Maurice Brinton
MAI 68
Die Subversion der Beleidigten

MaD Flugschrift


FRANKREICH 1968

Zweifellos war dies die bedeutendste revolutionäre Erhebung in Westeuropa seit den Tagen der Pariser Commune. Hunderttausende von Studenten haben sich regelrechte Schlachten mit der Polizei geliefert. Neun Millionen Arbeiter standen im Streik. Die rote Fahne der Revolte flatterte über besetzten Fabriken, Universitäten, Baustellen, Werften, Haupt- und Realschulen, Grubeneingängen, Bahnhöfen, Kaufhäusern, Überseeflugzeugen, Theatern, Hotels. Die Pariser Oper, das Folies Bergères und das Gebäude des Nationalen Rates für Wissenschaftliche Studien wurden besetzt, ebenso wie das Hauptquartier der französischen Fußballföderation, mit dem klaren Ziel, "normale Fußballer davon abzuhalten, Spaß am Fußball zu haben".

Nahezu jede Schicht der französischen Gesellschaft wurde im bestimmten Umfang in die Geschehnisse einbezogen. In überfüllten Endlostreffen in jedem erreichbaren Klassenzimmer oder Hörsaal haben Hunderttausende von Leuten jeden Alters jeden Aspekt des Lebens diskutiert. Vierzehnjährige Jungen sind in eine Mädchenschule mit dem Ruf "Liberté pour les filles!" (Freiheit für die Mädchen) eingedrungen. Selbst so traditionell reaktionäre Enklaven wie die Fakultäten für Medizin und Jura wurden von oben bis unten erschüttert. Ihre geweihten Prozeduren und Institutionen wurden angegriffen und als falsch empfunden. Millionen nahmen an der Geschichte teil. Das ist der Inhalt der Revolution.

Unter dem Einfluß der revolutionären Studenten begannen Tausende, das ganze Prinzip der Hierarchie in Frage zu stellen. Die Studenten haben es dort in Frage gestellt, wo es am 'natürlichsten' erschien: in den Gefilden von Unterricht und Wissenschaft. Sie proklamierten, daß die demokratische Selbstverwaltung möglich sei - und um es zu beweisen, praktizierten sie sie selbst. Sie denunzierten die Monopolisierung der Information und produzierten Millionen von Flugblättern, um diese Monopolisierung zu durchbrechen. Sie attackierten einige der wichtigsten Stützen der gegenwärtigen 'Zivilisation': die Barriere zwischen Handarbeitern und Intellektuellen, die Konsumgesellschaft, die 'Heiligkeit' der Universität und anderer Quellen kapitalistischer Kultur und Weisheit.

Im Verlaufe einiger Tage brachen die ungeheuren kreativen Möglichkeiten der Leute plötzlich auf. Die kühnsten und realistischsten Ideen - die gewöhnlich dieselben sind wurden verteidigt, vertreten und angewendet. Sprache, in abgedroschener Form überliefert, seit Jahrzehnten bürokratischer Verhunzung ihres Wesens beraubt von denen, die sie für Werbezwecke manipuliert haben, erschien plötzlich wieder als etwas neues und frisches. Die Leute eigneten sie sich wieder in ihrer Gesamtheit an. Wunderbar passende und poetische Parolen brachte die anonyme Menge hervor. Kinder erklärten ihren Eltern, was die Aufgabe der Erziehung sein sollte. Die Erzieher wurden erzogen. Innerhalb weniger Tage erreichten junge Leute von 20 ein solches Maß an Verständnis und politischem und taktischem Gespür, was vielen, die seit 30 Jahren oder mehr in der revolutionären Bewegung sind, leider oft abgeht.

Die stürmische Entwicklung des Kampfes der Studenten gab den Anstoß für die ersten Fabrikbesetzungen. Sie veränderte sowohl das Kräfteverhältnis in der Gesellschaft als auch das Bild etablierter Institutionen und etablierter Führer, wie es in den Köpfen der Leute bestand. Sie zwang den Staat, sowohl seinen in seiner Natur liegenden Zwangscharakter als auch seine grundlegende Unfähigkeit, den gesellschaftlichen Zusammenhang zu gewährleisten, zu offenbaren. Sie legte die völlige Hohlheit von Regierung, Parlament und Verwaltung und auch die a1lerpolitischen Parteien dar. Unbewaffnete Studenten haben das Establishment gezwungen, die Maske fallen zu lassen, vor Angst zu schwitzen und bei Polizei und Gasgranaten seine Zuflucht zu suchen. Studenten schließlich haben die bürokratischen Führungen der 'Organisationen der Arbeiterklasse' gezwungen, sich selbst als die letzten Hüter der etablierten Ordnung zu entlarven.

