Aus: Extra-Dienst v. 9.November 1968

BASISGRUPPE NEUKÖLLN

ELEMENTE MÖGLICHER
BETRIEBS-STRATEGIE


Der Sozialistische Club im Westberliner Bezirk Neukölln, der sich als Basisgruppe der APO versteht, stellte uns eine Ausarbeitung für die Basisgruppen-Diskussion zur Verfügung, die wir im folgenden im Wortlaut abdrucken. Die Neuköllner Basisgruppe hat, nach eigenen Angaben, inzwischen 82 Mitglieder (davon 31,6 % Arbeiter, 20,4 % Angestellte, 16,8% Schüler, 14,4% Studenten, 9,6% Lehrlinge und 7,2% Beamte. Das Durchschnittsalter der Gruppe liegt bei 24 Jahren, heißt es in einer Selbstdarstellung. Drei Arbeitskreise beschäftigen sich mit dem Mieterproblem, mit Betriebsarbeit und politischer Theorie. Der Arbeitskreis Betriebe erklärt, daß die Selbstschulung im wesentlichen abgeschlossen sei und daß man sich jetzt in einer Strategiediskussion befinde. - Zu dieser Strategiediskussion gehört das folgende Papier, das davon ausgeht, daß in denBetrieben bereits sozialistische Gruppen bestehen; das Papier behandelt eine mögliche Politik dieser Gruppen im Betrieb, nicht aber ihre Bildung und ihren Aufbau.

"Die Leitvorstellung der Arbeiter-Selbstbestimmung hat ungeachtet ihrer theoretischen Ableitung das strategische Ziel, die reformistisch-ideologische und bürokratische Integration der Arbeiter durch die Gewerkschaften zu bekämpfen und damit der Mitbestimmungsparole des DGB-Apparats die bisher allerdings formelhafte Verkürzung eigener, sozialistischer Position entgegenzusetzen. Die Unvermitteltheit der Forderung nach Arbeiterselbstbestimmung mit dem empirischen Bewußtsein und der Praxis im Betrieb hat bisher eine stringente sozialistische Konzeption in den Betrieben erschwert, wenn nicht sogar wegen des puren Dualismus von eigenen Zielvorstellungen und der Misere in den Betrieben tendenziell zu einer voluntaristischen Praxis geführt. Es kann uns schließlich nicht darum gehen, die Interessenvertretung der Arbeiter im Rahmen der bestehenden Betriebsverfassung zu untersuchen und so die Position integrierender linker Gewerkschafter einzunehmen, sondern es muß unsere Aufgabe sein, die bestehende Betriebsverfassung als lnstrument der Klasseninteressen des Kapitals bloßzustellen. Dies schließt nicht nur aus, sondern es hat zur Voraussetzung, daß wir uns in den Betrieben, ausgehend von dem empirischen Bewußtsein der klassenbewußteren Arbeiter, eine "Vertrauensposition" erkämpfen, die in geeigneten Konflikten als Hebel zur Veränderung des praktischen Verhaltens der Arbeiter eingesetzt werden kann, wobei die Position dieseAufgabe nur erfüllen kann, wenn sie sich schon vorher im Bewußtsein der klassenbewußteren Arbeiter als konsequente Interessenvertretung der Arbeiter darstellt. Voraussetzung solcherPraxis ist eine im Bewußtsein relativ homogene Betriebszelle, die ihre Arbeit auf mehreren Ebenen zu leisten hätte. Je nach der Struktur des Betriebes hätte sie die formelle Organisation des ßetriebes durch informelle Gruppenbildung zu unterlaufen, hätte vorhandene kollektive Arbeitsbedingungen iiber das Stadium herrschaftssoziologischer Ar¦umentation hirZaus klassentheoretisch zu begründen und kollektives Handeln zu stimulieren (Widerstandshandlungen bis hin zum "wilden" Streik).

Die Zelle hätte weiter die Aufgabe, in bestehende, tendenziell linke informelle Gruppen einzudringen und durch Ausnutzung von Vertrauensleutepositionen eine legalisierte Kommunikation zu tendenziell linken Arbeítern aufzunehmen, um Klassenpositionen einzunehmen und die Arbeitsbedingungen der sozialistischen Zelle zu verbessern. Die Zelle hätte schließlich die Aufgabe, Betriebsratsmitglieder zu stellen, um eine größere Inform¦ation über sich anbahnende betriebliche Konflikte zu haben, die die Zelle dann agitatorisch verwenden könnte; ferner, um Informationen über die den Interessen der Arbeiter zuwiderlaufende Praxis der Gewerkschaftler und SPD-Leute zu bekommen und schließlich bei einem geeigneten Konflikt durch Rücktritt ¦ron den Positionen den Arbeitern die sinnliche Erfahrung zu vermitteln, daß es unmöglich ist, die Arbeiterinteressen konsequent im Betriebsrat zu vertreten. Der Rücktritt von Positionen kann eine das Bewußtsein und die klassenkämpferische Praxis der Arbeiter stimulierende Bedeutung haben, wenn schon vorher durch die Arbeit der Zelle eine größere sozialistische Gruppierung im Betrieb entstanden ist, die in der Lage wäre, mögliche Protestmaßnahmen inhaltlich abzuklären und organisatorisch zu tragen.

