als Frischkäse angeboten: Was den Feinden des sozialistischen deutschen Staates trotz größter Anstrengungen in vier Jahrzehnten nicht gelungen ist, die konterrevolutionäre Beseitigung des Sozialismus, der Macht der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden, das soll nun mit wirtschaftlichen Reformen', Standpunkten, die von der einstimmig von den Verantwortlichen vertretenen Politik abweichen', und mit Gegenstrukturen' nachgeholt werden. Was da im Westen aus dem Bericht an die Synode zitiert wurde, ist in letzter Konsequenz ein Katalog von Maßnahmen, um die DDR kapitalistisch und für die Wiedervereinigung' sturmreif zu machen.
    (ND, 21.9. 1989)
  • Am Rande der Eisenacher Tagung der Bundessynode wird ein von vier in kirchlichem Dienst stehenden CDU-Mitgliedern verfaßter "Brief aus Weimar" bekannt. Er wendet sich, wie der "Evangelische Nachrichtendienst" (ena) berichtet, an die Mitglieder und Vorstände der CDU in der DDR mit der Aufforderung, die aktuellen Probleme im Lande realistisch und unbeschönigt wahrzunehmen, sie offen zu erörtern und Vorschläge zu unterbreiten, wie sie gelöst werden können. Weiter schreibt ena: "(...) Der Brief geht von der Beobachtung aus, daß sich das Problem der ständigen Ausreise aus der DDR verschärft statt an Bedeutung zu verlieren, wodurch das Land je länger je mehr Schaden leide und hebt hervor, daß die Reisefrage für die meisten Bürger eine außerordentlich wichtige Rolle spiele. Die Verfasser setzen sich deshalb für das prinzipielle Recht eines jeden Bürgers auf Auslandsreisen ein, das nur in begründeten Fällen eingeschränkt werden dürfe. Der Brief enthält Vorschläge zur Weiterentwicklung der innerparteilichen Demokratie und zur Profilierung des Beitrages der CDU in der Gemeinschaft des Demokratischen Blocks. Für erforderlich halten die Unterzeichner weiter ein in umfassender Volksaussprache zu erarbeitendes neues Wahlgesetz und die Verpflichtung der Behörden, Umweltdaten der Öffentlichkeit mitzuteilen. Sie setzen sich auch u. a. für die Wiederaufnahme der Zeitschrift Sputnik' in die Postzeitungsliste ein. (Die Zeitschrift "Sputnik" wurde am 19. November 1988 von der Postzeitungsliste gestrichen mit der Begründung, sie leiste keinen Beitrag zur Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft und bringe "statt dessen verzerrende Beiträge zur Geschichte". Das Verbot löste in der DDR stürmischen Protest aus. -Anm. d. Hrsg.)
    Zur Begründung des Briefes heißt es, daß politische Kräfte wie die CDU ihrer Mitverantwortung im Demokratischen Block der Parteien verstärkt nachkommen müßten, damit die Kirchen und ihre Gruppen von einer ihnen heute vielfach aufgeladenen gesellschaftlichen Stellvertreterrolle entlastet würden, in der ihnen oft Kompetenz und Kraft fehle. ( ... )"
    (ena, 28. 9. 1989)
  • Die "Neue Zeit', CDU-Zentralorgan, geht am 19. September indirekt in einem Kommentar, "Vertrauen im Miteinander" überschrieben, auf den "Brief aus Weimar" ein, ohne ihn zu nennen. Es widerspreche innerparteilicher Demokratie, wenn sich Parteimitglieder an eine internationale Öffentlichkeit wenden, denn die vier Briefunterzeichner hätten doch die Einladung zu einem klärenden Gespräch mit den entsprechenden CDU-Leitungsgremium angenommen. Der Kommentar stellt fest: Wer Diskussion fordere, aber das Gespräch durch solches Verhalten belaste, müsse sich die Frage nach der Redlichkeit seiner Absichten stellen lassen.

