Maurice Brinton
MAI 68
Die Subversion der Beleidigten

MaD Flugschrift


13. MAI VON RENAULT ZU DEN STRAßEN VON PARIS

Montag 13. Mai.

6 Uhr 15 morgens, Avenue Yves Kermen. Ein klarer, wolkenloser Tag. Menschengruppen versammeln sich vor den Toren des großen Renaultwerkes in Boulogne Billancourt. Die 'Zentralen' der großen Gewerkschaften (CGT, CFDT, FO) haben zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen. Sie wollen gegen die Polizeibrutalität im Quartier Latin protestieren und für so lange vernachlässigte Forderungen demonstrieren wie z.B. Löhne, Arbeitszeit, Pensionsalter und gewerkschaftliche Rechte im Betrieb.

Die Fabriktore sind weit offen. Kein Polizist oder Aufseher in Sicht. Die Arbeiter strömen herein. Über Lautsprecher werden sie aufgerufen, sich zu ihrem jeweiligen Arbeitsplatz zu begeben, sich aber zu weigern, mit der Arbeit zu beginnen, und sich um 8 Uhr vormittags an ihrem traditionellen Versammlungsort, einem riesigen schuppenartigen Bau in der Mitte der Insel Seguin (einer Seine-lnsel, die vollständig mit Anlagen der Renault-Werke bebaut ist) zu treffen.

Jedem Arbeiter wird beim Eintritt ein von den drei Gewerkschaften gemeinsam verfaßtes Flugblatt gegeben. Es werden auch Flugblätter in Spanisch verteilt (über 2.000 spanische Arbeiter sind bei Renault beschäftigt). Französische und spanische Redner lösen einander mit kurzen Aufrufen über ein Mikrophon ab. Obwohl alle Gewerkschaften den Streik unterstützen, scheinen die Redner alle der CGT anzugehören. Es handelt sich um deren Lautsprecher …

6.45 Uhr. Hunderte von Arbeitern strömen jetzt herein. Viele sehen so aus, als seien sie zur Arbeit gekommen und nicht um an den Massenversammlungen in der Fabrik teilzunehmen. Die Entscheidung, den Streik auszurufen, war erst am Samstagabend getroffen worden, als viele der Leute sich zum Wochenende schon in alle Richtungen zerstreut hatten. Viele scheinen nicht zu ahnen, worum es bei dem ganzen überhaupt geht. Ich bin über die Anzahl algerischer und schwarzer Arbeiter überrascht.

Am Tor hängen nur ein paar Plakate, wiederum überwiegend von der CGT. Einige Streikposten tragen Plakate der CFDT. Von der FO ist überhaupt kein Plakat zu sehen. Die Straße und die Wände außerhalb der Fabrik sind voll von Parolen: "Montag eintägiger Streik"; "Einheit bei der Verteidigung unserer Ziele"; "Nein zu den Monopolen".

Das kleine Café in der Nähe der Fabriktore ist überfüllt. Die Menschen hier sind ungewöhnlich hellwach und gesprächsbereit zu solch einer frühen Stunde. Ein Zeitungsstand verkauft ungefähr dreimal soviel Exemplare der Humanité wie von jeder anderen Zeitung. Die Ortsgruppe der Kommunistischen Partei läßt ein Flugblatt verteilen, das zu "Entschlossenheit, Ruhe, Wachsamkeit und Einheit" aufruft sowie vor "Provokateuren" warnt.

Die Streikposten versuchen gar nicht, mit denen, die hereinströmen, zu diskutieren. Niemand scheint zu wissen, ob sie den Streikaufruf befolgen werden oder nicht. Weniger als 25% der Renault-Arbeiter sind überhaupt in irgendeiner der genannten Gewerkschaften organisiert. Und das ist die größte Automobilfabrik in Europa. Der Lautsprecher hämmert seine Parolen heraus: "Die CRS hat gerade Bauern in Quimper, Arbeiter in Caen, Rhodiaceta (Lyon) und Daßault angegriffen. Jetzt wollen sie sich den Studenten zuwenden. Das Regime wird keine Opposition dulden. Es wird das Land nicht modernisieren. Es wird uns unsere grundlegenden Lohnforderungen nicht erfüllen. Unser eintägiger Streik wird sowohl der Regierung als auch den Unternehmern unsere Entschlossenheit zeigen. Wir müssen sie zum Nachgeben zwingen." Die Parolen werden immer wieder wiederholt, wie eine Schallplatte. Ich frage mich, ob der Sprecher an das glaubt, was er sagt, und ob er überhaupt merkt, worum es hier geht.

Gegen 7 Uhr taucht ein Dutzend Trotzkisten von der Fédération des Etudiants Révolutionaires (FER) auf, um ihre Zeitung 'Revoltes' zu verkaufen. Sie tragen große rot-weiße Plaketten, die ihre Identität erklären. Ein wenig später trifft eine andere Gruppe ein, um die Zeitung 'Voix Ouvrière' zu verkaufen. Der Lautsprecher verlegt sich plötzlich von einer Attacke auf die gaullistische Regierung und ihre CRS auf eine Attacke gegen 'Provokateure', "unruhestiftende Elemente von außerhalb der Arbeiterklasse". Der stalinistische Sprecher merkt an, daß die Zeitungsverkäufer im Sold der Regierung stünden. Da sie hier seien, müsse "die Polizei auch in der Nähe auf der Lauer liegen." Es brechen hitzige Wortgefechte zwischen den Zeitungsverkäufern und den CGT-Funktionären aus. Den CFDT-Streikposten wird die Benutzung des Lautsprechers verweigert. Sie rufen "Arbeiterdemokratie" und verteidigen das Recht der "unruhestiftenden Elemente", ihr Zeugs zu verkaufen. Ein ziemlich abstraktes Recht angesichts der Tatsache, daß kein einziges Stück Papier verkauft wird. Die Titelseite der 'Revoltes' ziert ein esoterischer Artikel über Osteuropa.

