Psychoanalyse und Revolte
Teilnehmer: Heide Berndt und Reimut Reiche
Diskussionsleitung: Peter Jahn
Peter Jahn: Heute also Psychoanalyse und Revolte. Zu meiner Rechten Heide Berndt zu meiner Linken Reimut Reiche, ich sage gleich noch etwas zu ihnen. Und jetzt wollen wir also kurz ins Thema reinkommen.
Wenn man heute so den Berg an Publizistik liest, der sich mit '68 und Folgen und Vorgeschichte befaßt, also in den Allgemeinpublizistiken, dann hat man leicht den Eindruck, daß die Politik in der 68er Revolte nur ein Vorwand oder eine Nebensache war: alles entschärft. Man hat so den Eindruck, als ob heute die damalige Revolte und ihre politischen Zielsetzungen damit entschärft werden und man sich ihnen dadurch wieder nähern kann, indem sie eben ausschließlich auf den in weiten Bereichen erfolgreichen Aspekt der sogenannten Kulturrevolution reduziert werden.
Unsere Vorlesungsreihe will schon dagegen darauf insistieren, daß das im Kern eine politische Revolte war, die politische Zielsetzungen hatte, und daß das damals im Kernbereich auch durchaus revolutionär gemeint war. Daher auch die zahlreichen Themen zu diesen Bereichen: Faschismus, Demokratievorstellung, Marxismusrezeption ... Andererseits ist natürlich klar: Nichts wäre falscher, als wenn man die Studentenbewegung auf richtige und falsche politische Analysestrategie und -taktik reduzieren wollte. Wir haben schon in der Veranstaltung der Faschismusanalyse gesehen, wie stark das subjektive Moment auch in einer Diskussion damals eine Rolle spielte, sowohl bei den Betroffenen, die es gleichzeitig als Generationskonflikt mit ihren eigenen Eltern erlebten, die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, als auch in der Faschismusanalyse, wo die Frage "Was geht im Kopf, im Bewußtsein von Massen vor, die sich dem Faschismus in die Arme werfen?" eine wesentliche Rolle gespielt hat.
Beim letzten Mal war die Frage "Marxismus - Kritische Theorie" genau dieselbe Frage wieder: Was ist an subjektiven Kräften jeweils in solchen sozialen Bewegungen wirksam, was verhindert soziale Bewegungen? Für die Beteiligten in der 68er Revolte war jeweils wesentlich, daß die eigenen Affekte, wie auch die, die in der Gesellschaft prägend waren, nicht nur Begleiterscheinung einer Strategie oder Taktik im Konflikt waren. Sondern sie waren ein bewußt erlebtes und auch ein konstitutives Element der Revolte. Das ursprünglich als unpolitisch angesehene Thema, im Zentrum wohl die Frage nach Sexualität und Bedingung von Sozialisation, war in der Studentenbewegung ein wesentlicher Gegenstand der Politik.
Die Euphorie der beteiligten Studenten, Studentinnen, Schüler, Schülerinnen ist für die folgende Generation nur schwer erträglich, wenn das so im Rückblick kommt und in eine "weißt-du-noch"-Sentimentalität abgleitet. Aber die Euphorie beruhte damals auf derartigen Erfahrungen, von Momenten, von langen Augenblicken würde ich sagen, die selbst durchgeführte Durchbrechung von gesellschaftlicher Herrschaft, so wie man sie dann vor Ort erlebte, sie in den Institutionen gleichzeitig als individuelle Emanzipation erlebt wurde, und auch als Zielvorstellung bewußt einbezogen wurde. Dieser Doppelcharakter, der so als Idealbild der Studentenrevolte den Beteiligten damals vorschwebte, ist bekanntermaßen schnell genug aufgespalten worden.
Unmittelbar sichtbar ist dieser Zerfall in zwei Richtungen; zuersteinmal in den Parteigründungen, in denen dann Geschichte der Arbeiterbewegung nachgespielt wurde und das Subjekt sich der Klasse unterzuordnen hatte. Die andere Seite war weniger spektakulär, sie zählte aber genauso. Entweder der Abmarsch zur Pflege der individuellen schönen und bleibenden Seele, oder die autoritäre Wendung zum Guru, sei es in der aggressiven Form der AAO, der Beziehungskomune mit der diktatorischen Form kollektiven Zusammenlebens und kollektiver Sexualität, oder in der softeren Form des Baghwan-Kultes, demzufolge gesellschaftliche Herrschaft, eigentlich so lange sie nicht gegen den Erleuchteten selbst gerichtet war, kein reales Problem mehr darstellte.
Diese fatalen Entwicklungslinien fordern die Kritik auch an der Studentenbewegung oder an deren Rezeption, wie sie damals ihre Subjektivität begriff oder analysierte, heraus, an den Übersteigerungen, Mißverständnissen, die einen derartigen Mißerfolg zur Folge hatten. Umgekehrt muß man natürlich auch fragen. Was war weiterhin der Motor zur anhaltenden Emanzipationsbewegung, die vielleicht auf wenigen Sektoren so erfolgreich waren wie auf diesen Bereichen, etwa Thema Wohngemeinschaft, Kinderladen, Veränderung der gesamten Verhaltensform?
Das soll heute Gegenstand einer gemeinsamen Diskussion sein. Als Grundlage dieser Diskussion sollen die beiden Referenten erst einmal etwas Stoff hereinbringen. Ich will also kurz 'mal vorstellen, zu meiner Rechten Heide Berndt, die hier in Berlin und Frankfurt Soziologie studiert hat, politisch die erste Sozialisation beim Argument machte, noch bevor das Argument etwas mit der SEW1 zu tun hatte, die dann seit 1979 in Frankfurt beim "Mittstädtischen Bereich Architektur Stadtplanung, Planungskritik" gearbeitet hat. Sie ist Professorin für Sozialmedizin an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik hier in Berlin. Zu meiner Linken Reimunt Reiche, auch Soziologe von der Herkunft der Ausbildung her, auch Berlin und Frankfurt in den 60er Jahren, auch Argument-Club. 1966/1967 erster SDS-Bundesvorsitzender, also als der SDS beginnt, ein Kern der Studentenbewegung zu werden. Später dann Ausbildung als Psychotherapeut in Frankfurt und jetzt dort praktizierender ... also ich werde hier berichtigt, er ist ein Analytiker, nicht irgendein Therapeut in Frankfurt.
Gut wir fangen jetzt an, Reimut Reiche wird jetzt etwas auf die Art und auch auf die verquere Art, wie damals mit der Psychoanalyse umgegangen wurde, eingehen, und Heide Berndt wird dann stärker dieses Moment des Fortwirkens betonen. Es war beim letzten Mal der Vorwurf gekommen, wir wären alle verdammt museal hier, und wir würden nur das Alte aufnehmen, hier geht es also genau darum, daß auch der weiterwirkende Strang dessen, was wir historisch hier sehr wohl aufarbeiten, fortgeführt wird. Und ich heiße Peter Jahn, arbeite in einem SDS-Projekt, bin Historiker und insofern ein Dilettant auf allen Gebieten.
Reimut Reiche: Meine Damen und Herren, meine lieben Freunde, vielen Dank daß Sie mich eingeladen haben. Lassen sie mich zunächst das Interesse der Studentenbewegung an der Psychoanalyse in einigen groben Strichen nachzeichnen, zum Zweck dieser Nachzeichnung, nur zu diesem Zweck möchte ich bis 1969, also bis zur Auflösung des SDS, drei Abschnitte unterscheiden.
Im ersten Abschnitt, den ich "Rekonstruktionsphase" nennen möchte, finden wieder Aneignung und Neuaneignung der im Nationalsozialismus zerstörten Denktraditionen und Denkbewegungen statt, die mit den Überschriften "Marxismus", "Psychoanalyse" und "Kritische Theorie" bezeichnet sind. Die Unvereinbarkeitserklärung von SDS und SPD mag hier historisch den beginnenden Höhepunkt dieses Abschnitts einer langen Wiederaneignung und Neuaneignung dieser zerstörten Denktraditionen (markieren), die ja natürlich untergründig immer stattgefunden hat, aber aus der Einsamkeit und Vereinzelung des Denkens, erst Anfang der 60er Jahre herausgefunden hat.
Jeder, der an dieser Zeit der Wiederentdeckung einer Welt des verschütteten Denkens teilhatte, erinnert sich an die besondere identitätsstiftende Euphorie und das besondere Hochgefühl einer inneren Verbundenheit mit Gedanken, die zuvor "nie gedacht waren", und die doch alle schon ausformuliert vorlagen und nun von uns aus den Exilarchiven an's Tageslicht gefördert wurden. Diese Wiederaneignung war im Unbewußten verbunden mit einem Traueraffekt und zugleich mit einem Affekt der Wiedergutmachung an und der Wiedervereinigung mit dem verlorenen guten Objekt, das auf diese Weise dieser Wiederaneignung den Nationalsozialismus überlebte. Das erklärt auch, warum es für diese Zeit so wesentlich war, verlorene Gedanken, gleichsam wie verschüttete körperliche Objekte leibhaftig auszugraben. Der Wert eines Gedankens schien mit der Mühe der Bergungsarbeit der Publikation zu wachsen, in dem dieser Gedanke erschienen war. Stichworte sind "Zeitschrift für Sozialforschung", alle Emigrantenzeitschriften, "Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik", die ja in dieser Zeit, was man ja auch sehen muß, technologisch nach dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte (zugänglich gemacht wurden). Es war ja die Zeit vor der massenhaften Verwendung des Fotokopiergerätes. Damals wurde ein Text, wenn er gefunden war, auf Wachsmatritze abgetippt und dann vervielfältigt und in vervielfältigter Form zugänglich gemacht. Es war eine ganz andere, also eine archäologische, konkretere Form der Aneignung gewesen. Das hatte, glaube ich, unbewußt eine sehr starke Rolle gespielt.