18. September

  • In einer gemeinsamen Resolution fordern Rockmusiker, Liedermacher und Unterhaltungskünstler den öffentlichen Dialog in der DDR. Die Resolution wird in der DDR erstmals am 18. Oktober 1989 in der Zeitung der LDPD "Der Morgen" veröffentlicht, Bis zu dieser Zeit hatten sich der Resolution über 3 000 Kollegen angeschlossen. Sie lautet:
    "Wir, die Unterzeichner dieses Schreibens, sind besorgt über den augenblicklichen Zustand unseres Landes, über den massenhaften Exodus vieler Altersgenossen, über die Sinnkrise dieser gesellschaftlichen Alternative und über die unerträgliche Ignoranz der Partei- und Staatsführung, die vorhandene Widersprüche bagatellisiert und an einem starren Kurs festhält. Es geht nicht um Reformen, die den Sozialismus abschaffen', sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen. Denn jene momentane Haltung den existierenden Widersprüchen gegenüber gefährdet ihn.
    Wir begrüßen ausdrücklich, daß Bürger sich in basisdemokratisch orientierten Gruppen finden, um die Lösung der anstehenden Probleme in die eigene Hand zu nehmen. Dieses Land braucht die millionenfache Aktivierung von Individualität, die alten Strukturen sind offenbar kaum in der Lage dazu. So haben wir den Aufruf des Neuen Forums zur Kenntnis genommen und finden in dem Text vieles, was wir selber denken, und noch mehr, was der Diskussion und des Austausches wert ist. Wir hallen es für überfällig, alte Feindschaften und Vorbehalte abzubauen und zu überwinden. Es ist nun wichtig, daß der politische Wille großer Teile der interessierten Bevölkerung eine positive Entsprechung von oben' findet, da h. auch Anerkennung dieser Gruppen, ihre Tolerierung und Einbeziehung in das Gespräch und in die Gestaltung dieser Gesellschaft, wie es die Verfassung der DDR mit ihren Bestimmungen gebietet. Dieses unser Land muß endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheiten sind.
    Das Anwachsen rechtsextremer und konservativ-nationaler Elemente auch bei uns, das Beliefern gesamtdeutscher Anschauungen ist ein Ergebnis fehlenden Reagierens auf angestaute Widersprüche und historisch unverarbeitete Tatsachen. Linke Kräfte fallen dieser Politik des Festhaltens erneut zum Opfer. Wir wollen in diesem Lande leben, und es macht uns krank, tatenlos mitansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche einer gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw. ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften. Wir fordern die Öffnung der Medien für diese Probleme. Wir fordern Änderung der unaushaltbaren Zustände. Wir wollen uns den vorhandenen Widersprüchen stellen, weil nur, durch ihre Lösung und nicht durch ihre Bagatellisierung ein Ausweg aus dieser Krise möglich sein wird.
    Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente und Voraussetzungen.
    Die Zeit ist reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns!"

    (DM, 18.10.1989)
  • In Leipzig kommt es nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche erneut zu Demonstrationen, bei denen weit über hundert Menschen festgenommen werden.
  • In der Berliner Samaritergemeinde appelliert Rechtsanwalt Rolf Henrich, einer der Initiatoren des Neuen Forum, an die sich in der DDR formierende Opposition, gemeinsam zu handeln.
  • In der Prager BRD-Botschaft befinden sich wiederum 400 ausreisewillige DDR-Bürger, in der BRD-Botschaft Warschau sind es über 100.

19. September

  • Das Neue Forum beantragt als erste oppositionelle Gruppe zum ersten Mal in der DDR ihre offizielle Zulassung als Bürgervereinigung.
  • In der Prager BRD-Botschaft erhöht sich die Zahl der DDR-Bürger auf über 500.
  • Der Vorsitzende der LDPD, Prof. Dr. Manfred Gerlach, gibt in seiner Festansprache auf der Veranstaltung seiner Partei zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung ein Signal für neues Denken: "(...) Höher- und Weiterentwicklung bedeutet in der Politik nicht bloß Vervollkommnung des Erreichten; es verlangt, Neues nicht zu blockieren, ' sondern aufzuspüren und auf den Weg zu bringen. (...)"
    (DM, 20.9. 1989)

