Die Bedeutung der Faschismusdiskussion in den 60er Jahren
Teilnehmer: Wolfgang Lefèvre, Reinhard Strecker
Diskussionsleitung: Peter Jahn
Peter Jahn: ... zu den Teilnehmern: Zu meiner Rechten, also bei Ihnen zur Linken, Reinhard Strecker, Mitglied des SDS schon in der ersten Hälfte der Sechziger Jahre, als noch niemand an Revolte dachte, als der SDS von der SPD rausgeschmissen worden war und um sein Überleben kämpfte bzw. sich Aufgaben suchte und selbständig in Angriff nahm. Und zu denen, die damals wesentlich als SDS-Leute über Jahre hinweg gewirbelt haben, muß man sagen, gehört Reinhard Strecker, der damals als Moment von Öffentlichkeitsarbeit Ausstellungen über die NS-Vergangenheit von Repräsentanten, von Würdenträgern, von Honoratioren in der Bundesrepublik organisiert hat. In einer Atmosphäre, wo man sich hätschelte, die Vergangenheit beiseite drückte, sich gegenseitig Honorigkeit bescheinigte, platschten damals diese Ausstellungen, besonders auch auf den Hochschulbereich bezogen, wo Leute plötzlich ihre Vergangenheit aufgedeckt sahen, die sie so gerne verdeckt hätten. Das waren in der Regel kleine Skandale, manchmal waren es größere Skandale, das hat mit Sicherheit Reinhard Strecker damals nicht beliebt gemacht. Es war eine mühselige Stück-für-Stück-Aufklärungsarbeit, die aber gerade im Hochschulbereich und dann auch immer mehr darüber hinaus Resonanz fand. Die Fragen, die damals von wenigen gestellt wurden, wurden nur wenige Jahre später von immer mehreren gestellt. So etwas erzwang damals Diskussionen an den Hochschulen, Ringvorlesungen über Universität und NS-Vergangenheit, und dazu hat er wesentlich beigetragen. Reinhard Strecker arbeitet heute am Goethe-Institut.
Zu meiner Linken Wolfgang Lefèvre, bekannt zunächst einmal wohl aus Bildern der Zeit als einer der Wortführer der Studentenbewegung. Wolfgang Lefèvre ist heute Professor bei den Philosophen hier an der FU, wenn auch nicht mit einer festen Anstellung. Er hätte, wenn es 1972 nach dem Willen des Senats gegangen wäre, überhaupt keine Anstellung bekommen. Er war hier an der FU eigentlich der erste Berufsverbotsfall. Seine Ablehnung und Mandels Ablehnung brachte damals den Rücktritt von Margarita von Brentano und er hat dann teils durch eine Unterstützung der linken Öffentlichkeit, die damals doch noch recht rege war, teils dadurch, daß die Bürokratie sich selbst einen Formfehler in den Weg gelegt hatte, doch noch den Weg überhaupt in die Uni gefunden. Er wäre sonst einer der ersten gewesen, die dafür zu bezahlen hatten, daß '68 revoltiert wurde. Für diejenigen, die damals hier in Berlin studiert haben, ist Lefèvre aber schon vor der Studentenbewegung ein Name geworden. Er ist damals Nachfolger von Eberhard Diepgen gewesen (1). Im Wintersemester 1962/63 ist der rechte AStA unter Führung von Eberhard Diepgen gestürzt worden. Diepgen schien uns in der Mehrzahl, und zwar unabhängig, ob wir den SDS sehr toll fanden, als AStA-Vorsitzender und überhaupt nicht mehr tragbar, weil er Mitglied einer Schlagenden Verbindung war. Und da sind wir eigentlich schon beim Thema, denn Schlagende Verbindungen, das hatten wir, manche früher manche später, doch gelernt, hatten etwas mit der Entstehung des Faschismus in Deutschland, mit dem grassierenden Antisemitismus zu tun. Schlagende Verbindungen hatten schon in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts aus rassischen Gründen keine Juden mehr aufgenomnmen, Schlagende Verbindungen waren auf den Bildern der Bücherverbrenner, und ein solcher AStA-Vorsitzender schien uns nicht tragbar. ... Das Thema Faschismus-Diskussion hatte damals bestimmt für uns eine andere Aktualität zwanzig Jahre nach den Ereignissen. Es ist trotzdem heute alles andere als ein antiquarisches, als ein nur historisches Thema. Ich erinnere nur an die Diskussion im letzten Jahr. An die Auseinandersetzung mit den Thesen Ernst Noltes, ich rufe kurz in Erinnerung, etwa Hitler habe durchaus eine gewisse Berechtigung besessen, die Juden in Europa zu internieren, da ja das Jewish-Commitee ihm eine Art Kriegserklärung 1939 ausgesprochen habe, oder die andere These, eigentlich sei der Faschismus eine Reaktion auf die bolschewistische Provokation und eigentlich nur von daher zu begreifen - da kochte alles wieder hoch, was damals 68 oder in den 60er Jahren schon heftigst diskutiert worden war und man kann sagen, es ist auch inzwischen ja nie ganz untergegangen. Es findet hier auch heute noch eine Diskussion statt, die wohl in dieser Schärfe aber angeheizt worden ist in den 60er Jahren, daß das hier jetzt nicht gesagt wird so als linkes Selbstlob kann einer bestätigen, der diese neue Diskussion, der Versuch der Neudefinition von Faschismus kritisch gegen die Linke gewendet hat. Das ist ja nicht alles erst im letzten oder vor zwei Jahren passiert, dieser Versuch wieder eine Geschichtsrevision herzustellen. 83 gab es hier einen Kongreß in Berlin im Reichstag, ganz offiziell, wo Professor Hermann Lübbe dann den Abschlußvortrag hielt über die Aufarbeitung des Faschismus in der Bundesrepublik und er stellt dort die These auf, in den 50er Jahren habe jeder gewußt, was an schrecklichen Dingen passiert sei, man habe es sozusagen still beschämt zur Kenntnis genommen, es sei zwar nicht offiziell diskutiert worden, aber Opfer, die Minderheit, wie auch Täter, die ganze Mehrheit, ohne weitere Differenzierung, hätten doch klar darüber Bescheid gewußt, und es sei ein allmählicher und guter Übergang in demokratische Verhältnisse gekommen, niemand habe verdrängt, alles sei peu à peu aufgearbeitet worden, bis dann diese böse Studentenbewegung kam, die doch die freche Frage stellte, welchen Zusammenhang hat bürgerliche Gesellschaft mit dem Faschismus, welchen Kontext gibt es zwischen Kapitalismus und Faschismus und damit habe sie versucht, dieser entstehenden und sich immer mehr festigenden Demokratie die Legitimität zu nehmen und sie damit gerade geschwächt und es heißt dann bei Lübbe, ich zitiere: "Im Kunstlicht der revitalisierten linken Faschismustheorien erschien nun aber eben diese zukunftsbezogene politische Brille der Bürgerschaft in der Bundesrepublik, soweit sie ans kapitalistische System sich gebunden zu haben schien, grundsätzlich zweifelhaft. Eine Atmosphäre des intellektuellen Verdacht breitete sich aus. Die NS-Studentenschaftsaktivitäten etablierter Professoren, auch literarische, im Regelfall übrigens längst bekannte Dokumente intellektueller Bewegtheit von damals, wurden nun mit dem Gestus der Entlarvung vorgezeigt. Gesinnungsfronten wurden gebildet, hinter denen man sich unter dem Anspruch versammelte, den Unterschied zu den jeweils Ausgeschlossenen für jene Traditionen einzustehen, gegen die 1933 ein deutsches Regime angetreten ist."
Resümee dann bei Lübbe: "Aber es ist nicht wahr, daß der entschiedene Wille zur Verhinderung seiner (des Faschismus) Wiederkehr erst in der zweiten Hälfte der bisherigen Geschichte in der Bundesrepublik, nämlich zuerst in der Jugendbewegung der späten 60er Jahre hervorgetreten sei." Also offensichtlich ist auch auf der rechten Seite der Schnitt gewesen für das Selbstverständnis der eigenen bundesrepublikanischen Geschichte in diesen 60er Jahren. Wie steht die Bundesrepublik zu ihrer eigenen Geschichte und da wird jetzt Reinhard Strecker einfach auch mal berichten, wie es so Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre aussah in dieser bundesrepublikanischen Landschaft und was damals geschehen ist, um darüber Aufklärung zu bringen.
