aus: Die Neue Linke, Theorie - Utopie -Praxis, Bern (Schweiz) 1969, S.126ff, eine Aufsatzsammlung von "bürgerlichen" Autoren in der Reihe "Tatsachen und Meinungen" des Verlag SOI Bern

L. Craici
Die Neue Linke in Italien


Ganz am Anfang muß zuerst einmal darauf hingewiesen werden, daß man in Italien weder von einer Neuen Linken als einer organisierten Bewegung, die institutionell durchstrukturiert wäre, sprechen kann, noch von einer homogenen Bewegung mit einer definierten und klaren ideologischen Position. 

Die italienische Neue Linke spricht wenigstens im Moment noch ein Babel von Sprachen, hat viele Strömungen und Programme, in denen die verschiedensten Menschen und Frustrationen zusammenfinden. Sie reflektiert insofern die momentane Situation in Westeuropa.

Nicht weniger klar soll indessen gesagt werden, daß diese konservative Darstellung des Problems nicht beabsichtigt, die Auffassung zu stärken, daß der Neuen Linken alle Chancen und Möglichkeiten für eine organischere Artikulation fehlen, denn es wäre ein Fehler, ihre potentielle Kraft und zukünftige Entwicklung zu unterschätzen.

Die momentane Stärke der Neuen Linken ist nicht sehr groß, aber einige Ereignisse zwischen Ende 1967 und Anfang 1968 haben deren Fähigkeit zur Ausnützung von Unruhen bereits deutlich gezeigt. Für die Zukunft besteht durchaus die Möglichkeit, daß die Neue Linke zum Forum des Protestes für weite Teile der öffentlichen Meinung, besonders aber der jungen Generation wird. Ein Blick auf die gegenwärtige Verfassung der politischen Parteien Italiens verdeutlicht diese Auffassung, denn deren innere Situation, politische Position und Schlüsselfiguren sind da stehen geblieben, wo sie unmittelbar nach dem Krieg begonnen haben. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich um eine Szene, auf der sich nichts ereignet, kein Wechsel, der positiv jenen antworten würde, die inzwischen zum Frontalangriff auf Gesellschaft und Staat übergegangen sind.

Diese Tatsache wird noch besser verständlich, wenn auf die Situation der einzelnen Parteien eingegangen wird. Nach dem Tode von Palmiro Togliatti wurde Luigi Longo als Vertreter der älteren Generation Führer der Kommunistischen Partei. Die ihr nahestehenden Intellektuellen sind noch immer durchwegs Nachfolger Togliattis. Die Sozialistische Partei zählt auf ihre zwei Führer, Pietro Nenni und Giuseppe Saragat, die ebenfalls noch der alten Parteiführung zuzurechnen sind. Andere wichtige Mitglieder der Sozialistischen Partei mit ihren heute überholten Auffassungen sind die Ko-Sekretäre der Vereinigten Sozialistischen Partei, De Martino und Tanassi, und auch sogar der linksgerichtete Sozialist Lombardi. Die Christlich-Demokraten pflegen immer noch das Erbe von De Gasperi, obwohl einige Vertreter der mittleren Generation wie Rumor, Moro, Colombo und Fanfani ins Rampenlicht getreten sind. Daneben gibt es aber immer noch eine starke und autoritäre Gruppe von Freunden De Gasperis, zu denen Scelba, Piccioni, Gonella und Gava gehören. Der Liberalen Partei, die mit Gaetano Martino ihren langjährigen Führer verloren hat, bleibt nichts anderes übrig, als sich dem persönlichen Kurs Giovanni Malagodis anzuschließen. Die extreme Rechte,

MSI und Royalisten, verliert immer mehr an Boden und hat bis ;jetzt keine Parteiführer außer Arturo Michelini und Alfredo Covelli hervorgebracht, die beide noch der Kriegsgeneration angehören. Die Republikanische Partei hat als einzige eine gewisse Erneuerung durchgemacht, aber mehr dank ihres gegenwärtigen Führers denn auf Grund einer neuen politischen Orientierung.