21, September

  • ADN berichtet: "Der Minister des Innern der DDR teilt mit, daß ein von zwei Personen unterzeichneter Antrag zur Bildung einer Vereinigung Neues Forum' eingegangen ist, geprüft und abgelehnt wurde. Ziele und Anliegen der beantragten Vereinigung widersprechen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und stellen eine staatsfeindliche Plattform dar. Die Unterschriftensammlung zur Unterstützung der Gründung der Vereinigung war nicht genehmigt und folglich illegal. Sie ist ein Versuch, Bürger der Deutschen Demokratischen Republik über die wahren Absichten der Verfasser zu täuschen."
    (ND, 22.9. 1989)
  • Den Aufruf des Neuen Forum haben bis dahin 3 000 Menschen unterschrieben.
  • In der von dem SED-Politbüromitglied und für Medienpolitik verantwortlichen ZK-Sekretär Joachim Herrmann angewiesenen agitatorischen Erwiderungen auf den Massenexodus von DDR-Bürgern über Ungarn hebt sich der Bericht des 39jährigen Berliner Mitropa-Kochs Hartmut Ferworn (SED) über den "Menschenhandel mit DDR-Bürgern" besonders hervor: "(...) Am 11. September kam ich mit dem Corvina-Expreß in Buda­pest an. Bis zur Rückfahrt hatte ich rund sechs Stunden Zeit, wollte et­was essen, ein bißchen bummeln, was man eben so macht. in einem Bistro ( ... ) setzt sich plötzlich ein junger Mann zu mir. ( ... ) Er sprach Leipziger Dialekt und sagte mir auf den Kopf zu: Sie sind doch der Mit­ropa-Koch aus dem Corvina'. ( ... ) Als wir dann ins Gespräch kamen, bot er sich an, mir interessante Ecken der Stadt zu zeigen, die ich noch nicht kannte. Er müsse vorher nur noch Gepäck bei seiner Gastgeberin abstellen und bat mich mitzukommen. In der ganz normalen Altbau­wohnung bot mir eine gut deutsch sprechende Ungarin zunächst einen Kaffee und dann eine Menthol-Zigarette an. Sie schmeckte irgendwie komisch, und nach wenigen Minuten fielen mir die Augen zu, schwanden mir die Sinne. ( ... )" Derart betäubt sei er in einen Reisebus nach Wien verfrachtet worden. "( ... ) Offensichtlich hat man mir ein Be­täubungsmittel gegeben, wie ich. jetzt erfahren habe, eine beliebte Methode westlicher Geheimdienste und ihrer Handlanger. ( ... ) Ich sagte dem Fremdenführer': Ich will doch gar nicht in die BRD. Er feixte nur: Mitgefangen, mitgehangen. jetzt geht's erst mal in die BRD-Bot­schaft nach Wien.' Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und über­legte krampfhaft, wie ich da herauskomme. ( ... )" Nach Aufenthalt in der BRD-Botschaft in Wien, einer Einweisung ins Hotel Aquila zur Über­nachtung konnte er "diesen professionellen Menschenhändlern" schließlich wieder entkommen: "ich nutzte die erstbeste Gelegenheit, um telefonisch Kontakt mit der DDR-Botschaft in Wien aufzunehmen. Dort sagte man: Selbstverständlich helfen wir Ihnen, wieder nach Hause zu kommen.' Man schenkte mir Vertrauen. Am Donnerstag, dem 14. September, war ich wieder in der Heimat. ( ... ) Ich habe am ei­genen Leibe erfahren, wie der Menschenhandel funktioniert, wie Bür­ger unseres Landes in die BRD geschleust werden - wenn es sein muß, auch gegen ihren Willen, auf verbrecherische Weise."
    (ND, 21.9. 1989)
    Diese Story löst in weiten Kreisen der DDR-Bevölkerung herzhafte Lacher aus.

22. September

  • Vor dem Bezirkstag in Halle erklärt Volksbildungsministerin Margot Honecker, Mitglied des SED-Zentralkomitees, in ihrer Rede in Verkennung der Realität u. a.:. "( ... ) Die da so tun, als wäre nun die ganze Jugend auf der Wanderschaft in ihr wohlfeil dargebotenes, gepriesenes, gelobtes freies Land, denen wird unsere Jugend um so mehr und erneut zeigen, was sie kann, was sie will, sie wird auf dem Wege -zum XII. Parteitag, dessen sind wir sicher, mit ihrer Arbeit, ihren Ideen noch so manches vollbringen zur Stärkung unserer sozialistischen Heimat, worüber so mancher ,ins Staunen kommen wird(..)
    (ND, 23.124.9. 1989)
  • Nach einem Treffen zwischen DDR-Rechtsanwalt Prof. Wolfgang Vogel und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters in Bonn wird bekannt, daß die ersten Ausreisewilligen, die in der Berliner Ständigen Vertretung der BRD Aufenthalt genommen und sie dann freiwillig wieder verlassen hatten, Anfang Oktober in die Bundesrepublik ausreisen dürfen.

24. September

  • In Leipzig treffen sich Vertreter des Neuen Forum, des Demokratischen Aufbruchs, von Demokratie jetzt, der Vereinigten Linken und weiterer oppositioneller Gruppen.