Reinhard Strecker: Es ist etwas die Quadratur des Kreises, in ein paar Minuten über die Bedeutung der Faschismus-Diskussion in den 60er Jahren zu reden. Will man Jüngeren das erklären, muß man sicherlich bei 1945 anfangen. D.h. bei uns 'Zusammenbruch', gemeinhin ist die deutsche Übersetzung des Wortes 'Befreiung'.
Dieser Begriff signalisiert die ganz unterschiedliche Betroffenheit und auch Interessenlage. In Deutschland gab es Trümmer und das Gebot der Stunde hieß nicht, etwas Neues finden, sondern Wiederaufbau und die Betonung liegt auf der Vorsilbe. Das führte zu so grotesken Dingen wie dazu, daß die erste florierende Fabrikindustrie die Plüschmöbelindustrie war, alle Leute wollten das wiederhaben, was sie verloren hatten, nämlich die von den Großeltern geerbten Möbel. Neuere Möbelformen kamen erst später. Die Betonung lag immer auf Wiederaufbau nicht auf etwas Neuem und das von Anfang an. Das sieht man, wenn man die Protokolle des Parlamentarischen Rates und der Herren-Chiemsee-Konferenzen, wobei dort Begriffe kreiert wurden, die später sogar mit gegensätzlichem Inhalt gefüllt wurden, als es etwa darum ging, daß man den späteren Artikel 131 formulieren wollte und einer aufstand und sagte (Kommunist), man müsse etwas haben, was Beamte ausschlösse, die mitgemacht haben. Im Prinzip sollte es schon möglich sein für Beamte, wieder zu arbeiten, aber eben doch im Ausnahmefall.
Da wurde die Sitzung unterbrochen und nach der Sitzungspause standen sämtliche Parteienvertreter auf, um eine Ehrenerklärung für die deutsche Justiz und die Beamtenschaft abzugeben. Trotzdem war dieser Artikel als ein Ausschließungsartikel gedacht, der spätere 131er, es sollte möglich sein, daß Beamte, die damals mitgemacht haben, auch wieder Beamte wurden. Ausgelegt wurde er als krasses Gegenteil davon. Selbst widerwillige Behörden wurden gezwungen, etwa die Polizei in Berlin, Gestapobeamte aufzunehmen. In den allerersten Jahren stand in der Bundesrepublik auch vor Gründung der Bundesrepublik bei fast allen Parteien - verbal wenigstens - das Bekenntnis zum Antifaschismus. Meistens wohl ebensowenig ernst gemeint wie der von fast allen damaligen Parteien zum Programm erhobene Sozialismus. Man denke nur an die damaligen CDU-Plakate "Wer Sozialist ist, geht in die CDU". Man sollte das gar nicht ironisieren. Damals fanden sich viele in Deutschland und die meisten von ihnen zum erstenmal in wirklicher Notlage, ohne Dach über'm Kopf, mit wirklichem Hunger, Arbeitslosigkeit, keine Hoffnung je da herauszukommen. Und aus diesen Anfängen wieder den Menschen Hoffnung zu geben, sie wieder in relativ gesicherte Verhältnisse und unter Dach zu bringen, das war schon eine beachtliche Leistung.
Allerdings hat man dabei einiges vergessen und wir haben eine Verfassung, die als Verfassung - wenn man viel im Ausland ist, kann man das sehr genau vergleichen - sicherlich besser ist, als frühere deutsche in den meisten Punkten und auch in vielen Punkten besser als die in anderen westlichen Ländern. Wenn man etwas Kritisches zur Bundesrepublik sagt, ist man leider gezwungen, eine durchaus ernst gemeinte Feststellung vorauszuschicken. Das wird vor allem von jenen verlangt, die darauf beharren, man müsse auf dem Boden der FDGO stehen, des Grundgesetzes, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das sind aber genau die Leute, die dafür gesorgt haben, und es ist genau die Richtung, daß einer der wesentlichen Artikel des Grundgesetzes nicht anerkannt und nicht praktiziert wird. Die also genau damit den Schaden haben einreißen lassen. Daß die ersten Grundgesetzkommentare natürlich von Herrn Maus und ähnlichen Konsorten verfaßt wurden, die durchaus Betroffene waren, und deshalb in eigener Sache plädierten, daß der Artikel 139 nicht angewendet werden dürfe, das spricht für sie und es bezeichnet die ganze Zeit. Tatsächlich fehlt bis heute diesem Staat, der sehr viel geschaffen hat - und es gibt auch die normative Kraft des Faktischen - der sehr viel geschaffen hat, bis heute fehlt ihm jede moralische Grundlage. Sehr lange hat dieser Staat jede Art von Wiedergutmachung verweigert. Das Wort in sich ist allerdings eine Beleidigung und der zuständige Bundesminister, der seinerzeit eine sehr viel größere Rolle spielte als Adenauer, Schäfer als Bundesfinanzminister - erst später ist es Adenauer gelungen, Schäfer dann auf den Posten des Justizministers abzuschieben - Schäfer verweigerte jede Art von Wiedergutmachung, weil das zuviel kosten würde und der Staat es sich nicht leisten könne. Schäfer verweigerte als Bundesjustizminister später ebenso NS-Verbrechensverfahren. Man hielt neben den gesicherten Verhältnissen, die man wieder geschaffen hatte, vor allem den Rechtsstaat sehr hoch, weil man einen Rechtsstaat aufgebaut habe, sei es unmöglich, Gesetze zu ändern, eine zentrale Polizeibehörde des Bundes für Ermittlungsverfahren aufzubauen, eine zentrale Ermittlungsbehörde des Bundes anzuschaffen.
Wie wenig glaubwürdig das war, erwies sich später, als es nicht mehr um Hunderttausende von NS-Mördern ging, sondern nur um ein paar Verrückte, die, an der Unbeweglichkeit dieses Staates verzweifelnd, anfingen, Bomben zu werfen. Da konnte man plötzlich einen immensen Polizeiapparat aufbauen und alle möglichen Gesetze und Verfassungsgrundsätze ändern. Da spielte es keine Rolle mehr. Es ging seinerzeit sehr stark um die Definition des Wortes Renazifizierung. Es wurde immer behauptet, wir hätten das nie gehabt. Tatsächlich, wenn man das als eine abgeschlossene Angelegenheit betrachtet, haben wir nie eine Renazifizierung gehabt. Allerdings, wenn es um die Besetzung von Schlüsselpositionen geht, dann war sie durchaus abgeschlossen.