Aber die revolutionäre Bewegung vollbrachte noch mehr. Sie trug ihre Kämpfe in Paris aus und nicht in einem unterentwickelten Land, das unter imperialistischer Ausbeutung steht. In wenigen ruhmvollen Wochen ließen die Aktionen der Studenten und jungen Arbeiter den Mythos der gut organisierten, gut funktionierenden kapitalistischen Gesellschaft in sich zusammensinken, einer Gesellschaft, in der grundlegende Konflikte ausgeklammert waren und in der offiziell nur Randprobleme zur Lösung verblieben. Verwalter, die alles und jedes verwaltet hatten, erwiesen sich plötzlich als Leute, die von nichts eine Ahnung hatten. Planer, die alles und jedes geplant hatten, erwiesen sich plötzlich als unfähig, die Zustimmung der Leute, auf die ihre Pläne angewandt werden sollten, sicherzustellen.

Diese äußerst moderne Bewegung sollte wirklichen Revolutionären die Möglichkeit geben, eine Reihe der ideologischen Hindernisse abzulegen, die in der Vergangenheit die revolutionäre Aktivität gehemmt haben. Es war nicht der Hunger, der die Studenten zur Revolte trieb. Es gab auch nicht einmal eine 'ökonomische Krise' im weitesten Sinne des Wortes Die Revolution hatte nichts mit 'Unterkonsumtion' oder 'Überproduktion' zu tun. Die 'fallende Profitrate' war es nicht. Die studentische Bewegung hatte ihre Basis nicht in ökonomischen Forderungen. Im Gegenteil, die Bewegung fand ihre wahre Gestalt und ihre gewaltige Antwort erst dann, als sie über die ökonomischen Forderungen hinausging, mit denen die offizielle studentische Gewerkschaftspolitik so lange versucht hatte, die Studentenbewegung in bestimmten Schranken zu halten (Nebenbei gesagt: mit dem Segen aller politischen Parteien und der 'revolutionären' Gruppen der 'Linken'.). Andererseits war es genau die Beschränkung der Arbeiterkämpfe auf rein ökonomische Ziele, die es den Gewerkschaftsbürokraten so lange erfolgreich erlaubte, dem Regime zu Hilfe zu kommen.

Die gegenwärtige Bewegung hat gezeigt, daß der grundlegende Widerspruch des modernen bürokratischen Kapitalismus nicht in der 'Anarchie des Marktes' besteht. Er besteht nicht in dem "Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Eigentumsverhältnissen". Der grundlegende Konflikt, auf den sich alle anderen beziehen, ist der Widerspruch zwischen denen, die Anordnungen treffen, und denen, die diese Anordnungen befolgen müssen. Dieser unlösbare Widerspruch, der der modernen Kapitalistischen Gesellschaft die Därme ausreißt, ist es, der sie zwingt, die Menschen von der Regelung ihrer eigenen Handlungen auszuschließen, und der sie zur selben Zeit zwingt, um deren Teilnahme, ohne die alles zusammenbrechen würde, nachzusuchen. Diese beiden widersprüchlichen Tendenzen finden ihren Ausdruck einerseits in dem Versuch der Bürokraten, die Menschen in Objekte zu verwandeln (auf dem Wege der Gewalt, der Mystifikation, neuer Manipulationstechniken oder 'ökonomischer' Bonbons), und andererseits in der Weigerung der Menschen zu erlauben, daß man sie auf diese Weise behandelt. Die Ereignisse in Frankreich zeigen deutlich etwas, das alle Revolutionen gezeigt haben, was aber offenbar immer wieder neu erfahren werden muß. Es handelt sich nicht um den 'Aufbau einer revolutionären Perspektive', nicht um 'allmähliches Anwachsen der Widersprüche', nicht um 'eine progressive Entwicklung eines revolutionären Massenbewußtseins'. Worum es geht, sind die Widersprüche und Konflikte, die wir beschrieben haben, und die Tatsache, daß die moderne bürokratische Gesellschaft mehr oder weniger unvermeidlich periodische 'Krisen' produziert, die ihr Funktionieren unterbrechen. Beides ruft die Intervention seitens der Bevölkerung hervor und versieht die Leute mit Möglichkeiten, sich selbst zu behaupten und die gesellschaftliche Ordnung zu verändern. Das Funktionieren des bürokratischen Kapitalismus schafft die Bedingungen, unter denen revolutionäres Bewußtsein auftauchen könnte. Diese Bedingungen sind ein integraler Bestandteil der gesamten entfremdeten, hierarchischen, unterdrückerischen Gesellschaftsstruktur. Wann immer Leute den Kampf aufnehmen, sehen sie sich früher oder später gezwungen, die ganze Gesellschaftsstruktur in Frage zu stellen.