In einer nur nachträglich rekonstruierbaren zweiten Phase, die ich hier "aktuelle Vorbereitungsphase der Revolte" nennen möchte, werden ungefähr ab 1965 Fragestellungen aus Marxismus, aus Psychoanalyse und aus Kritischer Theorie auf eine politische Weise derart neu formuliert, daß nun alle Antworten auf alle Fragen sich - wie wir damals sagten - ausweisen müssen, sich der westdeutschen Linken legitimieren müssen nach ihrer Relevanz für die internationalen Klassenkämpfe. Paradigmatisch für diese Phase sind solche Publikationen wie Kurt Steinhaus über internationale Klassenkämpfe, über Internationalismus und von Agnoli/Brückner über Demokratie. Zu dieser Zeit erscheint auch der erste Raubdruck von Wilhelm Reichs "Massenpsychologie des Faschismus", also das ist technisch noch gemacht auf Offsetplatten-Druckverfahren. Wenn ich mich nicht täusche, ist dies der erste Raubdruck in der Geschichte der Studentenbewegung und damit in der Geschichte der BRD.2 In diesem Abschnitt, bereits 1965, nimmt auch die Beschäftigung mit der konkreten nationalsozialistischen Vergangenheit ab, also es nimmt auch die Beschäftigung mit einer Geschichte von Massenvernichtung und Kulturzerstörung ab, die Ende der 50er Jahre und Anfang der 60er Jahre sehr stark war. Dazu gehört auch die Beschäftigung mit dem Thema "Ungesühnte Nazijustitz", die mit dem Namen Reinhard Strecker verbunden ist. Was zunimmt, ist eine Beschäftigung mit sogenannten großen Theorien im Zusammenhang mit Kapitalismus, Imperialismus und Faschismus, die rücken ins Zentrum des Interesses. Ich kann hier nicht der Frage nachgehen, warum der gerade erst begonnene Prozeß einer kollektiven Erinnerung und einer Durcharbeitung der Bedingungen unserer damaligen Identität als Erben der nationalsozialistischen Vergangenheit, warum dies bis Mitte der 60er Jahre so schnell wieder in großen Faschismustheorien theoretisch versachlicht, um nicht zu sagen, praktisch bereits wieder vergessen worden ist. Jedenfalls war das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" von Alexander und Margarete , als es 1967 erschien, für uns kein Thema mehr.
Denn wir schickten uns gerade an, selbst Teil des Themas zu werden, also selbst Teil der Unfähigkeit zu trauern, mit dem, was ich die dritte Phase nennen möchte.
Der dritte historische Abschnitt beginnt natürlich mit dem 2. Juni 1967, also mit der Anti-Schah-Demonstration, mit dem Tod von Benno Ohnesorg und dem Massenhaftwerden der Bewegung. Das ist das, was "Aktionsphase" genannt wird. Zur Dynamik dieser Aktionsphase der Bewegung gehört ein ganz starker abrupter Funktionswechsel von Theorie. Dieser Funktionswechsel ist - so weit ich ihn bis jetzt verstehe - gekennzeichnet, durch eine manische Beschwörung der Einheit von Theorie und Praxis. Charakteristisch war ab dieser Zeit, daß man geradezu täglich spontan Daueraktionen erzeugen mußte und daß diese Daueraktionen zwanghaft jederzeit zusammengebracht werden mußten mit einer - wie wir damals sagten - theoretisch verbindlichen Ableitung aus einem marxistisch oder wie auch immer durchzogenen Durchdringen des gesellschaftlichen Ganzen. Psychoanalytisch ausgedrückt war das ein immenser Über - Ichdruck, der da gelastet hatte, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie stark jede Aktion, wie gewalttätig unmittelbar sie also theoretisch abgeleitet werden sollte.
Und an diesem Dauerkonflikt, an diesem hochgespannten Überichkonflikt, waren auch wir, die Protagonisten der Revolte, nach außen erkennbar. Und das hat erbracht, daß alles ausgewiesen werden mußte, daß wir also nach außen daran erkennbar waren, wie sehr wir diesen Dauerkonflikt externalisiert haben. Es war ein innerer Konflikt von Denkenwollen und Handelnsollen und ein Denkensollen oder Handelnwollen, das jederzeit spätesten ab 1967 in eins fallen mußte. Wenn man sich der Psychoanalyse im engeren Sinn zuwendet, wird man feststellen, daß die Psychoanalyse, verglichen mit dem Marxismus, von der Studentenbewegung oder von uns nur sehr äußerlich und bruchstückhaft rezipiert worden ist. Es bestand ein Anspruch Marx ganz zu verstehen, oder einen unverkürzten, also leninistisch oder stalinistisch oder bürgerlich geisteswissenschaftlich unverkürzten Marxismus zu rezipieren. So ein Anspruch bestand in Bezug auf die Psychoanlyse niemals. Die Psychoanalyse wurde eher über Herbert Marcuse und Wilhelm Reich zur Kenntnis genommen, als daß Freud selbst studiert worden wäre. Und wenn wir schauen, was studiert worden ist oder was rezipiert worden ist an der Psychoanalyse, so wird man feststellen, daß es von vornherein ein sehr, ein auf die Sexualität verkürzter oder verengter Triebbegriff war, also daß das Triebhafte, die ganze Triebtheorie oder die Triebanthropologie der Psychoanalyse zusammengeschnürt ist auf frühkindliche Sexualität einerseits, und andererseits auf das Studium der Familie oder der Institutionen als Herrschaftsträger, also als Medium für internalisierte Triebunterdrückung, wie wir das genannt haben.
Also typisch war, daß wir eigentlich einen Internalisierungsvorgang, den die Psychoanalyse vorgenommen hat, wie er nämlich durch die Hereinnahme von sozialer Herrschaft ins Über-Ich geschieht, daß uns das gar nicht so sehr interessiert hatte, sondern daß wir eine Wiederveräußerung des psychoanalytischen Gedankenguts vorgenommen haben, daß wir einfach gesagt haben, die Familie ist Garant der Herrschaft, daß wir also von vornherein eine Soziologisierung, eine Politisierung vorgenommen haben. Das ist etwas, was wir mit dem Marxismus, mit dem wissenschaftstheoretischen Vergleich niemals gemacht hätten. Und ich glaube, daß man auch das in eine Formel zusammenfassen kann, daß wir als Studentenbewegung, als Kollektiv betrachtet zum Marxismus eine idealisierende, autoritär unterwürfige Beziehung eingegangen sind und zur Psychoanalyse eine von vornherein verdinglichende und instrumentelle. Es wurde nur gefragt, was erbringt die Psychoanalyse für die Kritik des Kapitalismus, was erbringt sie für die Kritik der Überbaueinrichtungen, also der Familie, der Erziehung und der Moral im allgemeinen.