25. September

  • Bärbel Bohley und Jutta Seidel vom Neuen Forum wird im Innenministerium der DDR mitgeteilt, daß "der Antrag auf Zulassung der Vereinigung abgelehnt wird". Als Begründung wird angegeben, es bestehe keine gesellschaftliche Notwendigkeit für eine derartige Vereinigung.
  • In Leipzig demonstrieren nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche 5 000 bis 8 000 Menschen. Sie fordern Reformen in der DDR und Zulassung des Neuen Forum. Die Ausreisewilligen stellen zum ersten Mal eine verschwindende Minderheit der Demonstranten. Ein knappes Dutzend Teilnehmer wird vorläufig festgenommen.
  • Auf dem Gelände der Prager BRD-Botschaft halten sich fast 900 ausreisewillige DDR-Bürger auf, darunter etwa 200 Kinder. Die ständige Zunahme der Ausreisewilligen an diesem Ort erklärt sich unter anderem aus verschärften Kontrollen der CSSR an ihrer Grenze zu Ungarn, durch die illegale Grenzübertritte von DDR-Bürgern zunehmend verhindert werden.

26. September

  • Die Fraueninitiative "lila offensive" stellt auf einer Veranstaltung in der Berliner Gethsemanekirche ein Standortpapier vor, in dem sie u. a. feststellt:
    "( ... ) Sozialwissenschaftliche Forschungen belegen, daß sich in der DDR zwar positive Veränderungen hinsichtlich der Situation und des Ansehens sowie des Selbstverständnisses von Frauen vollzogen haben, aber dennoch das Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse noch immer als patriarchalisch charakterisiert werden muß. Nach wie vor sind männlich dominierte Maßstäbe, Denkweisen und Verhaltensweisen präsent und normbestimmend. Folglich ist die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln nicht per se gleichbedeutend mit der Aufhebung der sozialen Ungleichheit von Frau und Mann. Hierzu bedarf es außer sozialistischen Produktionsverhältnissen eines tiefgreifenden Wandels des gesellschaftlichen Bewußtseins, der geistigen Kultur (Kunst, Wissenschaft, ­Ideologie, Alltagsbewußtsein etc.) der Gesellschaft. Als Zielstellung formuliert das Standortpapier u. a.:
    "(...) Unser Ziel besteht darin, der Ungleichheit der Stellung der Geschlechter in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Wir wollen insbesondere die Mechanismen benennen und bekämpfen, die geeignet sind, die bestehende soziale Ungleichheit von Frau und Mann zu reproduzieren und festzuschreiben.
    Wir sehen Möglichkeiten und Notwendigkeit unseres Wirkens auf drei Ebenen:
    1. Wir wollen dazu beitragen, das Problembewußtsein hinsichtlich der Stellung und Situation von Frauen und Männern in der DDR zu erzeugen bzw. bestehendes zu differenzieren.
    2. Wir wollen Veränderungen in den gesellschaftlichen Bedingungen einfordern, die auf die Herstellung realer Gleichstellung von Frauen und Männern gerichtet sind.
    3. Wir wollen dazu beitragen, die Fähigkeit von Frauen, ihre Situationen zu erkennen, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu artikulieren und schließlich daraus abgeleitete Absichten und Forderungen zu realisieren, entscheidend zu erhöhen. (...)" Unter Punkt 3 "Selbstverständnis der ‚lila offensive‘” heißt es u. a.: "Wir verstehen uns als Feministinnen. Feminismus ist für uns Interessenwahrnehmung für Frauen - unabhängig von ihren Lebens- und Liebesverhältnissen. (...)
    Feminismus meint in unserem Verständnis nicht die völlige Ausgrenzung von Männern. Soll eine Gleichstellung tatsächlich praktizierbar, tatsächlich wirkungsvoll sein, muß sich männliches Selbstverständnis parallel zu weiblichem Selbstverständnis mitentwickeln. Deshalb kann es uns Feministinnen nicht um einen Frauenzentrismus gehen, der die Männer nur als Objekte behandelt. Es muß unser Anliegen sein, ihnen Kenntnis und Anteilnahme an unseren Ansichten zu ermöglichen, damit das Wissen, daß die Emanzipation des einen Geschlechts nur durch die Emanzipation des anderen Geschlechts erreicht werden kann, umgesetzt wird, damit Geschlechtsverhältnisse zu emanzipierten Verhältnissen werden."
    Die Fraueninitiative, die sich "als Bestandteil einer unabhängigen Frauenbewegung" versteht, stellt folgenden Forderungskatalog auf:
    "I. Erwerbstätigkeit
    1. Reale ökonomische Gleichstellung von Frau und Mann sowie freier Zugang von Frauen und Männern zu allen Berufszweigen.
    Dazu sind folgende Schritte notwendig:
    Höherbewertung, und bessere Bezahlung für ‚frauentypische' Berufe
    - Förderung der Motivation und des Zugangs von Frauen zu wissenschaftlichen und technischen Berufen