Es handelt sich hier um Ideen, denen sich viele von uns bei 'Solidarity' schon lange verbunden fühlten. Sie wurden ausführlich in einer Reihe Schriften von Paul Cardan entwickelt. In Le Monde vom 20. Mai 68 gibt E. Morin zu, daß das, was heute in Frankreich geschieht, eine "blendende Auferstehung sei: eine Auferstehung derjenigen libertären Richtung, die die Vereinigung mit dem Marxismus anstrebt, eine Formel, von der 'Socialisme ou Barbarie' wenige Jahre zuvor eine erste Synthese versucht hat. "Wie nach jeder Verwirklichung grundlegender Konzepte in der Feuerprobe wirklicher Ereignisse werden viele Leute beanspruchen, daß diese Konzepte schon immer ihre eigenen Ansichten gewesen seien. Das ist natürlich nicht wahr. Es geht jedoch nicht darum, in einer Art Copyright im Bereich der richtigen revolutionären Ideen etwas für sich zu beanspruchen. Wir begrüßen Leute, die sich ändern, aus welchem Grund und wie spät auch immer.

Wir können uns hier nicht in aller Breite mit dem, was in Frankreich heute ein wichtiges Problem ist, namentlich der Schaffung einer neuen Art einer revolutionären Bewegung auseinandersetzen. Die Dinge wären in der Tat anders verlaufen, wenn eine solche Bewegung schon existiert hätte, stark genug, um die bürokratischen Manöver zu überlisten, lebendig genug, um Tag für Tag die Doppelzüngigkeit 'linker' Führungsgruppen darzulegen, tief genug verwurzelt, um den Arbeitern die wirkliche Bedeutung des Kampfes der Studenten zu erklären, die Idee der autonomen Streikkomitees (die Gewerkschaftsmitglieder und nicht gewerkschaftlich Organisierte verbinden sollen), der Verwaltung der Produktion durch die Arbeiter und die der Arbeiterräte zu propagieren. Viele Dinge, die man hätte tun können, wurden nicht getan, weil es eine derartige Bewegung nicht gab. Die Art und Weise, wie der Kampf der Studenten entfesselt wurde, hätte eine äußerst wichtige Katalysatorrolle spielen können, ohne automatisch zu einer bürokratischen 'Führungscrew' zu werden. Aber solche Klogen sind nutzlos. Die Nichtexistenz einer solchen Bewegung ist kein Zufall. Wenn sie sich während der vorherigen Periode herausgebildet hätte, dann wäre es sicher nicht eine Bewegung von der Art gewesen, wie wir es gemeint haben. Selbst wenn man die 'besten' der kleinen Organisationen herausnimmt und deren Zahl um Hundert vervielfacht, hätte es den Erfordernissen der gegenwärtigen Situation nicht entsprochen. Wenn die Probe aufs Exempel anstand, dann leierten alle 'linken' Gruppen weiterhin bloß ihre alten Platten herunter. Was immer ihre Verdienste als Ablageplätze für die kalte Asche der Revolution sein mag - eine Aufgabe, die sie nunmehr seit mehreren Jahrzehnten übernommen haben -, sie zeigten sich unfähig, aus ihren alten Ideen und ihrer alten Routine auszubrechen, und unfähig, etwas zu lernen bzw. etwas hinter sich zu lassen.