Denken wir an die Personalleiterstellen in den verschiedenen Justizbehörden der Länder, des Bundes. Es gab bestimmte Personen, die sozusagen ein grünes Licht für diesen Vorgang signalisierten wie Globke, jemand der 1933 ein kleiner Beamter war, völlig austauschbar, der aber später nach Beginn des Krieges zu einem der entscheidenden und wichtigen Beamten im Dritten Reich und dann später Adenauers rechte Hand wurde. Und wenn Adenauer Boccia spielte, dann regierte Globke. Wir waren auf dem Wege vom Rechtsstaat zu einem 'Scharf-Rechtsstaat' zu werden, wegen dieser Definition bin ich schon mal aus der FU rausgeworden worden, es war damals für die Bundesbehörden angeblich nicht möglich, in NS-Fragen zu ermitteln. Hier wurden die Alliierten vorgeschoben, die Lage der Akten. Wider besseres Wissen wurde behauptet, es gäbe bei uns im Bundesgebiet keine Akten, die seien alle im Osten und da könne man nicht hin, denn da seien ja die Kommunisten. Als man schließlich, um Adenauers erste Amerikareise möglich zu machen, der sogenannten Wiedergutmachung zustimmte - denn ohne diese hätte Adenauer nicht nach Amerika fahren können -, da wurden bewußt weite Bereiche ausgenommen, viele Personenkreise sind bis heute ausgenommen davon und auch die Himmelsrichtung Osten wurde völlig ausgenommen. Bezeichnend dafür ist etwa der Vorfall von Herrn Zint, jemand der im neuen deutschen Staat, seinerzeit noch in der französischen Zone, sich besonders um die Publizierung neuer Schulbücher in Offenburg kümmerte, der dann schließlich ein Verfahren an den Hals bekam, weil er seinen Schülern immer wieder erzählt hatte, er habe selbst mit eigener Hand mit dem Spaten Tausende von Juden erschlagen, der versuchte sich dann herauszureden, das seien nicht Juden gewesen sondern Kommunisten. D.h. Kommunisten, das ist Osten, das sind Untermenschen, das war angängig, Juden, das war damals nicht ganz comme il faut, das sagte man nicht. Aber daß dieser Versuch in dieser Definition unternommen wurde, sich herauszureden, das ist bezeichnend für die Adenauer-Zeit. Es gab Versuche, verschiedene Verfahren in Gang zu bringen. Die Alliierten hätten alles getan, es hieß immer, man hätte nichts tun können, weil die Alliierten ja Vorbehaltsrechte hatten, die Alliierten hätten alles getan, was die Deutschen wollten, denn zu der Zeit des Korea-Krieges haben beide Seiten versucht, die Deutschen auf ihre Seiten zu ziehen und die offiziellen deutschen Repräsentanten haben es wohl verstanden, den Alliierten im Westen einzureden, daß die deutsche Bevölkerung nichts wissen wolle und ich glaube auch bis heute, daß es dem Wunsch der Mehrheit durchaus entsprach, die nichts wissen wollten von NS-Verbrechensverfahren. Es kam nach einigen anfänglichen Verfahren zu einem praktischen Stillstand.
Es ist so, daß die Versuche, solche Verfahren wieder in Gang zu setzen, zu erzwingen, nicht moralisch skrupellos vorgenommen wurden. Wir haben uns das sehr wohl überlegt. Wir sind Jüngere, aber dafür nicht jung genug. Jeder, der damals überlebt hat oder sagen wir fast jeder, der damals überlebt hat, ist mitschuldig geworden. Das schließt ganz wenige Personen aus, solche wirklichen Helden wie Leo Haas, der schon vorher ins KZ kam und dann vom Einmarsch der Deutschen in die CSSR an durchgängig im KZ war und der noch im KZ Widerstand leistete, aber solche Personen ausgenommen, hat eigentlich jeder, der überlebte, seinen Kompromiß geschlossen, denn jeder hatte genügend Anlaß, und das schließt auch Jüngere ein, laut zu protestieren und immer wieder oder man mußte schon sehr geschickt weghören. Wer also überlebt hat, hat überlebt aus verständlicher Angst, die einen waren mehr betroffen als die anderen, aus Furcht. Aber trotzdem entbindet es nicht die, die überlebt haben. Es erklärt die Bedenken, die man hat, da überhaupt dranzugehen, aber es entbindet niemanden davon, sich mit den Verbrechen zu beschäftigen. Dieser Staat hätte, um überhaupt glaubhaft zu werden, diese Dinge aufarbeiten müssen und das zu tun hat er sich geweigert. Daß anfänglich die Betroffenen - auch im Besitze der Medien - hier eine große Rolle gespielt haben, entschuldigt nicht den Rest der Bevölkerung.
Es gab also durchaus moralische Bedenken da heranzugehen, aber die vorgeschobenen Gründe, die Alliierten hätten uns gehindert, treffen sicherlich nicht zu. Als man etwa seinerzeit in der englischen Zone die Vorstellung hatte, man würde nur Juristen wieder einstellen, die in der Nazizeit nicht in der Partei waren, ging es sehr schnell dazu, daß man realiter annahm, man brauche pro Oberlandesgerichtsbezirk mindestens einen unbelasteten Juristen. Nachdem das von dem seinerzeitigen Oberlandesgerichtspräsidenten in Niedersachsen in Celle vorgeschlagene Huckepackverfahren, aber auch von ihm selbst auch ad absurdum geführt wurde, denn es gab kaum Juristen, die nicht in der Partei waren, nicht nur nicht in der Partei waren, sondern von da bis zum Mitmachen ist ein weiter Weg, man sollte sehr genau differenzieren. Meine Meinung von unserem eigenen Volk ist nicht sehr gut, aber trotzdem ist sie nicht so schlecht, daß ich nicht glaube, man hätte für die 3 000 - 5 000 wesentlichsten Positionen in diesem Land nicht Leute mit absolut reiner Weste finden können. Aber das war nicht gewünscht. Verfahren wieder in Gang zu bringen, war besonders schwierig, solange bestimmte Bereiche eben voll besetzt waren mit Personen, die ausreichend Gründe hatten, an die Zeit möglichst nicht erinnert zu werden. Und die das mit finanziellen und anderen Gesichtspunkten zur Seite schieben konnten. Allerdings, wenn man an die sogenannte Wiedergutmachung denkt und Vergleiche darüber anstellt, wieviel Geld für die Täter und deren Angehörige, die ja die Rentenrechte erben, ausgezahlt worden ist, so ist die letzte Summe sicherlich ein Vielfaches. Es hätte durchaus hier die Möglichkeit gegeben zu sagen, wir streichen Rentenrechte, das hat es ja auch in anderen Fällen gegeben, aber immer in Bezug auf den Rechtsstaat, den es hochzuhalten gelte, wurden alle Rentenrechte anerkannt. Das ist natürlich auch jedem bewußt gewesen und ich nehme an, auch jedem hier im Saal dürfte bewußt sein, daß das die Konsequenz gehabt hat, daß dieses zu Recht der Staat der Mörder genannt wird.
Ich rede nicht über die DDR. Die DDR, in der es keine freien Wahlen gibt, hat sich um das Problem herumgestohlen, und ich fürchte eher das Ergebnis wirklicher freier Wahlen in der DDR, als daß ich darauf hoffen würde. Hier aber hat man sich um das Problem auf andere Weise gedrückt und damit hat man tatsächlich dafür gesorgt, daß jeder Mörder monatlich für seine Verbrechen nachträglich noch von diesem Staat honoriert wurde. Bis zu seinem Ende und nach seinem Ende seine Witwe und seine eventuellen minderjährigen Kinder. Wenn Sie in Israel waren, dann ist eins besonders erschütternd, wenn man von dort, wo man halt zu Hause ist, wieder nach Deutschland fährt, es wird Seife mit eingepackt. In Deutschland kann ein Jude keine Seife kaufen. Wir haben aus Betroffenheit versucht, seinerzeit NS-Verbrechensprozesse in Gang zu bringen - mit Erfolg - teilweise. Immerhin, nach jahrelangem Stillstand gab es solche Prozesse wieder, wobei eine wesentliche Rolle auch der Generalbundesanwalt Bude(???) gespielt hat. Nach ihm hat es in diesem Amt nur noch Niedergang gegeben. Man hat schließlich es erreicht, daß Ludwigsburg sogar ermitteln durfte im Ausland, schließlich auch im Osten, aber dieses lag nicht an einem massiven Willen in der Bevölkerung. Alle diese Erfolge sind nur erreicht worden aus Angst der in der Bundesrepublik Bestimmenden, vor dem negativen Eindruck im westlichen Ausland und ohne diese Angst hätte sich nichts erreichen lassen. Auf Teilgebieten versuchte man anzufangen. Schäfer hatte sich geweigert, irgendeiner Art von Wiedergutmachung zuzustimmen. Es ging soweit, daß die wenigen überlebenden Opfer etwa aus dem KZ Ravensbrück, Opfer medizinischer Experimente, daß die dort kümmerlich in Polen und anderswo vegetierten. Sie sollten wenigstens eine Minimalrente bekommen. Der Kampf darum wurde vom SDS und von der von SDSlern gegründeten DIS, der Deutsch-Israelischen-Studiengruppe, hier an der FU begonnen und geführt. Heinz Wewer (???) hatte sich dieses speziell zur Aufgabe gemacht. Die Bundesregierung weigerte sich, und die offizielle Begründung war, das könne ein Präzedenzfall werden. Es ging so weit, daß der amerikanische Senat die überlebenden Opfer zu Kuraufenthalten in Amerika einlud, aber die Bundesregierung und die Bundesrepublik sich weigerten.