Die Sozialistischze Partei der Proletarischen Einheit wird im großen ganzen durch Leute geführt, die dem politischen Establishment angehören, das sich noch aus den Überresten des Faschismus konstituiert hat (Vecchietti, Valori, Foa, Basso). In der Tat haben die politischen Parteien Italiens in den vergangenen Jahren weder neue Ideen entwickelt, noch neue Leute hervorgebracht. Im Gegenteil, denn mit den ökonomischen und administrativen Fortschritten des Landes sind auch neue Generationen nachgerückt, die ihre Erwartungen aber in den traditionellen Parteien nicht mehr erfüllen können. Der springende Punkt ist der, daß die "Old-timers" dem antiquierten Glauben verhaftet sind, die junge Generation würde sowieso alles zurückweisen oder auf alle Fälle nichts verstehen können. So wie die Eltern nicht die gleiche Sprache sprechen wie die Jüngern, so machen die Parteien auch keine wirklichen Anstrengungen, um sich neu zu orientieren und überholte "Mythen" aufzugeben. Doch es ist noch mehr zu tun als nur das. Die junge Generation hat die Überzeugung gewonnen - und wirklich nicht immer zu Unrecht -, daß die ältere Generation sehr viele Fehler gemacht hat. In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Erklärung eines Mannes zu lesen, der wie Cesare Merzagora als früherer Präsident des Senates zum politischen Establishment gehört. Im "Corriere della Sera" vom 23. April 1968 schreibt er: "Unsere Generation hat sich selber - weit davon entfernt, der neuen ein Erbe von ausgesprochn moralischer Integrität zu hinterlassen - in eine Serie von kandalen, Generationskonflikten verwickelt über das, was legitim ist und was nicht. Verbunden damit ist ein Skeptizismus, das Fehlen von Vertrauen, weil die Prosperität, deren sich das Land teilweise erfreut, weder eine Beruhigung gebracht hat noch ein Heilmittel gewesen ist, sondern in Wirklichkeit lediglich ein bequemes Ruhekissen für die Erwachsenen."

Die Neue Linke hat sich in dieser besondern Situation entwickelt. Betrachtet man von daher ihre Zukunft, so müssen drei Momente berücksichtigt werden: der Vertrauensverlust in die traditionellen Parteien, der Mißerfolg des moralischen Rigorismus in allen Bereichen der Gesellschaft, der Frustrationsgrad der öffentlichen Meinung, besonders der jüngern Generation, die fühlt, daß sie außerhalb des "Managements der ,res Publica' steht " .

Alle diese Momente sind Ursachen für die Opposition der Neuen Linken, die bis jetzt in gewaltfreien Formen des Protestes zum Ausdruck kam, die aber unter den entsprechenden Umständen sehr wohl in ernsthafte Vorfälle umschlagen kann. Eine Tatsache ist jedenfalls unbestreitbar: In den letzten Jahren ist die Diskrepanz zwischen dem Pays légal und dem Pays réel, zwischen der Verfestigung des herrschenden Systems und der tatsächlichen sozio-ökonomischen Situation, in Italien sehr viel größer geworden. Daraus resultiert aber die Gefahr, daß eine außerparlamentarische Kraft mit Erfolg zum Anziehungszentrum für alle abweichenden Meinungen werden könnte. Abgesehen von den eventuellen Auswirkungen dieser Möglichkeit auf die Rechte, müssen ernsthafte Überlegungen über die Konsequenzen auf der Linken angestellt werden, wenn eine organisierte Bewegung entsteht, deren Programm sich gegen das parlamentarische Regierungssystem richtet und das ganze System mitsamt den traditionell Linksgerichteten total ablehnen würde. Natürlich wird das nicht gleich jetzt der Fall sein, aber ignorieren darf man eine solche Möglichkeit trotzdem nicht. Neue Kräfte, wiewohl weitgestreut für den Moment, melden sich in der italienischen Gesellschaft und können eine politische Richtung annehmen, die genau der Neuen Linken entgegenarbeitet. Kurzum, ein Protest entwickelt sich auf der Ebene von Parteien, Gewerkschaften, Schulen und des ganzen Systems. Etwas sollte dabei aufmerksam beobachtet werden, da manche Symptome zu einer graduellen Expansion tendieren. Z. B. hat es einzelne Gruppen von Arbeitern gegeben, die sich über ihre Gewerkschaft hinweggesetzt haben, von Jugendorganisationen, die ihre Kritik in die Parteien selber tragen und von Studenten, die ihren Protest nicht nur gegen die Autorität der Professoren, sondern gegen die Gesellschaft , "in toto" in ihrer jetzigen Verfassung richten. Genau in einer solchen Situation wird aber die Neue Linke die ihr entsprechende Basis finden und nicht melar länger im Hintergrund bleiben, sondern zum Sammelpunkt für die verschiedenen Protestbewegungen werden.

Es ist nicht leicht, die italienische Neue Linke in ihrem gegenwärtig schwer faßbaren Zustand zu beschreiben. So wie die Dinge heute liegen, setzt sie sich aus zahlreichen kleinen Gruppierungen zusammen, die sich hauptsächlich aus den Linksorientierten der beiden großen italienischen Parteien, den Kommunisten und den Christlich-Demokraten, rekrutieren. Sie sind durch Leute zusammengeführt worden, die ihre abweichende politische Auffassung innerhalb dieser Parteien gewonnen oder einfach entsprechende negative persönliche Erfahrungen gemacht haben.