Es werden viele Beschimpfungen (aber immerhin keine Schläge) ausgetauscht. Im Verlaufe eines Streites höre ich Bro. Trigon (Delegierter des zweiten Wahl'kollegiums' bei Renault) Danny Cohn-Bendit als einen "Agenten der Macht" bezeichnen. Ein Student unterbricht ihn an dieser Stelle. Die Trotzkisten tun nichts. Kurz vor 8 Uhr rücken sie ab, nachdem sie ihre "Anwesenheitsdemonstration" vollbracht haben und pünktlich für die Geschichte registrieren ließen.

Ungefähr zur selben Zeit verlassen Hunderte von Arbeitern, die in die Fabrik gekommen waren, ihre Arbeitsplätze und versammeln sich bei Sonnenschein auf freiem Feld einige Hundert Meter vom Haupttor entfernt. Von dort ziehen sie zur Seguin-Insel, wobei sie einen Arm der Seine überqueren müssen. Weitere Züge setzen sich von anderen Punkten im Fabrikgelände in Bewegung und ziehen zum selben Ort. Das metallene Dach des Versammlungsraumes ist ungefähr sechzig Meter über unseren Köpfen. Riesige Lager von Einzelteilen sind rechts und links aufgehäuft. Weit weg auf der rechten Seite arbeitet noch ein Fließband, das Dinge vom Erdgeschoß zum ersten Stock befördert, die wie Autorücksitze aussehen.

Ungefähr 10.000 Arbeiter haben sich schon im Schuppen versammelt. Die Redner begrüßen sie per Lautsprecher von einer nahen Galerie aus, die ungefähr zehn Meter hoch ist. Die Galerie zieht sich vor so etwas wie einem erhöhten Beobachtungsposten entlang; wie man mir sagte, handelt es sich bei letzterem jedoch um ein Gewerkschaftsbüro innerhalb der Fabrik.

Der CGT-Sprecher befaßt sich mit den sektoral verschiedenen Lohnforderungen. Er denunziert den Widerstand der Regierung, die sich "voll in der Hand der Monopole" befinde. Er nennt Tatsachen und Zahlen bezüglich der Lohnstruktur. Viele hochqualifizierte Leute bekämen nicht genug. Nach der CGT spricht ein CFDT-Redner. Er beschäftigt sich mit der ständigen Arbeitstempobeschleunigung, mit der Verschlimmerung der Arbeitsbedingungen, mit Arbeitsunfällen und mit dem Schicksal des Menschen im Produktionsprozeß. "Was ist das für ein Leben? Müssen wir auf ewig Marionetten bleiben, die jede Grille des Managements ausführen?" Er fordert einheitliche Lohnsteigerungen für alle (nicht-hierarchische Lohnsteigerungen). Es folgt ein FO-Sprecher. Er zeigt sich als der technisch gewandteste, aber er sagt das Wenigste. In blumiger Rhetorik spricht er von 1936, unterläßt aber jeden Hinweis auf Leon Blum. Die Aufnahme, die die FO in der Fabrik findet, ist schlecht und der Redner wird zeitweise während seines Beitrags durch Fragen unterbrochen.

Die CGT-Redner fordern dann die Arbeiter auf, massenhaft an der großen Veranstaltung teilzunehmen, die für den Nachmittag geplant sei. Als der letzte Redner seinen Beitrag beendet hat, stimmt die Menge spontan und stürmisch die ' Internationale' an. Die älteren Männer scheinen fast jedes Wort im Text zu kennen. Die Jüngeren kennen nur den Refrain. Ein Freund in meiner Nähe versichert mir, dies sei das erste Mal seit zwanzig Jahren, daß er höre, wie auf dem Gelände von Renault die Internationale gesungen werde (er hat Dutzende von Massenversammlungen auf der Insel Seguin mitgemacht). Es liegt, besonders bei den jungen Arbeitern, eine gewisse Erregung in der Luft.

Die Menge bricht dann in mehreren kleinen Gruppen auf. Einige laufen über die Brücke zurück und verlassen das Fabrikgelände. Andere durchziehen systematisch die Arbeitsstätten, wo ein paar Hundert Leute noch arbeiten. Einige von ihnen versuchen das zu begründen, aber die meisten scheinen nur allzu froh zu sein, einen Grund zu haben, mit dem Arbeiten aufzuhören und sich dem Umzug anzuschließen. Ganze Abteilungen strömen hin und her, machen Scherze und singen. Diejenigen, die bei der Arbeit bleiben, werden zum Scherz gegrüßt, beklatscht und aufgefordert, schneller zu machen und härter zu arbeiten. Aufseher, die gerade da sind, sehen hilflos zu, wie ein Fließband nach dem anderen zum Stillstand gebracht wird.

Viele Drehbänke sind mit bunten Bildern überklebt: Fotos von Mädchen und von grünen Wiesen, Sex und Sonnenschein. Jeder, der jetzt noch arbeitet, wird aufgefordert, ans Tageslicht zu kommen und nicht nur davon zu träumen. In der Hauptanlage, die über 800 Meter lang ist, bleiben kaum zwölf Männer in ihrer Arbeitskleidung. Keine böse Stimme läßt sich vernehmen. Es werden viele gute und humorvolle Scherze gemacht. Gegen 11 Uhr sind Tausende von Arbeitern in die Wärme eines Maivormittags hinausgeströmt. Ein Bier- und Sandwichstand unter freiem Himmel macht einen enormen Umsatz.