In dieser Zeit schien es nur möglich, etwas zu ändern, wenn man irgendwo anfinge und das zentrale Gebiet schien die Justiz zu sein, wo man besonders genau nachweisen konnte, wer Richter, wer Beisitzer, wer beantragender Staatsanwalt, wer Gnadensachbearbeiter usw. gewesen war, anhand der Vergleiche der Unterschriften, der Lebensdaten usw. Aber bevor man damit überhaupt anfing, der Bundestag hatte - wieder einmal davon ausgehend, daß die Bevölkerung am Bundestag zu wenig interessiert sei - dazu aufgerufen, man möge dem Bundestag in Petitionen Punkte vorlegen, die in der Öffentlichkeit nicht genau behandelt würden. Und daraufhin wurde eine Petition aufgelegt, die dann, damit sie hier im Konvent der FU überhaupt durchkam, zweigeteilt werden mußte, nämlich einmal für Juristen und einmal für Ärzte. Weil die einen wohl für die anderen, aber nicht für ihre eigene Berufsgruppe unterschreiben wollten. Diese Petitionen, in denen der Bundestag in sehr vorsichtiger Formulierung gebeten wurde, zu prüfen, ob an den Vorwürfen, daß wiederpraktizierende KZ-Ärzte und wiederamtierende NS-Juristen von früher schwerstens belastet seien, diese Petitionen aufzulegen, wurde untersagt. Vom Senat der Stadt wurde dem Senat der FU nahegelegt, das zu unterbinden. Es haben dann eine größere Anzahl auch Professoren mit unterschrieben. Diese Petitionen, die dann quer durch die Universitäten gingen, brachten mehrere 10 000 Unterschriften und bewiesen nur, daß man auf diesem Wege eine Diskussion nicht erzwingen kann. Deshalb kam es dann zu Ausstellungen, in denen Akten gezeigt wurden. Auf jeder Akte standen genau die Beteiligten, nicht nur die Opfer. Jeder konnte sich selbst informieren. Dazu war eine ungeheure Arbeit nötig und diese Arbeit wurde von einer großen Anzahl Studenten aus verschiedensten Gruppen gemacht. Im SDS gehört es als bindende Verpflichtung dazu, an der Erstellung einer Kartei mitzuarbeiten. Es durfte nicht zu einer einzigen Namensverwechslung kommen. Ein Herr Müller, früher Sondergericht Lodge heute Braunschweig, tatsächlich aber in Stuttgart, eine solche Angabe hätte die Sache völlig kaputt gemacht. D.h. es waren diese Ausstellungen keine schnell abgezogene Show sondern eine Sache, die über Jahre hinweg vorbereitet wurde in Nachtarbeit, mit geringsten Mitteln, um bei uns schließlich Gesetze zustande zubringen und politische Praxis zu ändern. Das war ein Teil der Arbeit, die seinerzeit unternommen wurde. Ich habe mich jetzt bewußt nicht auf die Theoriediskussion sondern auf die praktische Arbeit beschränkt, d.h. sozusagen contemporary history apply to politics. Das war damals das, was hier geschah. Daß man das auf englisch sagt, zeigt gleichzeitig, daß das in Deutschland eigentlich ein ungewohnter Begriff ist. Zeitgeschichte auf die aktuelle Politik angewandt.
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Wolfgang Lefèvre: Ich versuche, die Bedeutung der Faschismusauseinandersetzung in den 60er Jahren für die politische Selbstverständigung von der Warte der Studenten her zu rekonstruieren oder zu erinnern, die, soweit wir solche Erfahrung wie sie Reinhard Strecker geschildert hat, zunächst einmal nicht hatten. Also Leute, die etwa um 1960/61/62 herum Abitur machten und dann auf die Universitäten kamen, die ja dann doch weitgehend in der zweiten Hälfte der 60er Jahre diejenigen waren, die die Rebellion getragen haben und die erst einmal von der Schule kamen, eben genau mit dem Bewußtsein, da hat's eine schlimme Periode in der deutschen Geschichte gegeben, 12 braune dämonische Jahre, aber wenigstens der Westteil Deutschlands, die Bundesrepublik Deutschland hat das hinter sich gelassen, hat daraus die Lehren gezogen, hat eine bessere Verfassung als die Weimarer Reichsverfassung zustandegebracht und jetzt ist im Grunde genommen alles paletti. Mit dem Bewußtsein sind wir ja zunächst mal damals auf die Universitäten gezogen. Von dem, was du geschildert hast, wußte ein normaler Abiturient damals nichts. So war erst einmal die Situation. Ich rede jetzt natürlich nicht für diese ganze Studentengeneration, das geht auch gar nicht, ich rede nur für das, was man diffus die linken Studenten nennen kann. Diffus deswegen, weil es überhaupt gar nicht zu präzisieren wäre, was da eigentlich links hieß in den 60er Jahren, in der ersten Hälfte der 60er Jahre, nicht in der zweiten Hälfte der 60er Jahre. Und ich muß noch hinzufügen: Das, was ich jetzt sage, reime ich mir ein bißchen zusammen. Es gibt keine guten Unterlagen darüber, was eigentlich in der Reflexion damals alles eine Rolle gespielt hat, eine wie große Rolle es gespielt hat. Ich rekapituliere es also aus meiner Erinnerung im wesentlichen, wie es hier in Berlin gewesen ist. Das kann durchaus subjektiv sein und zum Teil danebenliegen, aber ich hab keine Unterlagen, ich kann also auch nicht mehr bieten.
Ich rede über die Auseinandersetzung mit dem Faschismus als eine wichtige Form der politischen Selbstverständigung, d.h. sie war damals immer Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Gesellschaft und Politik der Bundesrepublik der 60er Jahre. Rückblickend scheint mir, daß diese Auseinandersetzung mit dem historischen Faschismus im Vorfeld der Studentenrebellion und noch in deren erster Phase, bis zum 2. Juni '67, dem Tag an dem Benno Ohnesorg erschossen wurde, eine größere Rolle in unserem politischen Selbstverständigungsprozeß gespielt hat als dann in den Jahren 68/69/70, also in der Höhepunktphase. Da wird es viele Gründe geben. Ein Grund könnte darin liegen, wie inhaltlich diese Faschismusauseinandersetzungen in einzelnen Phasen gelaufen sind. Ich glaube, es gibt auch gute inhaltliche Gründe, warum das plötzlich einen anderen Stellenwert bekommen mußte und nicht nur äußerliche, daß uns etwa andere Fragen interessierten. In der Anfangs- oder ersten Phase, also die frühen 60er Jahre bis etwa 1967, stand bei dieser Auseinandersetzung mit dem Faschismus die Befürchtung im Vordergrund, daß die westdeutsche Nachkriegsdemokratie von der faschistischen Vergangenheit eingeholt werden könnte. Was heißt eingeholt, also nicht so scharf etwa wie Reinhard Strecker eben ja hat zeigen können, von dieser Vergangenheit eingeholt, von der sie ja nach wie vor besessen war. So stellte sich das nicht dar. Wir wußten auch nicht genug. Nehmen wir das Beispiel der Spiegel-Affäre Anfang der 60er Jahre. Für die Jüngeren - man muß es ja nicht unbedingt wissen: Da nützte Adenauer einen Bericht im Spiegel über die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr aus, um zu sagen, das sei Landesverrat, was dort veröffentlicht worden sei, und den Spiegel zu besetzen. Das versteht man heute vielleicht nicht mehr. Der Spiegel war aber einmal eine tatsächlich oppositionelle Wochenzeitung gewesen und damals verstand jeder sehr gut: Es ging nicht um diesen Artikel, sondern es ging der Regierung darum, sich ein sehr unangenehmes kritisches Presseorgan vom Hals zu schaffen. Rudolf Augstein mußte für mehrere Wochen ins Untersuchungsgefängnis, also es war was los. Oder die ja damals schon längst laufenden Vorbereitungen der Notstandsgesetzgebung, die erst 1968 unter der Großen Koalition beschlossen wurden, aber die Vorbereitungen liefen ja seit den 50er Jahren: Es wurden immer wieder Schubladenentwürfe des Innenministeriums bekannt, nach denen die Regierung unter bestimmten Bedingungen legitimiert sein sollte, die Demokratie zu suspendieren und ohne Demokratie zu regieren. Das waren für uns Anlässe, uns auch mit dem Faschismus auseinanderzusetzen, weil wir den Eindruck hatten, hier wird die Nachkriegsdemokratie vom Faschismus eingeholt, wobei wir immer noch, wenigstens für meine Person kann ich das sagen, davon ausgingen, im Grunde hat 1949 wirklich ein Neuanfang stattgefunden. Also so krass, wie du es geschildert hast, habe ich es zum Beispiel zur damaligen Zeit niemals gesehen. Nicht zuletzt durch Aktivitäten von Leuten wie Reinhard Strecker und anderen aus dem SDS wurde uns allmählich auch wirklich klar, welche Kontinuität zwischen der faschistischen Periode und der Nachkriegsperiode praktisch bestand. Natürlich ist einer der wichtigsten Punkte, daß der ganze Staatsapparat, die entscheidenden Funktionen des Staatsapparates nie ausgewechselt worden sind.