    - Förderung der Motivation und des Zugangs von Männern zu Berufen des Sozialen Bereichs
    Kindererziehung, Gesundheitswesen, Dienstleistung)
    - Quotenregelung für Leistungs- und Entscheidungsfunktionen
    - gleiche Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen und Männern in einem Beruf hinsichtlich ihres fachlichen Könnens und Wissens
    2. Eltern- und kinderfreundliche Arbeitsgesetzgebung.
    Dazu sind folgende Schritte notwendig:
    - Förderung der Vereinbarkeit von Mutterschaft als auch Vaterschaft und Berufstätigkeit
    - Erweiterung der steuerlichen Vergünstigungen bzw. finanziellen Zulagen für Kindererziehende
    - gleiche Möglichkeiten für Männer und Frauen hinsichtlich Teilzeitarbeit
    - Erweiterung der Möglichkeit zur Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger bzw. Partnerinnen, ohne finanzielle Benachteiligungen
    II. Bereich der individuellen Reproduktion
    1. Frauen und Männer übernehmen Verantwortung und Arbeitsaufwand für den häuslichen und erzieherischen Bereich zu gleichen Teilen.
    Dazu sind folgende Schritte notwendig:
    - Aufhebung der einseitigen Festlegung sozialpolitischer Maßnahmen auf Mütter
    - Recht und Pflicht zur sozialen Vaterschaft
    2. Entscheidungsfreiheit in bezug auf Gestaltung von Lebens- und Liebesverhältnissen
    Dazu sind folgende Schritte notwendig:
    - Abschaffung aller an die Ehe gebundenen Privilegien
    - zivilrechtliche Absicherung aller nichtehelichen (z. B. lesbischen) Lebensgemeinschaften
    - Demokratisierung des gesellschaftlichen Erziehungsprozesses
    - Schaffung alternativer Möglichkeiten zur Kinderbetreuung und -erziehung (Kinderläden, Spielhäuser, Jugendzentren)
    III. Macht- und Entscheidungsbereiche
    Die Interessen von Frauen und Männern müssen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens berücksichtigt werden.
    Dazu sind folgende Schritte notwendig:
    - Einführung einer 50-Prozent-Quotierung bei der Aufstellung von Kandidatinnen für alle Ebenen der Volksvertretungen (Volkskammer, Bezirks- und Kreistage)
    - Durchsetzung von Quotenregelungen in den Leitungen von Parteien und Organisationen entsprechend des Anteils von Frauen bzw. Männern
    - Zulassung und Förderung alternativer Interessenvertretungen von Frauen (autonome Frauenbewegung)- Bildung einer Frauenfraktion in der Volkskammer, in der Vertreterinnen der autonomen Frauenbewegung einen gleichberechtigten Platz haben
    - Frauenministerium bzw. Frauenreferat in der Regierung als Übergangslösung
    IV. Recht
    1. Überarbeitung des Strafgesetzbuches mit dem Ziel, die konsequente Bestrafung jeder Form von Gewalt gegen Frauen zu ermöglichen.
    2. Herstellung eines gleichberechtigten Status von Männern hinsichtlich des Erziehungsrechtes bei Scheidungen sowie generell bei Wahrnehmung der sozialen Vaterschaft
    V. Sozialisation
    Abbau geschlechtsstereotypischer Verhaltensnormen.
    Dazu sind folgende Schritte notwendig:
    1. Schaffung von Kommunikations- und Begegnungsmöglichkeiten für Frauen, die es Frauen ermöglichen, eigene Bedürfnisse zu erkunden und zu artikulieren (Frauencafes, -clubs, -bibliotheken, -wohngemeinschaften, -ferienhäuser)
    2. Entwicklung eines öffentlichen Bewußtseins und der Diskussion über die Geschlechterfrage
    - Öffnung der Medien für diese Problematik bzw. Zulassung neuer Frauenzeitschriften, -sendungen etc.
    - Veröffentlichung bzw. freier Zugang zu feministischen Forschungsergebnissen
    - Thematisierung und Abbau sexistischer Medieninhalte
    - Förderung frauengerechter Sprache und Sprachverhaltens
    3. Abbau rollenfixierter Erziehung
    - kritische Analyse von Lehrplänen und -büchern hinsichtlich der Vermittlung von Geschlechtsrollenstereotypen und Erarbeitung neuer Lehrmittel
    - körperfreundliche enttabuisierte Sexualerziehung
    - Erziehung zur Übernahme gemeinsamer Verantwortung für die Schwangerschaftsverhütung."
  • Der Berliner Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolfgang Vogel sowie die BRD-Staatssekretäre Walter Priesnitz und Jürgen Sudhoff, begleitet vom Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Franz Bertele, versuchen in der Prager BRD-Botschaft die inzwischen über 1000 Ausreisewilligen zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Vogel erneuert die verbindliche Zusage der DDR-Regierung, daß alle Rückkehrer innerhalb der folgenden sechs Monate in die BRD ausreisen dürfen. 200 DDR-Bürger nehmen das Angebot an und fahren in Bussen in die DDR zurück.