Die neue revolutionäre Bewegung wird aus den neuen Gruppierungen (Studenten und Arbeiter) aufgebaut werden müssen, die die wahre Bedeutung der gegenwärtigen Ereignisse verstanden haben. Die Revolution muß in die große politische Lücke treten, die sich durch die Krise der alten Gesellschaft enthüllt hat. Sie muß eine Stimme, ein Gesicht, eine schriftliche Aussoge entwickeln - und sie muß dies bald tun.

Wir können verstehen, daß sich manche Studenten der Herausbildung einer solchen Organisation widersetzen. Sie fühlen, daß es hier einen Widerspruch zwischen Tat und Gedanke, zwischen Spontaneität und Organisation gibt. Ihre Zurückhaltung in diesem Punkt wird durch ihre ganze bisherige Erfahrung genährt. Sie haben gesehen, wie ein Gedanke zum sterilen Dogma werden kann, eine Organisation zur Bürokratie oder zum leblosen Ritual, wie Sprache zur Mystifikation, wie eine revolutionäre Idee zu einem rigiden stereotypen Programm werden kann. Durch ihre Aktionen, durch ihre Kühnheit, durch ihre Weigerung, längerfristige Ziele ins Auge zu fassen, sind sie aus dieser Zwangsjacke ausgebrochen. Aber das ist nicht genug.

Vielmehr haben viele von diesen Studenten die traditionellen 'linken' Gruppen auf die Probe gestellt. In allen grundlegenden Aspekten bleiben diese Gruppen in den ideologischen und organisatorischen Grenzen des bürokratischen Kapitalismus gefangen. Sie haben Programme, die einmal und dann für immer aufgestellt sind, Führer, die fix und fertige Reden von sich geben, was auch immer sich in der Realität rings herum wandeln mag, organisatorische Formen, die ein Spiegelbild der Formen der bestehenden Gesellschaft abgeben. Solche Gruppen reproduzieren in ihren eigenen Reihen die Trennung zwischen Ausführenden und Anordnenden, zwischen denen, die Bescheid wissen, und denen die nicht, also die Trennung zwischen scholastischer Pseudotheorie und wirklichem Leben. Sie wollen diese Trennung sogar noch der Arbeiterklasse insgesamt auferlegen, die sie und das betrifft alle Organisationen - führen wollen, weil - und das sagt man mir immer wieder - "die Arbeiter nur imstande seien, ein trade-unionistisches Bewußtsein zu entwickeln."

Aber die oben genannten Studenten liegen dennoch falsch. Man läßt die bürokratischen Organisationen nicht hinter sich, indem man jede Organisation ablehnt. Man fordert die sterile Rigidität fix und fertiger Programme nicht heraus, indem man sich weigert, sich selbst hinsichtlich seiner Ziele und Methoden zu bestimmen. Man widerlegt ein totes Dogma nicht, indem man jede theoretische Reflexion verdammt. Die Studenten und die jungen Arbeiter können nicht einfach da stehen bleiben, wo sie jetzt sind. Diese aufgezeigten 'Widersprüche' zu bejahen als etwas Gültiges und etwas, über das man nicht hinausgehen könne, heißt, die Grundlage der bürokratischen kapitalistischen Ideologie zu akzeptieren. Es bedeutet die Anerkennung der vorherrschenden Philosophie und der vorherrschenden Wirklichkeit. Es heißt, die Revolution in eine etablierte historische Ordnung zu integrieren.

Wenn die Revolution nur eine ein paar Tage (oder Wochen) andauernde Explosion ist, dann kann die etablierte Ordnung - ob sie das weiß oder nicht - mit ihr fertig werden. Ja im tieferen Sinne - braucht die Klassengesellschaft vielmehr gerade solche Erschütterungen. Diese Art von 'Revolution' erlaubt der Klassengesellschaft zu überleben, indem sie sie zwingt, sich zu verwandeln und sich anzupassen. Erschütterungen, die die imaginäre Welt, in der entfremdete Gesellschaften tendenziell leben, zerbrechen und sie für einen Moment auf die Erde zurückbringen, diese Erschütterungen helfen den Gesellschaften, veraltete Herrschaftsmethoden aufzugeben und neue, flexiblere zu entwickeln.

Tat oder Gedanke? Für revolutionäre Sozialisten besteht nicht das Problem, eine Synthese aus diesen beiden von den revolutionären Studenten in Besitz genommenen Begriffen herzustellen. Es geht darum, den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem solche falschen Alternativen entstehen, zu zerstören.