Ich hatte gehofft, daß Margarete von Brentano darüber erzählen würde, daß es auch theoretisch war, daß ganz maßgebende Theorien, die in den 50/60er Jahren als die Theorien etwa der Politik, der Sozialwissenschaften galten, ja nur mit winzigsten Retuschen von denselben Autoren in den 30/40er Jahren ganz genauso vertreten wurden. Also etwa die Auseinandersetzung mit hochberühmten Soziologen und Anthropologen wie Gehlen, wie Hochstätter, Leuten wie Carl Schmitt oder für mein Fachgebiet Philosophie mit Leuten wie Martin Heidegger, wo man sich ja noch gefragt hat: Mein Gott, wie kann das kommen, daß ein Mann wie Martin Heidegger seine Hauptwirkungszeit gar nicht in den braunen Jahren sondern in den 50er Jahren hatte? Es ist gesagt worden, für unsere Generation sei die Faschismusauseinandersetzung vielleicht auch ein richtiges Generationsproblem gewesen im wörtlichen Sinne also Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern. Das hat bestimmt auch eine Rolle gespielt, aber ich glaube das war überhaupt nicht die Hauptsache. Wichtig war das bestimmt schon, aber eigentlich erst als hier die Rebellion ausgebrochen war und uns die ältere Generation sagen wollte, daß wir das alles nicht dürften, als die uns Vorschriften machen wollten, wie man Politik richtig macht und wo die Grenzen sind, wie man Politik nicht mehr machen darf, daß wir uns da ganz gerne daran erinnert haben, welche Legitimation die eigentlich aus ihrer eigenen Vergangenheit und ihrem eigenen politischen Handeln haben, uns so etwas zu sagen. So was hat schon eine Rolle gespielt, aber als Hauptakzent kann man das überhaupt nicht ansehen. Wichtiger für uns war, glaube ich, in dieser ersten Phase die Kontinuität zu sehen, insbesondere, Reinhard Strecker hat es ja schon angedeutet, was für eine unglaublich komfortable Kontinuität das gewesen ist. Man brauchte wirklich nur zu sagen, das mit den Juden war ein Fehler, das hätten wir nicht machen dürfen, das ging zu weit. ... aber ansonsten blieb ja alles richtig. Richtig war, daß man die Kommunisten bekämpfen muß, richtig war, daß man nach Osten gehen muß. Ein kapitaler Fehler des Westens ist es gewesen, sich nicht mit Hitler-Deutschland noch abzuschließen, gemeinsame Sache gegen Rußland zu machen. Also die Nachkriegspolitik war faktisch in einer wunderschönen Kontinuität und hatte den Vorteil fürs eigene schlechte Gewissen, daß man sagen konnte: O.K., also mit den Juden und so haben wir's ja zum Teil nicht gewußt, oder was man für Ausreden hatte, aber das war ein Fehler. Wir haben aus dem Fehler gelernt. Wir kämpfen jetzt aktiv gegen Diktaturen, nämlich gegen den Kommunismus. Wir beweisen tatkräftig, daß wir unsere Lektion aus dem Faschismus gelernt haben, indem wir wie die Faschisten die Kommunisten bekämpfen. Also so was von komfortabler Kontinuität, ... das war ja toll. In dem Zusammenhang spielte die Totalitarismustheorie natürlich eine große Rolle. Wichtig scheint mir zu sein, daß in dieser ganzen ersten Phase für die meisten von uns - natürlich nicht für Leute wie Reinhard Strecker - diese Kritik an der Nachkriegsdemokratie, wie gesagt, getragen wurde von der generellen Furcht, diese Nachkriegsdemokratie werde von der Vergangenheit des Faschismus, also vom historischen Faschismus durch personelle Kontinuität, durch Mentalität und weiß der Himmel was, bedroht und eingeholt. Diese Faschismusauseinandersetzung war ganz zweifellos selber defizitär, was die Bewältigung des Faschismusproblems anging. Vorwiegend war es doch eine formal demokratische Kritik, d.h. wir selber haben in dieser Phase vor allen Dingen Faschismus begriffen als etwas, was möglich war allein oder hauptsächlich wegen der Tatsache, daß die demokratischen politischen Institutionen 1933 liquidiert worden sind, daß die Weimarer Reichsverfassung vielleicht auch zu wenig Vorkehrungen getroffen hatte, daß so etwas nicht passieren konnte, daß also der Zusammenbruch der Gewaltenteilung, der Rolle des Parlaments, des Mehrparteiensystems etc. den Faschismus ermöglicht hat. Und umgekehrt besteht Faschismusbewältigung in der umgekehrten Schlußfolgerung im wesentlichen in der Bewahrung dieser formalen politischen Institutionen. Der große Unterschied liegt also einfach im Institutionellen der Politik. Das hatte sehr viel zu tun mit dem sogenannten reeducation-program, das die Westalliierten in den 50er Jahren als einen letzten Rest ihres antifaschistischen Kampfes in den Westzonen versucht hatten zu lancieren, um die nächste Generation der Deutschen etwas demokratisch zu erziehen. Und diese demokratische Erziehung war und sie ist auch in unseren Köpfen, die wir damals die höhere Schule besuchten, auch so erstmal angekommen.
Geändert hat sich an dieser, wie ich finde, ganz unzureichenden formal demokratischen Faschismuskritik dann Mitte der 60er Jahre etwas durch ein Ereignis, was zunächst mit der Sache scheinbar gar nichts zu tun hat, nämlich durch den Vietnam-Krieg. Der Vietnam-Krieg war, wie Sie ja sicher alle wissen, Mitte der 60er Jahre sicherlich das Zentrum unseres politischen Selbstverständigungsprozesses, Zentrum der Auseinandersetzung auch wiederum mit der gesellschaftlich politischen Gegenwart, jetzt aber nicht nur bezogen auf die deutsche Nachkriegsdemokratie sondern eigentlich auf die ganze westliche Welt. Die Kritik am Vietnam-Krieg war nun im Zusammenhang mit dem Thema, das uns heute nachmittag interessiert, bei einer Riesenzahl von Studenten der Durchbruch, eben dieses formal-demokratische Demokratieverständnis zu erschüttern. Um es so simpel zu sagen, wie es damals auch mir eingeleuchtet hat: Die Faschisten haben Völkermord begangen an den Juden, an den Polen und wo sie's sonst versucht haben. Was wir jetzt in Vietnam erleben, ist auch Völkermord. Sie haben hoffentlich alle genug von der Geschichte des Vietnamkriegs in Erinnerung, um zu verstehen, was ich alles meine. Es wurde ja systematisch mit Napalm die Zivilbevölkerung ausgerottet, es war ja nicht einfach ein Krieg, es war ja Völkermord oder versuchter Völkermord. Bei den Faschisten hatten wir immer gedacht, so etwas ist nur möglich wegen der Suspension, wegen der Vernichtung und Liquidierung der demokratischen politischen Institutionen. Was war denn mit Amerika los? In Amerika sind sämtliche verfassungsmäßig vorgesehenen politischen Institutionen vorhanden und intakt. Dort ist die politische Welt formell überhaupt nicht verändert. Es ist also möglich, daß ein formell demokratisch regiertes Land solch ein Verbrechen wie den Völkermord an der vietnamesischen Bevölkerung verübt. Also Schlußfolgerung: Es kann nicht an der Form der politischen Institution liegen. Es scheint hier Politik, die barbarisch ist, verbrecherisch ist, möglich zu sein mit oder ohne demokratischen Institutionen. Das war, ich glaube, für ungeheuer viele dieser Studentengeneration ein ganz entscheidender Punkt, daß das formaldemokratische Selbstverständnis, das wir in den 50er Jahren auf den Schulen gelernt haben und das in der ersten Hälfte der 60er Jahre zunächst auch gar nicht angetastet worden ist, erschüttert wurde. Das war sicherlich dann ein ganz entscheidender Grund dafür, daß jetzt in der Mitte der 60er Jahre die Auseinandersetzung mit dem Faschismus nicht nur von einigen Experten, nicht nur von einigen Philosophen und Sozalwissenschaftlern an die marxistischen Faschismustheorien der Vergangenheit wieder angeknüpft werden konnte.