27. September

  • Eine Lösung für die rund 400 DDR-Ausreisewilligen, die sich in der Warschauer BRD-Botschaft aufhalten, sei "auf gutem Wege", erklärt ein Sprecher des polnischen Außenministeriums.

28. September

  • Dem von Rechtsanwalt Vogel dargelegten Angebot, nach Rückkehr in die DDR bereits in den nächsten Wochen in die BRD ausreisen und ihre Habe mitnehmen zu können, daß ebenso Familienangehörige übersiedeln dürfen und künftige Besuchsreisen in die DDR gestattet werden, folgen nur 50 der sich in Warschau befindenden ausreisewilligen DDR-Bürger.
  • In der Prager BRD-Botschaft halten sich über 2000 DDR-Bürger auf. Ihre Lage ist katastrophal. Am Rande der UNO-Vollversammlung in New York konferiert BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit seinen Amtskollegen aus der DDR, der UdSSR und der CSSR UdSSR-Außenminister Eduard Schewardnadse sagt zu, in "Kontakten mit anderen Regierungen" auf eine Verbesserung der Lage der DDR-Flüchtlinge in Prag hinwirken zu wollen.

29. September

  • In seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung in New York geht DDR-Außenminister Oskar Fischer auf den Massenexodus von DDR-Bürgern nicht ein, betont jedoch, ohne den Adressaten BRD offen zu nennen: "(...) sich unter dem Deckmantel der Humanität unter Verletzung der Hoheitsrecht anderer Staaten eine sogenannte Obhutspflicht für deren Bürger anzumaßen, muß Konflikte provozieren, die Zusammenarbeit im Herzen Europas untergraben, sogar den Frieden gefährden.
    (ND, 30.9.11. 10. 1989)
  • Gewerkschaftsmitglieder im Berliner VEB Bergmann-Borsig wenden sich mit einem Offenen Brief an den FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch:
    "Stellvertretend für den überwiegenden Teil von 480 Gewerkschaftsmitgliedern wenden wir, Vertrauensleute und AGL-Funktionäre der AGL-TK (Technischer Bereich) des VEB Bergmann-Borsig, Berlin, uns mit diesem Offenen Brief an Sie, um auf einige sich in letzter Zeit verschärfende Probleme in unserer Arbeit hinzuweisen. Wir tun das in der Überzeugung, daß Sie in Ihrer Eigenschaft als Vorsitzender des FDGB-Bundesvorstandes und Mitglied des Politbüros des ZK der SED Einfluß auf die Überwindung der im folgenden dargelegten Situation ausüben können. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen wir Gewerkschaftsmitglieder die derzeitige politische Entwicklung in unserem Lande. Viele unserer Kollegen treten zunehmend kritisch auf und bekunden Befremden und Unzufriedenheit. Insbesondere stößt die offizielle Interpretation der politischen Realität und aktueller Geschehnisse durch die Massenmedien der DDR mehr als bisher auf Unverständnis. Es liegt auf der Hand, daß sich in einem derartigen Stimmungsklima Wettbewerbsmüdigkeit und nachlassende Leistungsbereitschaft breitmachen, wie es zum Beispiel bei der Plandiskussion 1990 zutage trat. In Diskussionen