Wenn ich versuche zu erklären, was Psychoanalyse ist, will ich einen Satz von Freud zitieren. Freud, der immer wieder versucht hat, die Psychoanalyse vor falschen Freunden zu schützen, sagt einmal: Die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge (1), die Anerkennung der Lehre vom Widerstand (2) und der Verdrängung (3), die Einschätzung der Sexualität (4) und des Ödipuskomplexes (5) sind die Hauptinhalte der Psychoanalyse und die Grundlagen ihrer Theorie, und wer sie nicht alle gutzuheißen vermag, sollte sich nicht zu den Psychoanalytikern rechnen. Also von diesen fünf Hauptinhalten oder Hauptpfeilern hat sich die Studentenbewegung für's Unbewußte ja schon überhaupt nicht interessiert. Sie war ja meiner Meinung nach ab 1967 dabei, das Unbewußte, das sie eigentlich rekonstruiert hatte, also die unbewußte Gewalt in der Nachkriegsaera, im Nachfaschismus, was sie da an unbewußter Wirksamkeit der grausamen omnipotenten und massenmörderischen Affekten da zu rekonstruieren begonnen hatte, dies zu verdrängen. Mit dem Massenhaftwerden der Bewegung ab 1967, ist gleichsam über Nacht Wilhelm Reich da. Es ist schwer zu sagen ob überhaupt als Autor und Text, ob nicht von vornherein als Parole, als Erkennungszeichen, als Metapher für die unbedingte Forderung, mit der Revolution bei uns selbst zu beginnen. Erinnern wir uns daran: Die Kommune I war einige Monate zuvor gegründet worden, nach langen klandestinen Diskussionen ins Leben gerufen worden. Ihr Programm wurde von Dieter Kunzelmann, der aus dem Münchner Kreis der "Unverbindlichen Richtlinien"3 gekommen war, nach außen mit der bösen Formel vertreten: "Was geht mich der Vietnamkrieg an, so lange ich Orgasmusschwierigkeiten habe". Erinnern wir uns auch, daß diese abgründige Parole durchaus nicht zu einem Rückzug ins private Psychische aufforderte, wie einige Zeit später die Therapiebewegungen um die AA-Komunen oder bis Bhagwan heran, als dessen Keimzelle die K I durchaus gelten kann, sondern es war gerade die K I gewesen, die durch die sogenannte Tütenaktion auf der Antischahdemonstration vom 2. Juni 1967 zu sehr direkten kreativen Demonstrationsformen aufgerufen hatte.4 Also der Satz (von Kunzelmann), der scheinbar zum Rückzug ins Persönliche aufforderte, war als eine Provokation auf allen Ebenen gedacht. Natürlich besonders auch gegen die sogenannten Seminarmarxisten, die nicht mit der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums, so wie es damals hieß, hier und jetzt beginnen wollten. Dies ist sehr spannend an Dokumenten zu verfolgen und auch in der Geschichte des Raubdrucks würde man das feststellen, wie plötzlich innerhalb von zwei Monaten eine Wilhelm-Reich-Welle durchs Land flutet, wie plötzlich massenhaft die unterschiedlichsten Auflagen von Wilhelm Reich unter die Leute gebracht werden. Das können gar nicht Bücher gewesen sein, das können eigentlich nur Anstecknadeln in Buchform gewesen sein. Wilhelm Reich hatte sich ja von einem marxistisch orientierten Psychoanalytiker bis hin zu einem - meiner Meinung nach - Hexenmeister des Orgon, zu einem Mystiker der Orgonomie, also einer Lebensenergie entwickelt. Es wurden sämtliche unterschiedlichen Schriften in Raubdrucken herausgebracht, z.B. die Funktion des Orgasmus in den widersprechendsten Auflagen, 1932 gab es eine marxistische Begründung, 1947 gab es eine orgonomische Begründung, mit der sexuellen Revolution war es das gleiche. Ich kann das nicht im einzelnen nachholen, es war alles plötzlich da. Ich will 'mal ganz kurz in wenigen Strichen die sexualökonomische Lehre von Wilhelm Reich zusammenfassen: Sie beginnt von vornherein mit einer Reduzierung des von Freud entwickelten Triebbegriffes und auch des Aggressionstriebes auf eine purifizierte heterosexuelle Genitalität mit der Betonung auf genitale, zum Orgasmus führende sexuelle Befriedigung im Geschlechtsakt. Am Anfang steht die Überzeugung, daß die Einschränkung der genitalen Befriedigung durch gesellschaftliche Sexualmoral und sogenannte repressive Institutionen erfolgt, und daß das zu neurotischen Charakterdeformationen und autoritären Unterwürfigkeiten führt, kurz zu Krebs und Faschismus, oder später als Reich auch noch Krebs und Faschismus zusammenschnurren ließ, führte das nur noch zur emotionaler Pest. Emotionale Pest war das Stichwort, um auch noch Krebs und Faschismus in eins klinken zu lassen. Und dann weiter das sexualökonomische Postulat. Das ist eigentlich der interessantere Teil, woran sich die Studentenbewgung aufgehängt hatte, das sexualökonomische Postulat, daß volle orgastische Potenz ein energetisches Selbststeuerungspotential enthalte, das sich aus sich heraus zu individueller und gesellschaftlicher Gesundheit führe. Eigentlich ist nur so zu erklären, daß dies dann auch zu solchen Irrmeinungen geführt hat, daß tatsächlich eine Quantifizierung der Koitusakte zur Selbstbefreiung und gesellschaftlicher Befreiung führe. Diese idiotischen Zusammenziehungen habe ich in meinem Leben nie verstanden, ich habe dies auch auf verlorenen Posten ab 1968 bekämpft. Nachträglich würde ich sagen daß unsere Überlegungen, Forderungen und Aktionen im Zusammenhang mit der Revolutionisierung des bürgerlichen Individiums, einen kulturellen Innovationsschub von gewaltigem Ausmaß ausgelößt haben, der bis heute noch nicht zum Abschluß gekommen ist. Wir riefen "Zerschlagt die bürgerliche Kleinfamilie" und wurden zur Avantgarde einer demokratischen Modernisierung, im Bereich von Erziehung, Wohnform, Geschlechterbeziehung, Eheform, Kleider, Sitten, Tischsitten, und schließlich auch sexueller Sitten. Ich sage nicht, es wäre das ohne uns nicht gekommen, aber zweifellos hat die Studentenbewegung diesen Modernisierungsschub ausgelöst. Jetzt denke ich, daß in die ursprüngliche Programmatik der sexuellen Revolution ebenso wie in die 68er Begeisterung an der sexuellen Revolution ein Quidproquo, eine Vertauschung der Dinge eingeht, die in der Psychoanalyse mit dem Begriff Sexualisierung bezeichnet wird, und daß es darum geht, einem anderen dahinterliegenden unbewußten und nicht bewußt werden dürfenden Affekt einen sexuellen Ausdruck zu geben, um auf diese Weise diesen anderen unerträglichen Affekt - also etwa Depression oder Trauer, oder Liebeskummer - zugleich zu beherrschen und im Verschiebungsersatz der Sexualisierung abzuführen. Besonders eindrucksvoll ist die Sexualisierung ja an der kindlichen Onanie und an der Perversion zu studieren. Kindliche Onanie wie Perversion sind eigentlich keine sexuell ausgelösten Phänomene im engeren Sinn, sondern meistens Sexualisierungen von Affektzuständen, von Angst, von unbewältigbarem Haß und von Verlassenheitsdepressionen. So jedenfalls die psychoanalytische Auffassung.
Eingangs war von mir angedeutet worden, daß mit dem Abbruch der politisch theoretischen Rekonstrukionsphase der Studentenbewegung auch eine emotionale Trauerarbeit oder eine emotionalere Rekonstruktion abgebrochen worden ist. Und ich möchte nunmehr präzisieren, daß Anfang der 60er Jahre der in der Rekonstruktionsphase durchzuarbeitende Affekt von Trauer, Wut und Schuldgefühl im Zusammenhang mit der ungesühnten nationalsozialistischen Vergangenheit zwar eine politische Wendung in der Aktion - so unsere damalige Terminologie - erfahren hat, daß aber in diese Wendung eine nicht zu unterschätzende Sexualisierung unerträglicher Affekte von Trauer und Wut und Schuldgefühl von uns selbst eingegangen ist. Das kann man historisch an dem ab 1967 zunehmend rapide unsensibel, ja schließlich gefühllos gewordenen Umgang mit dem Naziphänomen nachweisen. Ich werde einige Beispiele dafür anführen.
Das erste Beispiel bezieht sich auf das vielfach reproduzierte Foto von der Kommune I, das auch jetzt wieder im SPIEGEL war und das sicher nicht ohne tieferen Grund bis heute immer wieder abgelichtet wird. Es handelt sich um das Bild, auf dem sieben Männer und Frauen nackt mit dem Gesicht zur Wand und gespreizten Beinen und mit von hinten sichtbaren Genitalien5 sich in gebückter Haltung an einer weißen Wand abstützen, links von ihnen ein einfaches Waschbecken, eigentlich nur ein Wasserhahn, rechts von ihnen ein kleines nacktes Kind, das die ihm auferlegte Pose, es den Eltern gleichzutun, also mit erhobenen Armen und gespreizten Beinen mit dem Gesicht zur Wand zu stehen, nicht durchhalten kann, und im Moment des Kammeraschusses sich umdreht und so den Beobachter anblickt. Also ich denke, daß die sexuelle Überwindung der Vergangenheit, die nicht vergehen darf, drastischer nicht ins Bild gesetzt werden kann. Bewußt sollte diese Fotoszene eine polizeiliche Durchsuchungsaktion der K I nach- und bloßstellen. Und doch stehen diese Männer und Frauen da, wie in einer ästhetisch inszinierten unbewußten Identifizierung mit den Opfern ihrer Eltern und verhöhnen diese Opfer zugleich durch den von vornherein vorgeprägten Lesetext des Bildes als sexueller Befreiung. Im SPIEGEL ist dieses Bild jetzt wieder kommentiert mit "sexuelle Hemmungen überwinden" oder so ähnlich, und die Kommune hat dieses Bild auch auf ihre Selbstpropagierungen als sexueller Befreiung auf die ganze Promiskuitätsdebatte und auf die Aufforderung zum Massenfick usw. vornedrauf gemacht. Dies sollte von vornherein als ein Dokument der Sexualisierung rezipiert werden, aber es ist eine Massenerschießung. Den Deutschen möchte ich kennen, der nicht an Plötzensee denkt, wenn er dieses Bild sieht, um nicht andere Namen zu nennen. Also ich habe sehr viele schriftliche Dokumente studiert, in denen man diese Tendenz nachweisen kann, daß zugleich ein Mord an den nationalsozialistischen Eltern und eine Wiedervereinigung mit den nationalsozialistischen Eltern in einer Sexualisierung vollzogen wird. In dem Selbsterfahrungsbericht