Hier hatte ich gehofft, daß Margarete von Brentano hier schon erzählt hat, was in der Beziehung passiert ist - ich kann das jetzt nicht nachholen, ich habe mich auch nicht darauf vorbereitet, es ist vielleicht auch zeitlich gar nicht so klug. Ich kann es vielleicht mit drei Worten sagen, daß es in der ersten Hälfte der 60er Jahre unter starker Beteiligung des SDS die Auseinandersetzungen mit den ungesühnten Verbrechen des Nationalsozialismus geführt wurden, wenn auch die Initiative mehr auf der Hochschulebene lag, also auf der Ebene einzelner Institute oder von solchen Privatinitiativen wie z.B. der Zeitschrift 'Das Argument' von Wolfgang Fritz Haug, wo aus der alten Anti-Atom-Bewegung der späten 50er Jahre Arbeitskreise zu verschiedenen Fragen entstanden, z.B. auch zur Frauenfrage, die damals das erstemal, soweit ich weiß, in der Bundesrepublik Deutschland seriös angepackt wurde als ein wichtiges Thema, so also auch die Faschismusfrage und eben die Frage der Theorien über den Faschismus. Das ist z.B. ein sehr gut nachlesbarer Teil, weil die Zeitschrift 'Das Argument' das in den entsprechenden Heften bis zur Mitte der 60er Jahre dokumentiert hat. Ich finde das zum Teil auch heute noch lesenswert. Also da gab es Leute, die bereits die wesentliche Arbeit geleistet hatten, daß nun breite Teile der linken Studenten, deren formal-demokratisches Demokratieverständnis erschüttert war, überhaupt wieder anknüpfen konnten an anderen Faschismusanalysen als denen, die hier in der Bundesrepublik gang und gäbe waren, nach denen das ein Betriebsunfall irgendwelcher dämonischen Mächte war, aber im Grunde nichts erklärt wurde. Von den marxistischen Faschismustheorien, an die angeknüpft wurde, war bestimmt diejenige der Frankfurter Schule am beutendsten, wo eben der eine Chef, Max Horkheimer, das berühmte - für uns übrigens alle wegweisende - Diktum in einem der Aufsätze der 30er Jahre geschrieben hatte: "Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch vom Faschismus schweigen." Das ist für uns ein ganz wesentlicher Anknüpfungspunkt gewesen.
Simplifiziert hat sich es uns aufgrund dieser Wiederanknüpfung an marxistische Faschismustheorien dargestellt, daß demokratische und diktatorische Formen der Politik lediglich funktionale Alternativen sind. Funktionale Alternativen je nach Umständen für das zugrundliegende gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis, was von diesen politischen Formen sowieso überhaupt nicht berührt ist. Ob wir in der Weimarer Republik sind, ob wir im Faschismus sind, ob wie in der Nachkriegsrepublik sind, das fundamentale Herrschaftsverhältnis ist gesellschaftlich und ist das Verhältnis der Herrschaft des Kapitals über die Lohnabhängigen. Von diesem grundlegenden Herrschaftsverhältnis her gesehen, das von den politischen Formen nicht berührt ist, ein Verständnis des Faschismus als einer funktionalen Alternative, wenn das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis sich mit demokratischen Formen nicht aufrechterhalten läßt, z.B. angesichts einer Situation, wie sie durch die Weltwirtschaftskrise Anfang der 20er Jahre erzeugt worden ist, auch gepaart mit einem relativ hohen Niveau des Klassenkampfes von unten. In einer solchen Situation ist für das fundierende gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis eine Diktatur wie der Faschismus eine absolut akzeptable, ja sogar notwendige Alternative zu den demokratischen Formen, die sie in friedlichen Zeiten selbstverständlich bevorzugt. Damit war natürlich auch ein ganz anderes Verständnis der Bedrohung der Nachkriegsdemokratie durch faschistische Tendenzen entstanden. Danach stellte es sich ungefähr von 1967 an so dar: Die Nachkriegsdemokratie ist nicht von der Vergangenheit bedroht, nicht von dem Faschismus, der einmal war und noch mit personellen, ideologischen Kontinuitäten in die Gegenwart hineinwirkt, sondern die Nachkriegsdemokratie ist bedroht von ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Grundlage her, nämlich davon, daß es im Grund genommen ein Widerspruch ist, daß ein prinzipielles gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis sich zugleich den Luxus leistet, politisch Demokratie zu machen. Immer wenn die faktisch gesellschaftlich beherrschten Ausgebeuteten mit der Demokratie ernst machten, würden die Herrschenden die demokratische Form opfern müssen zugunsten der Erhaltung realen Herrschaft. Und es schien uns damals an Beispielen nicht zu fehlen. Was wir damals 1967/68 erlebt haben, wie schnell dieser Staat bei einer - gut, es ist uns damals nicht so erschienen, von heute kann man es ja sagen - relativ lächerlichen Opposition von ein paar tausend Studenten, wo es nicht einen Augenblick die Gefahr gegeben hat, daß der Funke etwa wirklich auf die Stadt überspringen könnte, daß die Arbeiter wirklich in die gleiche Richtung marschieren könnten, also in einer Situation, in der der Staat überhaupt nicht ernstlich bedroht war, wie schnell er immer bereit war, zunächst einmal die demokratischen Formen zu suspendieren. Ich erinnere an den 2. Juni 67: Die Polizei erschlägt einen Studenten ... und gleichzeitig laufen Polizeioffiziere herum und berichten den absperrenden Polizisten das glatte Gegenteil, nämlich die Studenten, die Demonstranten hätten Polizisten erschossen. Was ich selber hörte, war, Demonstranten hätten einen Polizisten erschossen, denn das geschossen worden war, das hatte sich rumgesprochen und das heizte wiederum die Polizisten auf. Und am nächsten Morgen ordnete der Regierende Bürgermeister keine Untersuchung dieser Tötung des Studenten an, ganz im Gegenteil, er verhängte erst einmal generelles Demonstrationsverbot. Durch keinen Artikel der Berliner Verfassung oder des Grundgesetzes, wo man sich ja streiten kann, wie das eigentlich hier in Berlin anzuwenden ist, gedeckt, beschloß er, Schnellgerichtsverfahren einzurichten, also er begann ohne jedes Zögern, die demokratischen Institutionen teilweise außer Kraft zu setzen. Wenn schon bei so kleinen Belastungsproben zur Sicherung der Herrschaftsverhältnisse die demokratischen Formen außer Kraft gesetzt werden, was mußte erst passieren, wenn wirklich einmal die Unterdrückten dieser Gesellschaft ernsthafte Opposition machen würden! Und das scheint mir auch der Grund zu sein, warum in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Auseinandersetzung mit dem historischem Faschismus gar nicht mehr die große Rolle gespielt hat, wie in der ersten Hälfte, weil wir ihn sozusagen viel gegenwärtiger sahen. Wir sahen die Demokratie nicht bedroht von der Kontinuität dessen, was zwischen 33 und 45 passiert war, sondern von der, wie wir glaubten, gesellschaftlichen Grundlage dessen, was damals passiert ist, die nach wie vor mit und auch ohne belastete Juristen oder belastete Staatsbürokraten fortexistiert und bei der in jedem großen Konflikt zu befürchten steht, daß die Demokratie erneut suspendiert wird. Mit dieser Befürchtung scheinen wir uns ja mächtig verrechnet zu haben. Kurz nach dem Höhepunkt der Studentenrebellion 1968/69 begann in Bonn die kleine Koalition von FDP und SPD, die CDU mußte das erste Mal in der Nachkriegsgeschichte in die Opposition, und der neue Bundeskanzler Willy Brandt begann sein Amt mit dem viel zitierten schönen Spruch, man müsse "mehr Demokratie wagen". Es sah nun so aus, als würde sich ganz etwas anderes in die Wege leiten, nicht eine erneute Gefährdung der Demokratie durch die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Konflikte, sondern eine Ausdehnung der Demokratie. Und seitdem ist, glaube ich, die Auseinandersetzung mit dem Faschismus insgesamt mehr eine Sache der Fachleute geworden und nicht mehr so sehr eine Frage der öffentlichen Reflexion in dem Sinne, daß man in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus sein eigenes politisches Gegenwartselbstverständnis versucht zu erwerben. Das kann verhängnisvoll sein, wie ich glaube. Ein Punkt der Debatte müßte vielleicht sein: Ist die - ganz grob gesagt - marxistische Analyse, zu der es dann 1968/69 gekommen ist, wie immer ihre einzelne Schattierung ist, wirklich so obsolet oder haben wir nur Glück, daß vorläufig die Nagelprobe auf diese Theorie in der Praxis nicht ansteht und wir uns alle natürlich wünschen, daß sie auch künftig nicht anstehen mag. Ich bin schon ermahnt worden, daß die Zeit eng wird. Es können ja vielleicht noch einige Punkte bei der Diskussion kommen.