ist eine nahezu einhellige Ablehnung der Art und Weise festzustellen, wie Presse, Rundfunk und Fernsehen tiefgrei­fende und die Werktätigen bewegende aktuelle politische Probleme abhandeln oder zum Teil verschweigen. Dabei wird in keiner Weise der Tatsache Rechnung getragen, daß es sich bei unseren Menschen um politisch urteilsfähige, mündige sozialistische Persönlichkeiten han­delt, die einen Anspruch auf objektive Informationen haben. Besonders kraß kommt im Zusammenhang mit der legalen und illegalen Ausreise vieler unserer Mitbürger in die BRD zum Ausdruck, wie weit Realität und Propaganda voneinander entfernt sind. Inzwischen sind auch aus unseren Reihen schmerzliche Verluste zu beklagen. Verlassen haben uns Menschen, die in unseren Schulen eine sozialistische Erziehung erhielten und die in unserem Land eine gesicherte Existenzgrundlage hatten. Es trifft nicht im entferntesten die Überzeugung und Empfindungen der Mehrzahl unserer Kollegen, wenn die Medien nach peinlichem Schweigen nun den Versuch unternehmen, die Abkehr so vieler unserer Menschen ausschließlich als Machwerk des Klassengegners zu entlarven, bei dem diese DDR-Bürger nur Opfer oder Statisten sein sollen. Wir sind auch nicht der Meinung, daß es nützlich ist, die Minderheit prozentual zu errechnen und im übrigen davon auszugehen, daß die Hiergebliebenen die Zufriedenen seien. Bei Anhalten dieser Situation werden über kurz oder lang schwerwiegende Folgen für viele Bereiche unserer Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben eintreten. Wir halten es deshalb für dringend erforderlich, daß die wahren Gründe, die zum Weggang unserer Bürger führen, sorgfältig und ehrlich untersucht und diskutiert werden. Einer der Gründe ist mit Sicherheit die unzureichende ökonomische Stärke der DDR und die gesamte daraus resultierende Palette an Restriktionen für unsere Menschen, ein anderer das gestörte Vertrauensverhältnis der Bevölkerung zum Staat und seiner führenden Partei. Kollege Tisch, wir wenden uns an Sie, weil wir um die Entwicklung unseres Landes besorgt sind und nach Wegen suchen, weiteren Schaden abzuwenden. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie Ihre ganze Kraft und die Ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einsetzen, um den öffentlichen Dialog über dringend notwendige Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen einzuleiten und durchzusetzen. Dabei kommt nach unserer Überzeugung dem Einfluß der Gewerkschaft entscheidende Bedeutung zu. Wir müssen den Menschen neue Perspektiven bieten, die es ermöglichen, das bisher Erreichte auf der Basis wirklich individueller Einflußnahme weiterzuentwickeln. Der Sozialismus muß zu einer neuen Attraktivität entfaltet werden, die alle motiviert, sich mit ihm zu identifizieren.
    Wir und unsere Mitglieder wären Ihnen für eine baldige Antwort dankbar."