der Kommune 2, also der von der K I abgespaltenen Kommune 2, gibt es diese Szene, das ist publiziert worden im Oberbaumverlag, daß zwei Kinder im Alter von drei und vier Jahren, deren Mutter oder Vater sie im Zusammenhang der K I-Entwicklung verlassen haben, in die K 2 hinüber gehen, und daß die schwere Verlassenheitsdepressionensymptome ausgebildet haben und daß als Therapie dann dagegen sexuelle Erregung, sexuelle Stimmulierung der Kinder durch die Eltern angegeben und vorgelebt wird, also eine inzestuöse Vereinigung. Und es wird immer zugleich mit begründet: Das Kind muß losgebrochen werden aus der Fixierung an die kleinbürgerliche und autoritäre Kleinfamilie. Es wird immer mit ganz schlagkräftigen harten militärischen Sätzen eine sexualisierende Befreiung propagiert. Wer das heute liest, dem kann eigentlich nur das Grauen kommen. Es heißt immer Aufhebung, Zerschlagung der Fixierung an die Eltern, also es ist symbolischer Elternmord und zugleich Versöhnung mit uns als besseren Eltern in einer gemeinsamen sexuellen Erregung von Eltern und Kindern. Und das wird eigentlich noch drastischer. Das drastischste Dokument, das ich dafür anführen kann ist aus dem Jahr 1969 vom Zentralrat der sozialistischen Kinderläden. Das war eine sehr autoritäre, selbsternannte Propagandazentrale zur Verbreitung antiautoritärer Erziehungsmaßnahmen. Dieser Zentralrat hat sehr starke Dokumente der kollektiven Kindererziehung aus den 20er Jahren, z.B. Vera Schmidts Moskauer Kinderlaboratorium usw., nachgedruckt und kommentiert. Und da gibt es ein "Experiment", das da auch nachgedruckt und kommentiert wird, das sind die sechs überlebenden Theresienstadtkinder, die in ihrer weiteren Entwicklung von Anna Freud und Sofie Dann dargestellt werden. Es handelt sich dabei um Kinder, die wie die 15 000 Theresienstadtkinder ganz ohne Eltern, also ohne erwachsene Erziehungs- und Identifikationsfiguren aufgewachsen waren. Die sind von Theresienstadt gleich 1945 ausgeflogen worden, sind dann weiter in England in einem Heim gewesen, Anna Freud berichtet darüber. Der Zentralrat der sozialistischen Kinderläden druckt das ab, und rechnet jetzt mit Anna Freud ab, wirft jetzt sozusagen der Anna Freud und der Sofie Dann, die darüber berichten, in dem Kommentar etwas vor, was Anna Freud noch nicht einmal den Nazis vorgeworfen hatte. Mit einer widerlichen Sprache werfen die denen vor, sie seien kleinbürgerliche verdinglichte Wissenschaftler, die gar nicht hätten sehen können, wie gut und großartig sich diese Kinder in dem KZ Theresienstadt entwickelt hätten. Also das ist ein Dokument des Grauens. Mir geht es nicht um die Anklage, sondern mir geht es um die Belegung dieser Tendenz, daß die Studentenbewegung mit einer kollektiven Durcharbeitung eines Traueraffektes angefangen hat und daß der sehr früh wieder abgebrochen worden ist. Es ist nicht umsonst, daß die drei großen Theorien, mit denen man sich ab 1945 erst vereinzelt, dann bis zum Höhepunkt der Studentenbewegung hin beschäftigt hat, von jüdischen Wissenschaften stammten. Marxismus, Psychoanalyse und Kritische Theorie sind einfach personell und von der Art des Denkens her ganz zweifellos jüdische Wissenschaften, und deren Wiederaneignung war verbunden - ich wiederhole mich noch einmal - mit einem Affekt der Euphorisierung, der Identifizierung, der Wiederversöhnung mit dem von den Eltern ermordeten guten Objekt. Und als dann die Trauer und das Schuldgefühl, die das gleichzeitig ausgelöst hat, nicht auszuhalten war, daß dies dann ganz stark in eine Richtung geht, daß der Faschismus auf die Familie, auf die Institutionen projeziert wird und nicht mehr in uns selbst gesucht wird. Vielen Dank.
Jahn: Die Heide Berndt hat da ab und an den Kopf geschüttelt bei einigen Passagen, sie wird aber erst einmal ihren Beitrag bringen und kann eventuell dann gleich den ersten Einstieg auf dem Podium machen zur Diskussion.
Heide Berndt : Also ich denke die Diskussion wird einiges noch klarer stellen. Es sind ja sicher einige hier, die über K I, K 2, über den Zentralrat der Kinderläden berichten können, darüber habe ich wenig zu sagen. Ja, Reimut hat ja bereits ausgeführt, welche Bedeutung Wilhelm Reich für die Bewegung hatte. Und ich kann nur bestätigen, daß wir Reich im Grunde auch nur sehr oberflächlich und kaum kritisch gelesen haben. Und gerade die späteren Überarbeitungen, die Reich selbst an seinem Werk vorgenommen hat, haben dieses verkürzte Verständnis von Sexualität gefördert, daß man sich durch's Bumsen selber befreit und damit die Revolution vorbringt, um es 'mal kurz zu sagen. Der Marxismus von Wilhelm Reich - muß ich sagen - steht auf besonders schwachen Beinen, wenn man die Schriften auch heute noch einmal ansieht und gründlicher liest. Er hat sich im wesentlichen wissenschaftlich auf Engels Schrift über das Privateigentum, die Familie und den Staat bezogen, der Marxismus ist bei ihm nicht sehr gründlich. Die Aneignung psychoanalytischen Denkens in der Bewegung war dennoch sehr groß. Ich empfinde das anders als du, Reimut. Es gab schon eine Feindschaft auch von den traditionellen Marxisten, Trotzkisten, Leninisten, Maoisten usw., von K-Grüpplern insgesamt, was die Beschäftigung mit Psychoanalyse anging, das wurde so als Subjektivismus, als studentische Bourgeoismentalität, falsches Klassenbewußtsein etc., verstanden. Und ich denke, daß der revolutionäre Kern des Verlangens, daß Selbstbefreiung und Befreiung der Menschheit zusammenfallen sollten und auch Lust und Freude bereiten sollten, daß das eben von den K-Grüpplern ignoriert wurde, und anstelle einer persönlichen politischen Identität zu schnell in eine geborgte getreten ist. Die Psychoanalytiker, seien sie orthodoxer oder neoanalytischer Prägung, haben die wilde Aneignung psychoanalytischen Denkens durch uns, also die antiautoritäre Bewegung natürlich als völlig verrücktes Agieren begriffen. Für die waren wir einfach nur eine Truppe hoffnungsloser Neurotiker. Und ich habe jetzt noch mal angeguckt, was die so 1969/1970 geschrieben haben, der neurotische Dikeur (?) und all so schlimme Diagnosen waren da dran. Ja, auch so eine Art emotionale Pest. Also die antiautoritäre Bewegung war für die Analytiker so etwas wie eine Kollektivneurose, die sich einem Mangel an väterlicher Autorität verdankte. Und das war auch ziemlich klar: Die Väter meiner Generation waren ja im Krieg gewesen, und da konnten sie sich nicht um die Kinder kümmern, und deswegen ist nichts aus denen geworden. Es ist sehr interessant, daß in den Analysen der damaligen Analytiker das Offenkundige, daß die Väter irgendwie in der Erziehung nicht so ganz da waren, weil sie mit Faschismus und Krieg beschäftigt waren, wobei der Krieg ja mit Faschismus wiederum zu tun hat, daß das so gut wie gar nicht erwähnt wird. Und auch uns war diese Verstrickung unserer Elterngeneration in ihrer Wirkung auf unser Verhalten noch sehr lange verborgen. Es gab nämlich doch sehr vielmehr unbewußte Identifikationen mit den oft ungeliebten Eltern, und daher auch eine unfreiwillige Schonung. Also da stimme ich mit dir schon überein, Reimut. Indem wenigstens ein Teil der privaten Probleme mit dieser Elterngeneration politisiert wurde, entstand die antiautoritäre Bewegung. Und zwar als emotionale Kraft. Und diese Bewegung war natürlich sehr viel mehr als eine bloße Revolte. Der Sturm brach auch nicht unvorbereitet mit der Trauerfeier für den erschossenen Benno Ohnesorg im Juni 1967 in Hannover los, sondern es gab eben sehr bedeutsame theoretische Vorbereitungsphasen. Darüber hat Reimut gesprochen. Die antiautoritäre Bewegung war die erste ernsthafte Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit in Deutschland, und sie berührte im Grunde auch sämtliche Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhangs und war ein leidenschaftliches Aufbegehren, gegen die Zustände, die die Menschenrechte mißachteten. Und darum die Solidarisierung mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die Parteinahme für den Vietkong, die Begeisterung für Rosa Luxemburg und Che Guevara und die Wut über die brutale sowjetische Beendigung des Prager Frühlings. Ein allgemeiner Befreiungswille stand gegen sinnlose Welteroberungsphantasien. Wahrscheinlich ist die 68er Bewegung die erste Bewegung gewesen, die im Kern die Befreiung von Herrschaft überhaupt meint, nicht bloß die Installierung neuer Eliten. Also wirklich revolutionär im Sinne von Marx. Diese Radikalität mußte sie - wie ich meine - auf die Erkenntnisse der Psychoanalyse stoßen. Denn die Psychoanalyse weiß mehr vom Fortbestehen des Grauens, das durch die Herrschafssysteme, durch die bisherigen Gesellschaften geschaffen worden ist. Und sie erklärt, wie Herrschaft im Menschen selbst verankert wird, unter welchen Bedingungen das Gesellschaftsverhältnis als psychologisches Bedürfnis auftritt. Und wenn man eine Theorie der Gesellschaft haben will, die den heutigen Umständen entspricht und gerecht wird, ist Freud als die notwendige Ergänzung zum Werk von Marx zu betrachten. Und das war einigen von uns schon irgendwo klar. Die kritische Theorie hat hier zu dem den Weg gewiesen. Im Frankfurter Institut für Sozialforschung hatte man schon vor 1933 damit begonnen, die Wurzeln faschistischen Verhaltens nicht allein in der Ökonomie und der Arbeitslosigkeit zu suchen, sondern auch in bestimmten Familienkonstellationen und Erziehungsidealen. Noch in den 60er Jahren, vermittelte Adorno regelmäßig die Forschungsergebnisse der großen zum Teil in den USA angefertigten Studien über Autorität und Familie. Es lag von daher in der Luft, antiautoritäre Erziehung als nicht faschistische Erziehung ausprobieren, und Monika Seifert, die den ersten antiautoritären Kinderladen in Frankfurt