Strecker: Zur Frage der reeducation könnte man ganz schnell noch sagen, sehr wichtig ist die Überprüfung der Schulbücher. Die Schulbücher behielten die gleichen Namen, die gleichen Verfasser, die gleichen Titel, die gleichen Verlage, aber wenn man die einzelnen Auflagen oder Nachdrucke prüft, dann stellt man sehr schnell fest - ich habe das gemacht und bei der Vorbereitung der deutsch-polnischen Schulbuchkonferenzen versucht, dies durchzusetzen , daß etwas, was vorher viereinhalb Seiten in einem renommierten Schulbuch war, innerhalb von drei Nachdrucken auf eine halbe reduziert wurde, bis es ganz verschwand. D.h. es wurde sehr schnell mit dem Radiergummi gearbeitet.
Das andere, die Frage: Warum die Auseinandersetzung zu diesem Zeitpunkt? Einmal hängt es natürlich teilweise auch von Personen ab, wann die da sind, aber andererseits gab es durchaus auch ein bestimmtes Datum. Die allgemeine Fiktion, was in der Nazizeit gewesen sei, sei damals juristisch von den Paragraphen nicht mehr zu erfassen gewesen, was nicht stimmte, und deshalb habe am 8. Mai 1945 alles neu angefangen und am 8. Mai 1960 würde dann die Verjährung eintreten, es sei damals alles nur Totschlag gewesen und Totschlag verjährt nach 15 Jahren. Nur Exzeßtaten seien danach eventuell noch zu verfolgen, und das war auch genau die juristische Linie. Justizminister Schäffer, also nicht mehr Finanzminister, propagierte diesen Standpunkt sehr laut Anfang 1960 auf der Wiesbadener Landesjustizministerkonferenz, die zweimal den Tagungsort wechseln mußte, bis sie platzte. Da ging er die Treppe herunter, und von einem Journalisten befragt, was ist denn nun nach dem 8. Mai, sagte er - und so wurde der Bundesjustizminister in der ganzen Welt zitiert - "nach dem 8. Mai 1960 geht nichts mehr". Das war der offizielle Wille, alles nur Totschlag und nach dem 8. Mai verjährt. Deshalb war dieser Termin 1960 wichtig, allerdings hatte ich mich schon 1958 darum bemüht, aber nun war es besonders nötig und wie weit das Folgen gehabt hätte, sehen Sie an der Geschichte: Dieses Wort von Schäffer wurde quer durch die Welt publiziert mit Berichten und Sie können genau verfolgen, an welchem Tag es in der Prenza stand in Buenos Aires. Dann setzte sich daraufhin jemand, der dorthin emigriert war, mit einem Freund zusammen, dem ehemaligem Chefredakteur von Het Parol, der größten holländischen Zeitung, seinerzeit natürlich auf Kollaborationsliste, Eichmann und van Sassen schrieben zusammen Eichmanns Memoiren. Sie machten einen zweiten Versuch, das in Worte zu fassen. Eichmann bereitete sich darauf vor zurückzukommen. Diese ersten Notizen von ihm sind dann damals später in LIFE publiziert worden. Er wartete auf den 8. Mai, um auch nach Deutschland zu gehen. So war das allgemein damals, nach dem 8. Mai 60 geht nichts mehr. Deshalb war es also schon wirklich wichtig, diesen Verjährungtermin ernst zu nehmen. Es gab danach noch sieben Versuche, die Verjährung doch durch die Hintertür eintreten zu lassen. Und seit dem 8. Mai 1960 ist ja dann auch alles in der deutschen Rechtsprechung verjährt, was nicht direkt als Mord zu qualifizieren ist, was also an Quälerei usw. darunter blieb. Ich halte das zwar nicht für richtig und juristisch angreifbar, aber so ist es. Aufgrund der Ausstellungen und Einladungen ins Unterhaus gab es einen Versuch, aus dem Unterhaus heraus den Bundestag zu einer Stellungnahme zu bewegen und es gab dann schließlich, im Ältestenrat beschlossen, eine Diskussion, angesetzt im Bundestagsrechtsausschuß, aber die wurde vom Ältestenrat in seiner Mehrheit auf einen Termin nach dem 8. Mai 1960 gelegt. Das ist die Praxis. Es war damals alles rein akademisch. Rein akademisch war gut. Also auch Faschismustheorie rein akademisch sehr schön. Rein akademisch hieß ohne jeden Gegenwartsbezug. Aber so wie ein Gegenwartsbezug da war, ging es nicht mehr. Dann griff die Polizei ein. Auch hier in Berlin. Bei Demonstrationen zeigte sich die Verbindung zum Neonazismus nur, indem zu einem bestimmten Zeitpunkt ein paar Personen auftauchten, die ein Plakat mit einem Namen trugen wie "Globke" - Margherita von Brentano hatte eins dieser Plakate. Dann war es bereits möglich, die Polizei loszulassen und alle zu verhaften. Rein akademische Diskussionen ohne jeden Gegenwartsbezug waren angängig.