30. September

  • Entgegen zuvor mehrmals erklärter Ablehnung gestattet die DDR-Regierung den rund 5 500 ausreisewilligen DDR-Bürgern in Prag und den etwa 800 in Warschau die Übersiedlung in die BRD. Dazu vermeldet ADN unter der Überschrift "Humanitärer Akt": "In dem Bestreben, die nicht von der Regierung der DDR herbeige­führte unhaltbare Situation in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau zu beenden, hat die Regierung der DDR nach Konsultatio­nen mit den Regierungen der CSSR und der VRP sowie mit der Regie­rung der BRD veranlaßt, daß die sich in diesen Botschaften rechtswid­rig aufhaltenden Personen aus der DDR mit Zügen der Deutschen Reichsbahn über das Territorium der DDR in die BRD ausgewiesen werden. Der Vorgang vollzog sich - auf Vorschlag der Regierung der DDR im Verlauf der Nacht vom 30. September zum 1. Okto­ber. (...)"
    (ND, 2. 10. 1989)
  • Nach Auskunft von BRD-Außenminister Genscher und BRD-Kanzleramtsminister Seiters geht diese Entscheidung auf Erich Honecker persönlich zurück.
  • In einer weiteren, von ADN verbreiteten Mitteilung des Sprechers des DDR-Außenministeriums, Botschafter Wolfgang Meyer, heißt es zur "Abschiebung" der DDR-Bürger in die BRD: "(...) Nun werden einige Bürger der DDR an uns mit Recht die Frage stellen, warum wir diese Leute über die DDR in die BRD ausreisen lassen, obwohl sie grob die Gesetze der DDR verletzten. Die Regierung der DDR ließ sich davon leiten, daß jene Menschen bei Rückkehr in die DDR, selbst wenn das möglich gewesen wäre, keinen Platz mehr im gesellschaftlichen Prozeß gefunden hätten. Sie haben sich selbst von ihren Arbeitsplätzen und von den Menschen getrennt, mit denen sie bisher zusammen lebten und arbeiteten. Bar jeder Verantwortung handelten Eltern auch gegenüber ihren Kindern, die im sozialistischen deutschen Staat wohlbehütet aufwuchsen und denen alle Kindereinrichtungen, alle Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten offenstanden. jene Leute hätten auch Schwierigkeiten bekommen, neue Wohnungen zu erhalten, da diese natürlich für andere Bürger vorgesehen sind. Vorzugsbehandlung konnten sie in der DDR nicht erwarten. Hinzu kommt, daß sich nach bisherigen Feststellungen unter diesen Leuten auch Asoziale befinden, die kein Verhältnis zur Arbeit und auch nicht zu normalen Wohnbedingungen haben. Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.
    (ND, 2. 10. 1989)
  • Bis Ende September sind über die ungarisch-österreichische Grenze rund 25 000 Übersiedler aus der DDR in die BRD gelangt.
  • Nach Angaben aus Kirchenkreisen der DDR sind bis zu diesem Zeitpunkt elf Teilnehmer der Friedensgebete in Leipzig zu Haftstrafen bis zu sechs Monaten verurteilt worden, knapp zwei Dutzend weitere haben Geldstrafen bis zu 5 000 Mark erhalten.
  • In seiner Rede zum 100. Geburtstag Carl von Ossietzkys erklärt der Vorsitzende der LDPD, Prof. Dr. Manfred Gerlach, u. a.: Was Liberaldemokraten heute mit Sorge erfüllt, ist, daß sich politische Wachsamkeit auch gegen Bürger zu kehren beginnt, die sich, ihrem demokratischen Verständnis von Humanismus, von Da-sein für Mitmenschen folgend, kooperativ an der Gestaltung des Sozialismus beteiligen wollen, aber Gefahr laufen, als Quertreiber ausgegrenzt zu werden. In diesen Fällen melden wir uns zu Wort und sagen: Da wird guter Wille mißdeutet, da werden kritische Gedanken als Ausfluß bürgerlicher Ideologie in die antisozialistische Ecke gestellt, da werden zuweilen Tatbereitschaft und Engagement, nur weil sie sich nicht an die gewohnten Regeln halten, als oppositioneller Versuch zurückgewiesen. Sozialistisches Staatsbewußtsein der Bürger aber mißt sich an der sozialistischen Verfassung. Widerrede ist nicht Widerstand; im öffentlichen Dialog, in der kritischen Auseinandersetzung, die auf Einmütigkeit zielen, aber nicht auch in jedem Falle in Einstimmigkeit münden müssen, wächst politisches Vertrauen. Das ist ein immerwährender demokratischer Prozeß. Gegner des Sozialismus wissen von unseren Problemen, von Widersprüchen und Widerwärtigkeiten; deren Widerspiegelung in den Medien und in den Volksvertretungen würde nicht Schwächung der Arbeiter-und-Bauern-Macht enthüllen, sondern im Gegenteil die politische Klugheit der Bürger aller Schichten, der Mitglieder aller Parteien ans Licht bringen. Indessen klaffen die öffentliche Selbstdarstellung und seine Wirklichkeit weiter auseinander. Fragen, die die Entwicklung in sozialistischen Ländern (sowohl in Ungarn und Polen als auch in China und Rumänien) auslösen, reflektieren Sorgen und Irritationen und bewirken, da öffentlich weitgehend ignoriert, Verlust an Glaubwürdigkeit und lassen Gegner Boden gewinnen. Artikulieren wir dagegen Nachdenken über den Sozialismus, über seine Erneuerung und Demokratisierung, üben wir im Geiste Carl v. Ossietzkys kämpferische Toleranz, dann finden jene keinen Raum, die vorgeben, anders zu denken, in Wahrheit aber sich anschicken, alternativ zu handeln.
    (DM, 30. 9. 1989)
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