gründete, war von diesen Ideen geprägt. Die Berliner Kinderladengründer standen den Frankfurter Traditionen ferner. Wie Reimut schon gesagt hat lag ihre Orientierung eher bei Reich und der Entdeckung reformpädagogischer Konzepte aus den 20er Jahren. Über eine reichhaltige Raubdruckproduktion sorgten sie für eine kräftige Verbreitung eben dieser Literatur. Damit wurden auch die Berliner Kinderläden teilweise finanziert. Ohne Übertreibung kann deshalb gesagt werden, daß die antiautoritäre Bewegung, den bis heute andauernden Psychoboom erstmalig angeheitzt hat, und psychoanalytische Autoren in einem Maß populär machte, das weit über die Grenzen der rein fachlichen Rezeptionen hinausging. Die Zunft der etablierten Psychoanalytiker reagierte darauf ablehnend bis feindselig und im besten Fall ambivalent. Während meiner Assistenzzeit am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt, 1966 bis 1974, habe ich diese Ambivalenz sehr unmittelbar erfahren. Alexander Mitscherlich, der damalige Institutleiter war von der antiautoritären Bewegung fasziniert, allein die freieren Umgangsformen und die beweglichere Sprache gefielen ihm. Andererseits neigte er, wie die meisten seiner Kollegen dazu, sie als bloßen Generationskonflikt abzutun. Immerhin nahm er ihren politischen Anspruch wahr. In kontroversen Diskussionen ließ er sich allerdings häufiger zu dem Satz hinreißen "Ich bin ein Arzt und kein Weltverbesserer", und dieser Satz war meistens sehr wütend hingebrüllt. Und für mich kennzeichnete dies am schärfsten seine Zwiespältigkeit als politisch denkender Mensch. Unter seinen analytischen Kollegen im Freud-Institut war seine publizistisch journalistische Tätigkeit hoch anerkannt, seine ärztlich therapeutische dagegen weniger. Seit seiner Berichterstattung über den Nürnberger Ärzteprozeß, der erstmalig die Verstrickung der Mediziner in die lebensvernichtenden Ziele nationalsozialistischer Politik offenbarte, hatte er es mit den ärztlichen Standeskollegen ein für allemal verscherzt, eine Tatsache die ihn lange kränkte, da sein Selbstbewußtsein ja wesentlich das eines Arztes war, und zwar eines des 20. Jahrhunderts. Die in der psychoanalytischen Zunft vorherrschende unkritische Anerkennung des Arztideals des 20. Jahrhunderts, im 19. Jahrhundert war es ein anderes, führte zu einer einseitigen Identifikation mit dem Therapieren und Heilen einzelner Patienten. Das bescheidene Sich-Konzentrieren auf die Arbeit am Patienten mündet leicht in ein zwar finanziell gesichertes aber doch esoterisches Therapeutendasein, das vom Therapiemonopol der herrschenden naturwissenschaftlichen Medizin doch nur mühsam abgezwackt ist, aber am unheilvollem Ganzen des medizinischen Betriebs nichts ändert. Keine der psychosomatischen Abteilungen an den Universitätskliniken hat das Krankenhaus als totale Institution in Frage stellen können. Der Kampf gegen diese totalen Institution spielte jedoch für die antiautoritäre Bewegung eine wichtig Rolle, weil einige erkannt hatten, daß die von Goffman beschriebenen Strukturen zu den stärksten Bastionen von Herrschaftsverhältnissen gehören. Rudi Dutschke sprach von der Notwendigkeit des antiinstitutionellen Kampfes. Mitscherlich wollte mit seinen psychosomatischen Schriften für ein grundsätzlich anderes Verhältnis von Krankheit und Gesundheit eintreten. Insofern gehören auch gerade diese scheinbar rein fachbezogenen Schriften zu seinen politischsten überhaupt. Er bezeichnete Krankheit als Konflikt und als Verlust an Freiheit und zwar jede Krankheit nicht nur die sogenannten klassischen psychosomatischen. Wer freilich zu dieser Erkenntnis gelangt, muß gleichzeitig erkennen, daß die etablierten gesellschaftlichen Institutionen zur Heilung von Krankheiten wenig geeignet sind. Krankenhäuser sind Musterbeispiele totaler Institutionen. Also auf keinen Fall Orte, wo Patienten einen Raum von Freiheit erfahren. Es ist kein Geheimnis, daß in unserem Gesellschaftssystem die chronischen Erkrankungen weder zu verhindern, noch wirksam zu behandeln sind. Am krassesten ist dieser Zustand in den psychiatrischen Anstalten diagnostiziert worden. Die 1975 veröffentlichte Psychiatrieenquête machte den Skandal öffentlich, daß ein Drittel der in den Anstalten untergebrachten Patienten dort schon länger als 10 Jahre verweilten. Die Erkenntnis, daß die Behandlungsformen selbst zur Chronifizierung des Krankheitsgeschehen beiträgt, ließ sich seither nicht mehr vermeiden. Es war darum absolut logisch, daß in der Reform der Psychiatrie der Großklinik, dem Symbol der totalen Institution zuerst der Kampf angesagt wurde und nicht etwa um mehr Psychotherapie- oder Psychoanalytikerstellen nachgesucht wurde. Gerade die italienischen Reformpsychiater an erster Stelle Franco Basallia, hat mit großer Energie und List den antiinstitutionellen Kampf geführt. Sie haben in Italien eine zwar unvollendete, aber in ihren Grundzügen radikale Reform des Gesundheitswesen eingeleitet. Und das geht über eine Psychiatriereform hinaus. Sie haben ihre Chance 1968 genutzt. Sie haben uns gelehrt, Freiheit heilt, La Libertat el Therapeutica (?), heißt es wohl auf Italienisch.
Aber zurück zur antiautoritären Bewegung. Schon 1968 setzten verhängnisvolle Polarisierung- und Spaltungsprozesse ein: entweder politische oder psychologische Orientierung. Sehr deutlich waren diese Aufspaltungen in zwei Tagungen, die jetzt kürzlich hier stattgefunden haben: 20 Jahre Antiautoritäre Erziehung in Frankfurt und Berlin. Vielen war der Anspruch, durch Elternarbeit und gemeinsame Diskussionen mehr über die Psychodynamik der eigenen Beziehungen zu erfahren, als bloßer Psychoterror im Gedächtnis geblieben, und noch mehr sind wohl gar nicht erst zu den Tagungen gekommen, weil sie Angst hatten womöglich erneut Zwangsbekenntisse ablegen zu müssen. Es war vielleicht der vermessenste Anspruch der antiautoritären Bewegung, sich in der Kinderladenarbeit den persönlichen Neurosen zu stellen, um zu verhindern, daß diese Neurosen unbewußt an die Kinder weitergegeben würden. Aus der Retrospektive läßt sich erkennen, warum dieses intern vernünftige Programm damals scheiterte, "zur harten Selbstzumutung ausarbeitete", wie es auf der Berliner Tagung hieß. In manchen Fällen steigerte sich das innere Spannungspotential ins Unerträgliche, und förderte zweifellos den Ausstieg in Drogenkonsum und Illegalität, was du noch nicht erwähnt hast, Reimut. Du hast die Sexualisierung als Ventil zur Spannungslinderung erwähnt. Aber natürlich ist auch in den Kinderläden da ein Bezug gewesen zu den Leuten, die eben in die Illegalität gegangen sind. Und wo eben auch mit Drogen experimentiert wurde. Das ist ja auch in dem K 2-Bericht nachzulesen. Die ablehnende Haltung der Zunft der Psychoanalytiker gegenüber unserem wilden Agieren beraubte uns eben damals der verständnisvollen Anleitung durch erfahrene Eltern. Die unbewältigte Vergangenheit holte schließlich auch uns ein. Etwas vom Scheitern unsere Elterngeneration vollzog sich ebenfalls an uns. Die Härte und Nachsichtigkeit, mit der wir das als richtig Erachtete durchzusetzen versuchten, war die bewußtlose Wiederholung des Verhaltens unserer Eltern im Faschismus, wenn auch unter gewandtelten politischen Vokabeln. Nicht das wir einen neuen Linksfaschismus vertraten, wie Habermas der Bewegung in bösartigen Unverständnis vorwarf, sondern daß wir die Befreiung mit den Mitteln der unsublimierten Gewalt durchzusetzen versuchten. Das war widersinnig und in einigen Fällen selbstmörderisch. Unsere Absage an die Autoritätsstrukturen der Gesellschaft war noch lange nicht radikal genug. Wer einen Führungsanspruch durchsetzen, Schwächere und Wehrlosere auslinken konnte, war sich einer gewissen Anerkennung bis hin zur Bewunderung sicher. Diesen Zynismus haben wir uns selbst angetan. Und mit diesem Verhalten haben wir sogar die Vokabeln der Befreiung hintertrieben und unglaubwürdig gemacht. Genau wie die Elterngeneration hatten wir wenig Verständnis für das Fremde in uns selbst, wie sie waren wir leicht geneigt, es nach außen auf einen klar erkennbaren Feind zu projizieren. Und wie sie flüchteten wir in Betriebsamkeit und Arbeit um ein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Mit dem Befremdenten in uns selbst tun wir uns bis heute schwer, und bis heute vermögen wir kaum das Andere, das den Befreiungsimpuls in der Bewegung ausmachte, zu benennen. Die psychoanalytische Zunft hat uns - von wenigen Ausnahmen abgesehen - wenig geholfen, im Selbstaufklärungsprozess voranzuschreiten. Selbst die Aufarbeitung der Greuel im Nationalsozialismus ist wesentlich zu einer Sache alter 68er geworden. Ich erinnere an Klaus Dörner, Ernst Klee, Regine Lockert, die die Geschichte der Psychoanalyse im 3. Reich aufgearbeitet hat. Der Genosse Werner Durt, der die nationalsozialistischen Architekten untersucht hat, Dorte von Westernhagen, die dem Schicksal ihres SS-Vaters nachgegangen ist. Arie, der die Euthanasieaktionen erforscht. Wir waren unfähig, die Verkehrsformen freier Menschen respektive totaler Individum zu entwickeln. In der Psychoanalyse sind diese Verkehrsformen jedoch im Ansatz als technische Regeln entwickelt worden. Von der Zunft werden sie nicht als mögliche allgemeine Verkehrsformen einer befreiten Gesellschaft begriffen, sondern als bloße Werkzeuge therapeutischer Interaktionen behütet. Kurz, die Mittel der individuellen Befreiung unterliegen hier einem instrumentellen Verständnis. Das muß sie auf Dauer stumpf werden lassen. Von diesem instrumentellen Verhältnis zu therapeutischen Techniken sollten wir uns hüten, vielmehr sollten wir das technische Arrangement einer therapeutischen Beziehung als eine gemeinsam definierte Mensch-zu-Mensch-Beziehung auffassen.