Es wurde gefragt, wer von den Ausstellungen angesprochen werden sollte. Nur die akademischen Kreise oder auch andere. Es war damals so, daß wir auch ohne einen offiziellen Konzern eine weitgehend gelenkte Presse hatten. Es gab Dinge, die absolut tabu waren, die nicht gebracht wurden, und zwar quer durch die Presse. Man war ziemlich einhellig dann der gleichen Meinung. Und hier bildeten die Studentenverbände, und da war der SDS schon ein Nukleus, um den sich dann andere gruppierten, die Möglichkeit, am gleichen Tag etwa in fünf oder sechs europäischen großen Städten, ein Thema der Öffentlichkeit aufzuzwingen, und damit war die ganze Öffentlichkeit gemeint, denn dann wurde darüber berichtet. Und diese juristischen Ausstellungen fanden zwar normalerweise im Rahmen der Universität statt, innerhalb der Universitätsgebäude oder in Verbindung mit der Universität von Universitätsvereinigungen, aber sie richteten sich durchaus an die Öffentlichkeit. Allerdings ist Stuttgart eine Ausnahme, wo ausdrücklich der Landesjustizminister, der Oberlandesgerichtspräsident und der Generalstaatsanwalt von Stuttgart die Veranstaltung mit einer Podiumsdiskussion mit einleiteten. Das war eine wirkliche Ausnahme. Normalerweise wurde es angefeindet, hatte aber eben die Zielrichtung Universität. Denken Sie daran, daß die Universitätstage zur braunen Universität hier in der FU etwa ohne die Beteiligung der juristischen Fakultät stattfanden. Sie richteten sich also an die Universität, an Studenten, an Professoren, sie richteten sich an die Presse und die weitere Öffentlichkeit, denn wenn man etwas ändern will, muß man durchaus versuchen, die Medien zu erreichen und sie führten auch zu Diskussionen, selbst in dem damals noch nicht so wesentlichen Fernsehen. Der Versuch, Prozesse in Gang zu bringen, Gesetze zu veranlassen, der Versuch, Ludwigsburg - was bis dahin praktisch eine Briefkastenadresse war, eine Registratur mit zweieinhalb Stellen besetzt und einer Halbtagsschreibmaschine - zu einer vollen Staatsanwaltschaft werden zu lassen, wenigstens dort eine größere Menge Personal zu haben und ihnen wenigstens die Möglichkeit zu verschaffen, auch im Ausland zu ermitteln, ist nie gelungen. Bis dahin wurden alle diese Dinge behindert, und zwar von der Spitze her. Denken Sie an das Bundesjustizministerium, der Leiter der Strafrechts-Abteilung war damals jemand, der seinerzeit als junger Beamter die Strafrechtsänderngsgesetze der Nazis protokolliert und mitverfaßt hatte, usw. Damals war tatsächlich die personelle Kontinuität durchaus ein Hilfsmittel. Natürlich sollte das nicht die grundsätzliche Strukturdebatte ersetzen, aber sie war nötig und sie war um so nötiger, wenn man sich überlegte, kann man in diesem Land Kinder haben, kann man hier Kinder aufwachsen lassen. Eigentlich nur möglich, wenn es hier eine moralisch einwandfreie Grundlage gibt. Das ist also einer der Punkte.
Lefèvre: Es sind vielleicht zwei Sachen, auf die ich nur eingehen will. Das eine die Formulierung: Ist der Faschismus für die Kapitalisten eine akzeptable oder notwendige Herrschaftsform, also wie ist die marxistische Faschismusanalyse zu verstehen? Also, ich habe sie nie verstanden. Da würde ja Geschichte etwas wie ein chemischer Prozeß im Reagenzglas sein, den ich dauernd wiederholen kann, wenn ich immer wieder die Ausgangskonstellationen schaffe. Geschichte geht ja nun 'mal nicht so. Es gibt nie die gleiche Ausgangskonstellation. Also ist die Frage in doppelter Hinsicht zu stellen. War der Faschismus für die Kapitalisten 1933 akzeptabel? Zweifellos, das ist eine Tatsache. Akzeptabler als alles andere zu der Zeit. Sie sahen nichts besseres damals als den Faschismus. Und insofern kann man für die bestimmte historische Situation sagen, es war die gefundene notwendige Herrschaftsform, bei allem, was die Kapitalisten an diesen blöden Nazis auch rumzumeckern hatten. Ganz klar. Aber ist deswegen Faschismus für den Kapitalismus ... auf der Grundlage kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse, wenn die in Krisensituationen kommen, die notwendige Herrschaftsform? So ist das, glaube ich, niemals von der marxistischen Theorie gemeint gewesen. Nur eins ist gemeint: Wenn der gesellschaftliche Widerspruch sich so eskaliert, daß, jetzt kommen wir auf ein Problem, was Ramba benannt hat, wenn die unterdrückten Massen anfangen, eine Opposition zu machen, die gefährlich wird, dann ist die Unterdrückung dieser gefährlich werdenden Opposition für Faschisten völlig klar. Keine Frage, daß sich die Unterdrückung dieser Opposition an Rechtsstaat und an sonstige politische Institutionen zu halten hat. Dann wird der Rechtsstaat liquidiert, darauf kann man sich verlassen wie auf das Amen in der Kirche. Also insofern ist nicht der historische Faschismus mit Blut und Boden, mit indischem Fruchtbarkeitssymbol als Staatssymbol und weiß der Himmel, was für ein Kram und dessen Wiederholung, gemeint, das braucht man nicht zu fürchten. So wiederholt sich die Geschichte nun wahrlich nicht. Zu fürchten ist die Wiedererrichtung der Diktatur im Falle des ernsthaften Klassenkampfes. So ist es verstanden. Und dann ist natürlich die virulente Frage, die sich eben Sozialdemokratie und auch KPD nie richtig gestellt haben: Wie haben wir damals versagt und was tun wir, um das nächstemal nicht zu versagen? Die SPD macht diese Analyse nicht mit, damit ist sie aus dem Schneider raus und die KPD hat die abstrakt richtige Analyse und braucht deswegen keine Selbstkritik zu machen. Also es ist furchtbar.
Jetzt zu der Frage von Andreas Müller, also zur Nichtfortwirkung der marxistischen Faschismus-Analyse und alles, was daran hängt. Es gibt natürlich darauf keine erschöpfende Antwort, überhaupt keine Antwort, sondern allenfalls eine private Vermutung. Die hängt zusammen mit der Einschätzung der Studentenrebellion insgesamt. Ich schätze inzwischen die Studentenorganisierung als ein Begleitphänomen einer kleinen gesellschaftlichen Reform der Bundesrepublik Deutschland, Übergang von einer restaurativen Nachkriegsperiode mit ungeheuren Belastungen sogar noch im einzelnen von der faschistischen Vergangenheit zu einer normalen kapitalistischen Demokratie, wie sie in Nichtkrisenzeiten besteht. Dieser Übergang war in diesem Lande mit vernünftigen Leuten einfach nicht zu haben. Damit von der CDU-Regierung über die große Koalition zur kleinen Koalition gekommen werden konnte, mußte in diesem Land etwas mehr passieren. Und dazu hat die Studentenrebellion bestimmt beigetragen, aber sie war ein Epiphänomen, das würde ich so sehen. Aber Epiphänomene haben es an sich, sich nicht an das zu halten, was funktional von ihnen verlangt wird. Denn eigentlich werden sie nur gebraucht, um zu einem normalen kapitalistischen demokratischen Staat á la 1969 ff zu führen. Sie hat aber viel mehr auf der Pfanne gehabt. Sie hat viel mehr gemacht, als nur diese kleine Verschiebung. Warum? Hat sie gesponnen, hat sie Themen aufgegriffen, die gar nicht da sind? Natürlich hat sie das nicht. Sondern sie hat die Themen, die da sind, sozusagen als ein Epiphänomen radikalisiert. Analytisch wie praktisch. Hat sich nicht damit zufrieden gegeben, 'wir machen eine kleine Reform und dann sind Sachen wie Vietnam-Krieg und weiß der Himmel etwas auch wieder zu vergessen', sondern ist an die Wurzeln gegangen, aber als Studentenrebellion bzw. mit einer kleinen APO mit einem kleinen Anhang von Freiberuflern und weiß der Himmel was. Also als eine gesellschaftlich völlig ohnmächtige Gruppe. Und in ihrer Politik haben plötzlich solche tiefgreifenden Analysen eine Rolle gespielt. Als der Mohr seine Schuldigkeit getan hatte, seinen Dank bekam und gehen konnte, sei es in die Amnestie von Willy Brandt, sei es in die Gefängnisse seines Innenministers, als die Sache im wesentlichen liquidiert war, was sollte man dann noch mit diesen alten Theorien? Die werden erst wieder gebraucht, wenn die nächste Krise nicht mehr reformistisch zu behandeln ist. Das ist meine private Antwort darauf. ...
Anmerkungen:
1) Das stimmt nicht. Diepgen wurde im Februar 1963 abgewählt, seine Nachfolger waren Werner Gebauer (gewählt vom neugewählten 15. Konvent der FU am 28. Juni 1963) und Wolfgang Roth (SHB) gewählt vom 17. Konvent am 14. Februar 1964). Wolfgang Lefèvre wurde am 19. Februar 1965 vom 17 . Konvent der Fu zum AStA-Vorsitzenden gewählt. Die Wahl erfolgte im Gegensatz zu den "Hoechster Vereinbarungen": Lefèvre kandidierte ohne Absprache gegen den SHB-Kandidaten Zöpel und wurde mit den Stimmen der "Rechten" gewählt.