Diese Konzeption hat in Bezug auf die reale Situation in den Betrieben zwei Implikationen.Sie benutzt - allerdings subversiv - legalisierte reformistische und auf Integration angelegte Institutionen (Betriebsrat, Vertrauensleute), und sie muß bei dem empirischen Bewußtsein der klassenbewußteren Arbeiter ansetzen.

Gerade die meisten klassenbewußteren Arbeiter (mit Ausnahme der etwa 2% betragenden marxistischen Arbeiter, siehe Popitz usw. sowie Kehrer) sind an der Gewerkschaft orientiert, wobei allerdings, selbst unter Gewerkschaftsmitgliedern (siehe Jantke, Zeche) im beträchtlichen Umfang Kritik an der Integration von Gewerkschaft und Betriebsrat in das bestehende Herrschaftssystem geübt wird (siehe Popitz, Friedeburg, Betriebsklima; Jantke, Symanowski, Vilmar usw). Diese Kritik wird auch von Arbeitern aufgenommen, die nicht in der Gewerkschaft organisiert sind, die aber dennoch ein dichotomisches Bewußtsein haben, d. h. ein Bewußtsein von einem oben und unten in der Gesellschaft. Da sich die Resignation der Arbeiter (nach Popitz und Institut für empirische Sozialforschung vor allem von ihrer Position am Arbeitsplatz, auch vom , Versagen, der SPD und des DGB, ableiten läßt, wäre gerade in der konsequenten Interessenvertretung der Arbeiter im Betrieb das Mittel zu sehen, das weitgehend dichotomische Bewußtsein der Arbeiter zu einem nicht-resignativen Klassenbewußtsein zu verändern. Indem aber gerade die Mitbestimmungsforderungen des DGB tendenziell gegen die Selbstorganisation der Arbeiter im Betrieb und d.h. gegen Klassenkampfpositionen gerichtet ist, andererseits den Gewerkschaftsapparat, d. h. bestehende Herrschaftsstrukturen, verfestigen soll, ergeben sich für uns von beiden Seiten Angriffsmöglichkeiten gegen die DGB-Forderungen, die bereits im empirischen Bewußtsein der Arbeiter angelegt sind.

Unsere eigenen Vorstellungen zur organisatorischen Form der proletarischen Interessenvertretung in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage muß an das Bewußtsein unserer Zielgruppe im Betrieb anschließen, jedoch deren Elemente so weit ausbauen, daß unsere Forderungen vom kapitalistischen System nicht integriert werden, zum anderen aber mit dem Ziel der Arbeiterselbstbestimmung vermittelt werden können. Ausgehend von der Austragung der Klassenkonflikte am Arbeitsplatz müßte gegen die Mitbestimmungsforderung des DGB die organisatorische Legalisierung der Gegenmacht der Arbeiter im Betrieb gefordert werden. Dies würde nicht nur die Aufhebung der Vertraulichkeitspflicht, sondern vor allem die Aufhebung der Friedenspflicht des Betriebsrats bedeuten. Es darf nicht unsere Aufgabe sein, einen quasi Gegengesetzentwurf zu konzipieren, wohl aber Kritik der Arbeiter an den bestehenden Organisationen aufzunehmen, sie auf ein Klassenbewußtsein zu zentrieren, diese Forderungen zugleich aus der eigenen Praxis abzuleiten und ihnen so einen folgerichtigen Charakter zu geben. Weil der Gewerkschaftsapparat sehr stark gegen unsere Forderungen auftreten wird, zerstört er zugleich etwaige Illusionen, die Einzelne noch an ihn geknüpft haben.

Die Forderung nach organisierter Gegenmacht im Betrieb unterscheidet sich fundamental von dem Coventry-Experiment. Es kann uns nicht darum gehen, Ausbeutungsfunktionen des Kapitals selbst zu übernehmen, sondern es müßte unsere Aufgabe sein, wenn schon die Möglichkeitder Veränderung der Betriebsverfassung möglich sein sollte, die organisatorische Absicherung einer Gegenmacht der Arbeiter zu propagieren."