Vom psychoanalytischen Setting scheinen mir folgende Regeln richtig für den Umgang freier Menschen: absolute Ehrlichkeit, Vermeidung bloßer Floskeln, Entkoppelung von Ehrlichkeit und Rücksichtslosigkeit, Verbot, die Position von Schwächeren oder Abhängigen zum eigenen Vorteil zu nutzen, ja das Gebot, zur Aufhebung von Abhängigkeitsverhältnissen beitzutragen. Also die analytische Abstinenz. Empfehlungen, Deutungen über unangenehme Sachverhalte zum passenden Zeitpunkt und situationsgerecht auszusprechen, um unnötige Bloßstellungen und Kränkungen des anderen zu vermeiden. Aufforderung in der Beziehung zum anderen stets die eigene Gefühlslage mit zu reflektieren, um sich dadurch selbst im anderen besser zu verstehen. Was übrigens der hegelschen Einsicht von der notwendigen Selbstentzweiung des Geistes als Voraussetzung des Denkens praktisch nahe kommt. Nicht nur die antiautoritäre Bewegung hat durch die Polarisierung und Spaltung Schaden genommen, auch die Psychoanalyse als Institution hat sich durch Abspaltung ihres revolutionären Kerns, nämlich der Möglichkeit des Denkens, geschwächt. Während ich über die Jahre Gelegenheit hatte, durchanalysierte Menschen im Alltag als Kollegen zu haben, aus der Nähe ihre Ehe- und Liebesgeschichten und Krankheiten mitzuverfolgen, mußte ich bald ins Wundern geraten, wie wirkungslos in manchen Fällen Psychoanalysen waren. Ich müsse halt entidealisieren, meinte eine wohlwollende ältere Kollegin, der ich mich politisch verbunden fühlte. Zu einer so zynisch erscheinenden Relativierung der Psychoanalyse kann ich mich allerdings nicht finden, weil ich unverdrossen meine, daß wir zum weiteren Befreiungswerk dringend auf ihre Ansichten angewiesen sind. Und wir sind es besonders dort, wo wir berufsmäßig mit Menschen zu tun haben. Ohne Fähigkeit zur Selbstreflexion, des Innewerdens der eigenen Geschichte der persönlichen Stärken und Schwächen, wie man es idealerweise in der Analyse lernen kann, fällt es heute schwer, sich als Angehöriger eines pädagogischen oder helfenden Berufes wohlzufühlen. Denn das Antiautoritäre hat sich, wie Rainer Langhans mir kürzlich sagte, in vielen Bereichen durchgewachsen. Ein schöner Ausdruck. Und darum versagen autoritäre Verhaltensmuster in pädagogischen Bereichen immer mehr. Dann sieht es heute so aus, als wären die heutigen Schüler oder Studenten schlimmer denn je, aber möglicherweise sind wir als ihre Lehrer und Vorbilder noch nicht so viel besser geworden als unsere autoritären Vorbilder. Wo immer die Verhaltensmuster der totalen Institutionen wegen ihrer offenkundigen Ineffektivität abgebaut werden müssen, treten neue unbekannte Probleme auf, wird die Arbeit vielfältiger und verlangt von einzelnen mehr Selbständigkeit, Phantasie und Flexibilität. Ich nenne als Beispiel Krankenschwestern - also von meinen Sozialarbeitern, die ich ausbilde, abgesehen -, die ihre Ausbildung in einer der bewährtesten totalen Institutionen, nämlich im Krankenhaus, absolviert haben, wo ihnen die Patienten nur in bestimmten Rollenzuweisungen geliefert wurden. Heute, da im Zuge sogenannter Kostendämpfung im Gesundheitswesen Krankenpflege mehr in den ambulanten Bereich verlagert wird, gehen die Schwestern wieder in die Häuser der Patienten. Aber dort werden sie, schneller als sie denken können, in allerlei Probleme der Kranken und in die Tücken ihrer Familiendynamik hineingezogen, und die gewohnte Pflegearbeit wird ihnen ungewohnt, und sie sind auf neue Orientierungen in ihrem Beruf angewiesen. Daß ich Gelegenheit habe, mit einer Gruppe solcher Schwestern zu arbeiten, und mit den analytischen Methoden, die ich mir ohne geregelte Ausbildung aneignen konnte, ihre Arbeit besser zu verstehen und damit erleichtern zu helfen, betrachte ich als eine der vielen Chancen, die befreienden Ziele der antiautoritären Bewegung ein Stück hier und jetzt und heute zu realisieren. Lassen wir uns nicht von den Verboten einer Zunft oder anderen autoritären Einrichtungen einschüchtern, Selbstreflexion im Austausch mit anderen ist jederzeit auch ohne Institution möglich. Die Faszination des Jahres 1968 liegt gerade darin, daß das Verbotene getan, das Tabuierte ausgesprochen wurde, daß der Mut zum Agieren vorhanden war. Einen Moment lang war das Verbindende und Mitreißende stärker als die Gewalt des Spaltenden, das war die Kraft des Eros, der das Trennende aufhebt und neue Verbindungen schafft. Dies war das erotische, das heiter belebende Element der Bewegung, das keiner vergißt, der es gespürt hat. Trotz des Kulturpessimismus, den der alte Freud zunehmend hegte, enthält die Psychoanalyse die Vorstellung, daß das menschliche Individium sich aus den Verstrickungen seiner infantilen Neurose lösen, zu wahrhafter Autonomie und Selbstbestimmung sowie zu einem glücklichen Verhältnis zu seinem Körper kommen kann. Die Auflösung der ödipalen Bindungen ist denkbar und unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen, wie Marx sie skizziert hat, realisierbar. Gerade Basallia hat diese innere Beziehung der freudschen und marxschen Positionen sehr deutlich wahrgenommen, obwohl er zur Psychoanalyse als Institution eine gehörige Distanz hatte. Ich kann darum zur Vervollständigung eines bekannten Satzes von Marx nur hinzufügen: Neurotiker aller Länder, befreit euch.
Jahn: Ich werde mich schwer hüten, jetzt irgendwie etwas vorzustrukturieren. Den Sack an Fragen, der hier kommt, da wüßte ich nicht zu sagen, was ist das Wichtigste und Unwichtigste, besonders wenn ich sehe, wie heterogen so das Publikum z.B. nach den Studentengenerationen bzw. den Nichtmehrstudentengenerationen hier zusammengesetzt ist. Deshalb, glaube ich, ist das Sinnvollste, wir fangen gleich an mit der Diskussion Publikum - Podium. Wer spontan etwas sagen will, soll es vom Platz aus machen, muß aber eine gute Stimme haben, damit er überall gehört wird. Wer etwas warten kann, der kommt am besten vor, wir haben hier ein mobiles Mikrofon, dann ist es natürlich für die Kommunikation besser. Peter willst du mal?
Peter ?: Ich bin nicht ganz einverstanden mit seinen Phasen, also mit der Begründung dieser Phase. Und zwar vielleicht erinnerst du dich, es gab in der Phase, die du als die zweite bezeichnest, im SDS, einen Arbeitskreis, der nannte sich Arbeitskreis "Formierte Gesellschaft". D.h. es gab eine Reihe von SDSlern, die sich konfrontiert sahen, mit einem Typ von Gesellschaft, der zum Faschismus tendierte, ohne die Form des vergangenen Faschismus zu haben. Und es wurde versucht eine Antwort darauf zu finden, eine Antwort darauf konnte nur eine gesellschaftliche Antwort sein, d.h. von der Entdeckung der Gefahr dieser formierten Gesellschaft bis zu einer quasi teilweisen Wiederentdeckung der Arbeiterbewegung und der Auseinandersetzung mit den Formen der Arbeiterbewegung, die nicht verhindert haben, daß der Faschismus in Deutschland gesiegt hat. ... Ich meine, die Sache ist sowieso unheimlich komplex. Also wir müssen jetzt über Kommune reden im Grunde genommen. Und über Kommune reden heißt über Organisationsformen, die in der Weimarer Zeit, in der sich das revolutionäre Potential organisiert hatte. Und die Idee der Kommune war ja, eine Organisationsform zu finden, in der die wirtschaftliche politische und private Existenz der Menschen nicht mehr getrennt sich irgendwo organisiert. ... (unverständlich)
...
Sigrun Anselm: Reimut, ich habe eine Frage an dich, und zwar was deine Sexualisierungsthese angeht. Die kommt mir nun meinerseits ein bißchen vor wie eine Deckadresse. Und zwar muß man doch nun sehen und jetzt bin ich ein bißchen zu spät gekommen und entschuldige mich wenn alles vorher war, man muß doch nun sehen, daß das Problem der Sexualität und der sexuellen Unterdrückung in den Anfängen der Studentenbewegung und alledem, was davor war, also den 50er Jahren, den Anfängen der 60er Jahre, eine ziemlich scheußliche Angelegenheit gewesen ist. Und also Heuchelei und die Jungfräulichkeit der Frauen für die Ehe, das muß man sich vorstellen, das können sich die Leute, die jetzt 20 sind, überhaupt nicht mehr vorstellen, wie verrückt das gewesen ist. Und jetzt ist es nicht sehr einfach gewesen, sich davon irgendwie loszusagen, damit umzugehen, und dieses unendliche Reden darüber, das würde ich nicht so ohne weiteres erst einmal als eine Sexualisierung anderer Bereiche betrachten, sondern schlicht und einfach als die Unfähigkeit, das, was man so gern möchte, wirklich hinzukriegen. Und alles das, was damals über Sexualität geredet wurde, beschrieben wurde, praktiziert wurde, das war doch ein unglaublicher Krampf. Und jetzt ist der Punkt nun, daß man da unheimlich viel reingesteckt hat, denn das, was man nicht konnte, sollte das sein, wenn man das könnte, dann wäre das auch schon das Ganze. Das ist doch erst einmal der Punkt und es hat sehr lange gedauert, bis man gesehen hat, auch die sexuelle Befreiung gibt es überhaupt nicht. Es gibt in dem Sinne keine sexuelle Befreiung, sondern es gibt einen besseren und schlechteren Umgang mit der Sexualität, und es gibt ein freieres und ein verklemmteres Reden darüber, aber es gibt nicht die sexuelle Befreiung. Aber der Punkt ist doch gewesen, den man damals, und ich finde den muß man heute noch aufrecht erhalten, daß es zwischen Sexualität und allen anderen kulturellen Formen eine Beziehung gibt, und daß man nicht so tun darf, als wäre dann, wenn man eine Beziehung herstellt, als wäre das schon immer Sexualisierung. Und ich fand von daher deine Vorstellung ein kleines bißchen merkwürdig, daß das kindliche Onanieren passé schon Sexualisierung sei. Schließlich müssen die Kinder überhaupt einmal eine Sexulität haben, um onanieren zu können. Und da muß man sich fragen, wo kommt das her, und worin drückt sich das aus. Und das es das dann auch sein kann, das ist ein ganz anderes Problem. Also kurzum, wenn man sagt Sexualisierung, dann ist das ja immer erst einmal ein psychodynamischer Vorgang. Und wenn das in die Theorie gehoben und in die Sprache umgesetzt wird, braucht das überhaupt keine Sexualisierung mehr zu sein, weil es mit den realen, affektiven Vorgängen überhaupt nichts zu tun haben muß. Also meine Frage an dich: Du solltest wenn du schon über die Sexualität redest - und schließlich hast du dazu auch geschrieben, und das ist irgendwie nicht mehr sichtbar gewesen, in dem, was du heute gesagt hast, also du hast so etwas gemacht wie ein Stück Psychoanalyse der Studentenbewegung - man muß aber auch noch ein bißchen was dazu sagen, was hat die Psyachoanalyse für die Studentenbewegung für eine Rolle gespielt. Also das heißt, wenn man schon das Thema Sexualität nimmt, muß man erst einmal etwas dazu sagen, was eigentlich das Richtige, was das Revolutionäre, was das Spannende und was das Drängende dabei gewesen ist, bevor man sagen kann, das hat sozusagen dann auch die Argumente geliefert, alles das noch mal zu verdrängen was in das Konzept nicht hineingepaßt hat.
Reiche: Jetzt muß ich wohl dazu etwas sagen, jetzt muß ich wohl. Mir lag daran, ein Argument, ein Thema durchzuziehen hier und heute, das war Sexualisierung. Für mich ist es selbstverständlich, daß die Studentenbewegung, das habe ich nur mit einem Satz gesagt, eine kulturelle Innovation eingeleitet hat, daß das nicht anders ging als über Sexualisierung, das sehe ich auch. Aber muß man das denn noch extra betonen, daß es Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre, daß da die allgemeinen kulturellen Zustände am Ende der Adenauer-Aera ein so typisches Gemisch waren, von bereits vollzogener amerikanischer oder amerikanisierender Massendemokratisierung und wilhelminischem und nationalsozialistischem Geist. Das war eine typische Mischung, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Das ist richtig, die Studentenbewegung hat ja nicht z.B. gegen die Anrede Fräulein gekämpft, die damals noch allgemein war, sie hat niemals gegen die Anrede Fräulein kämpfen müssen, sondern sie ist sozusagen drei Stufen höher eingestiegen und hat gesagt kollektive, sexuelle Erziehung, oder Kinderonanie oder brecht, zerschlagt die bürgerliche Kleinfamilie. Und erreicht hat sie, daß heute niemand mehr mit Fräulein angeredet wird.
Berndt: Ja das ist mir schon klar, was bei unserer Generation auch schiefgelaufen ist, aber vielleicht ist deswegen, was hier ja auch die Forderung war, und was die Sache ja auch ein bißchen munterer macht, eine Besinnung auf die realen Situationen vor 25 Jahren. Sigrun hat einen Beitrag geleistet, und mir ist eingefallen, ach Gott ja damals, da waren der Reimut, die Sigrun und ich im VW auf der Reise nach Jugoslawien, und da haben wir natürlich vergleichbare Probleme gehabt wie ihr, wir hatten den Beruf vor uns, wußten nicht, was daraus wird, mit Partnerbeziehung wußten wir auch alles noch nicht, was daraus wird. Und da ist schon ganz wichtig, an das Konkrete auch zu erinnern, natürlich hat da für die Revolte, also Kämpfe in Studentenheimen eine große Rolle gespielt, ob nun Männchen und Weibchen miteinander dürfen. Das war in Deutschland so, in Heidelberg standen da so entsetzliche Kästen von Hochhäusern, Studentenwohnheime irgendwo am Neckar da unten, da gingen die heißen Kämpfe darum. Das war eigentlich die sexuelle Revolution. Also ich muß auch sagen, wir theoretisieren ein bißchen zu schnell und vergessen die realen Anlässe, daß es wirklich darum ging, eben voreheliche sexuelle Beziehungen aufzunehmen. Also damit haben sich mindestens, Reimut, das mußt du mir zugestehen, die Frauen etwas schwerer getan als die Männer damals.
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Also das stimmt sicher, mit dem Auseinanderklappen von Worten und Taten, was die Ausbeutung der Frauen angeht, klar. Man hat erst einmal das gemacht, was man von seinen Müttern kannte, aber ich kann beruhigen, es kommt ja hier auch noch einmal die Erinnerung, hoffentlich dann auch konkret, die Frauen sind im SDS irgendwann einmal unheimlich frech geworden, es war eine gräßliche Erschütterung, und ich höre noch manche Genossen, wie die einfach nur japsten und "unerhört" sagten, als die Frankfurter Frauen z.B. in einem Flugblatt, was von Ordinärheit nur so gestrotzt hat, das Ordinärste, was man gerade so im Kopfe hatte, hat man da hindiktiert, und damit hat man 'mal gezeigt, daß man sich eben so wie bisher die Sache nicht mehr hat bieten lassen. Das ist alles zu schnell untergegangen, die wirklich spontanen Gefühlsäußerungen und die Schwierigkeit, die ich ja auch hatte, mit der ich auch nie fertig geworden bin, das wurde immer so vorschnell politisiert. Das war in den Erinnerungen "20 Jahre antiautoritäre Erziehung", da wurden immer gleich die großen Politvokabeln geschwungen, und was so an Gefühlen dahinter war, das kam dann schon wieder zu kurz. Und ich weiß nicht, ob nicht auch jetzt Leute der jüngeren Generation das Problem auch immer wieder haben, daß Worte und Empfindungen oder Taten nicht zueinander passen wollen. Also mit dem Problem sind wir auch nicht fertig geworden.
...
Anselm: Also ich finde das richtig, aber ich würde es umdrehen als Argument, und zwar würde ich sagen, daß es eine Sexualisierung gegeben hat in der allgemeinen öffentlichen Debatte. Also die Tatsache, daß diese Kommuneleute, diese nackten, als die in der Zeitung waren, einen solchen Protest ausgelöst haben, daß man da nicht nur sagte, sexuelle Befreiung, sondern daß man da sagte, die ganze Staatsmoral kommt ins Wanken durch solche Befreiungsaktionen, d.h. die bundesrepublikanische Öffentlichkeit hat nun, de facto könnte man sagen, diese Form von Sexualisierung betrieben. Und die Studentenbewegung mußte bei jedem Moment, das etwas mit Sexualität zu tun hatte, also ob was weiß ich, Lehrer haben sich stundenlang darüber ausgelassen, daß Simone de Bouvoir und Satre in wilder Ehe gelebt haben, darüber konnten sie reden, aber nicht über das, was die geschrieben haben. Und das konnten sie mit Gott und der Welt in Verbindung bringen, mit Kommunismus, mit Sozialismus und und und. Und das ist eine Form von Sexualisierung und die Tatsache, was die Studentenbewegung dann gemacht hat, wenn sie dagegen oft angegangen ist, da mußte man durch diesen ganzen theoretischen, praktischen Wust hindurch, um das so einfach haben zu können, wie du es jetzt bezeichnest. Es war in der Realität und nicht erst durch die theoretischen Konstruktionen der Studentenbewegung mit allem verknüpft.
Berndt: Es ist vielleicht noch etwas zu dir zu sagen. Du hast ja auch noch etwas angesprochen, das wir ja auch während dieser Tagung Antiautoritäre Erziehung bedacht haben, wie die Kinder ja dann auch benutzt worden sind, um dann sozusagen stellvertretend etwas an Provokationen zu veranstalten, das sich die Erwachsenen zu diesem Zeitpunkt auch nicht so leisten konnten, und ich muß auch sagen, daß ich das im nachhinein schon auch problematisch fand. Wir waren unsicher als Eltern, ist man ja auch. Es ist ja auch in Ordnung, wenn man die Kinder an seinem Leben richtig teilhaben läßt, und keine Schranke macht, aber die Grenze, wo das dann zu einer Art milden Mißbrauch führt, ist nicht so klar gewesen. Und gerade bei diesen konkreten Szenen, also was du auch geschildert hast, da überfällt es mich sozusagen im nachhinein mit dem, was ich so Rigorosität nenne. Und was Sigrun unsere Verklemmtheit und Verkrampftheit findet, und ich glaube auch das sagte Reimut, daß viele von unserer Generation auch noch so verklemmt geblieben sind, daß das irgendwo auf halber Strecke stehen geblieben ist. Man wird ja mit dem Älterwerden nicht notwendig klüger. Also älter wird man, also insofern ist immer die Frage nach den realen Szenen schon sehr wichtig. Also ich denke an dich, Ramba, wo ich hier mit Kommune das Stichwort ... doch du hast erzählt, wie sich das auseinanderdifferenziert hat mit K I und K 2. Und das war für mich sehr eindrücklich, und zwar genau an der Kinderfrage
...
Reiche: Also zur Wirklichkeit, also zu der Zeit bin ich bis 1967 als SDS-Vorsitzender in SDS-Gruppen herumgereist, dann ist da das Zentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler (AUSS) gegründet worden, da ist zur Zeit, als diese Wilhelm Reich-Welle war, von der ich so kurz notiert habe, als das fast wie eine Schwemme ging, ich kann mich an sehr viel Diskussionen erinnern, auf denen ich damals war, ich bin da sehr viel rumgereist, daß im Anschluß an irgendwelche SDS-Gruppen- oder Kleingruppentreffen dann die Leute gekommen sind und haben gesagt, wir haben das so herum versucht und wir haben es so herum versucht, daß die wirklich Koitusentkrampfungsübungen versucht haben, nach Anleitung von "Die Funktion des Orgasmus", also das war der kleine Dreher auf den kleinen Putilovwerken, also das war der kleine Genosse aus dem SDS Oldenburg, also das war tatsächlich so gewesen, also da laß ich mich durch nichts beirren, ich habe mit hunderten von Leuten teilweise gesprochen, die gesagt haben: "Mensch erzähl uns doch mal, da bei Wilhelm Reich, da steht das so, und wir kriegen das einfach nicht hin." Also so verklemmt ist es zugegangen.
Rambauseck: Naja aber in der Kommune, da kann man wirklich nicht davon reden, daß da später also der Massenfick propagiert werden sollte, der Massenfick fand in beiden Kommunen nicht statt. Das nun 'mal ganz klar. Und die haben auch nicht den Reich als technische Anleitung für Koitus genommen. In Berlin, denke ich mir, war die Phase, als es schon vorbei war, wo Bioenergetik und der ganze Schrott eine Rolle gespielt hat. Was eine Rolle gespielt hat und was nicht nur denunziert werden sollte, ist, daß die Leute natürlich das Bewußtsein hatten, bürgerliche Individuen zu sein. Und es gab kein revolutionäres Objekt in unseren Augen, wir mußten ...
Berndt: ... alles selber machen ... (Heiterkeit)
Rambauseck: Ich kann darüber nicht lachen, viele unserer Freunde sind dabei drauf gegangen. Also das war einfach eine Anstrengung und ohne Anstrengung ging es nicht, und darum finde ich es falsch, diese Anstrengung zu denunzieren. Was man denunzieren muß, ist daß in unserem damaligen Verhalten angeregt war, was später in den Parteien sich widerspiegelte, das würde ich auch ganz wichtig finden, aber das mit der Anstrengung, sich zu verändern ... (unverständlich) ...
Reiche: Also da bin ich historisch pessimistisch, darauf wird es nie eine Antwort geben. Man kann Bedingungen erzählen, was passiert ist in welcher Zeit. Aber warum das innerhalb von ein, wie ich persönlich erlebt habe, innerhalb von ein, zwei Monaten, das sogenannte
Massenhaftwerden der Bewegung, also diese Aktionsphase oder was auch später Explosion genannt wurde, warum das gekommen ist, ob das 'mal jemand durch einen Faktorenbündel erschließen könnte, das glaube ich nicht. Ich glaube was man kann ist, daß man historisch rekonstruieren kann, das habe ich auch ein bißchen versucht, was dem vorausgegangen ist, heute muß man z.B. fragen: Warum ist denn der Vietnamkrieg zu diesem Zeitpunkt überhaupt, hat er sich überhaupt geeignet dafür, unser Interesse im Sinne einer Politisierung zu finden? Man muß ja fragen, Afghanistan, Südafrika, es ist so viel Grauenvolleres passiert seitdem, was keine Bewegung hervorgerufen hat, also man muß fragen: Warum ruft dies heute keine Bewegung hervor? Und man muß fragen: Warum hat es damals zu diesem Zeitpunkt diese Bewegung hervorgerufen? Und ich denke, ein Punkt, der mir sehr eindrucksvoll ist, das ist, was ich mit der Sexualisierung genannt habe. Es ist nur ein Faktor, den ich, eben weil ich Psychoanalytiker bin, hervorgehoben habe. Ich sage nicht, daß der alles erklärt, aber im Nachhinein, wenn ihr diese Filme anschaut, oder wenn ihr auf diese Transparente schaut, also die wachsende Begeisterung, mit der wir gerufen haben "USA - SA - SS", also in der die Faschismustheorie so verkürzt worden ist, daß die Amerikaner die SS waren, und nicht mehr unsere Eltern. Und nicht mehr unsere Eltern. USA - SA - SS, das ging innerhalb von drei Monaten mit wachsender Begeisterung ja. Oder "LBJ6 - how many kids did you kill today?" Also das wurde immer begeisterter gebrüllt. Darin war auf jeden Fall - und das ist nur ein Moment - eine Entlastungsfunktion dessen, was wir gerade aufgearbeitet haben. Also ich persönlich muß sagen, ich bin sehr skeptisch auch gegenüber Heide Berndt, wie autochthon oder wie echt das Moment der ehrenhaften politischen Emanzipation und Befreiung tatsächlich auch gewesen ist.
Anmerkungen:
1 Sozialistische Einheitspartei Westberlins
2 Dieser Raubdruck wurde von der Kommune I (Langhans/Kunzelmann) nach einem Orginal aus dem damaligen "Institut für politische Wissenschaft" (heute: Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung an der Freien Universität Berlin) hergestellt.
3 Christofer Baldeney; Rodolphe Gaschè; Dieter Kunzelmann (Hrsg.): "Unverbindliche Richtlinien" Nummer I, Odense/Dänemark, Dezember 1962; Nummer II, Nürnberg, Dezember 1963
4 Die Kommune I erschien zu den Anti-Schah-Demonstrationen in Berlin mit über den Köpfen gezogenen Einkaufstüten, auf die die Konterfeis des Schahs und Farah Dibahs geklebt waren
5 soweit diese nicht auf "gesäuberten" Reproduktionen wegretuschiert sind.
6 Lyndon B. Johnson - amerikanischer Präsident nach Kennedy