In einer vorläufigen synoptischen Darstellung der Neuen Linken können vier Basistrends unterschieden werden : die Maoisten oder die "Chinesen", wie sie die Italiener nennen, die Castristen, die Anarchisten und die Linkskatholiken. Die ideologischen Unterschiede zwischen diesen Gruppen sind zur Zeit noch sehr unklar.

Momentan mag die Abweichung der Katholiken noch etwas durch marxistische oder castristische Theorien bedingt sein oder die extremistischen Grundsätze des Maoismus können sich bis zum Anarchismus steigern. Generell äußert sie sich aber im Falle der jungen Generation noch sehr unklar und basiert eher auf unvollkommen angeeigneten und fehlerhaften Theorien.

Die heute am besten organisierte Gruppe der Maoisten beruft sich direkt auf die kommunistische Lehre. Diese waren die ersten, die eine institutionalisierte Struktur zu schaffen versuchten für ihre Bewegung und die in der Öffentlichkeit sensationelles Aufsehen erregten. Zum ersten Mal traten die maoistischen Dissidenten in der Kommunistischen Partei um 1962/1963 in Erscheinung, als die Kontroverse zwischen Moskau und Peking ihren Höhepunkt erreichte. Zu Beginn war der Protest eine Angelegenheit von Einzelnen oder kleinen Gruppen, die mit der offiziellen Politik der Kommunistischen Partei nicht übereinstimmten. Inhaltlich bestand die Abweichung aus anti-revisionistischen Forderungen und Anklagen an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, sie habe die marxistisch-leninistische Theorie verraten. Was bei ihnen als Kritik im kulturellen und literarischen Bereich begonnen hatte, entwickelte sich aber immer mehr in politischer Richtung zur Erarbeitung einer eigenen politischen und ideologischen Position.

Um 1962 versammelten sich die ersten maoistischen Gruppen in einigen größern italienischen Städten von denen die wichtigsten Padua, Mailand und Pisa waren. Anfangs hatten sie keine Mitglieder mit einem Sonderstatus, aber allmählich erschienen ihre ersten Exekutiven auf der politischen Szene. In Padua waren es Ugo Duse und Vincenzo Calò in Mailand Giuseppe und Maria Regis, in Pisa Fosco Dinucci, alles frühere Mitglieder oder sogar Funktionäre der Kommunistischen Partei.

Diese Gruppen hatten ihr eigenes Organ, die "Nuova Unitá", deren Artikel den kommunistischen antisowjetischen Protest par excellence repräsentieren. Die ganze Tonart war revolutionär, voller Protest und erweist dem Ersten Sowjet und der Oktoberrevolution ihre besondere Referenz. Doch gab es auch innerhalb dieses ersten publizistischen Versuchs Meinungsverschiedenheiten, so daß die "Nuova Unitá" für einige Zeit ihr Erscheinen einstellen mußte. Inzwischen hatte aber die Padua-Gruppe unter Duse und Calò die "Liga dei Marxisti-Leninisti" und die Zeitschrift "Il Comunista" mit dem Hauptsitz in Mailand gegründet. Es ist höchst wahrscheinlich, daß diese neue Organisation aus dem Ausland unterstützt wird. So wurde gemunkelt, daß Kontakte mit Emissären aus Peking stattgefunden hätten, unter denen der Belgier Jacques Grippa war, der bekanntlich Mao Tse-tung selber getroffen hat. Die "Liga dei Marxisti-Leninisti" war tatsächlich sehr aktiv und konnte mit Erfolg Kontakte in ganz Italien anknüpfen.

In Rom wurde ein nationaler Kongreß abgehalten, der von Delegationen vieler Regionen, von der Lombardei bis Sizilien, besucht wurde. Die bekanntesten Namen auf diesem Treffen waren Aramis Guelfi aus Puglia, Dino Frangioni aus der Toscana, beides frühere Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Italiens, Fosco Dinucci aus Pisa, einer der ersten Opponenten gegen die PCI-Beschlüsse, und Vincenzo Misefari, ein Parlamentsmitglied aus Kalabrien.

Die Mitglieder der Mailänder Gruppe unter Giuseppe und Maria Regis sind auf dem Kongreß in Rom nicht in Erscheinung getreten, was symptomatisch war für die erste Spaltung der Maoisten. Giuseppe Regis wurde als einer der bestqualifizierten Sprecher des pro-chinesischen Trends in Italien betrachtet. Er besaß zweifellos ein organisatorisches Talent und wurde durch die gouvernementalen Kreise in Peking sehr geschätzt, wo er außerdem bei vielen Gelegenheiten und zwischen 1958 und 1960 als Funktionär der PCI für Handelsfragen weilte. Regis war auch Besitzer des Verlagshauses "Edizione Oriente" in Mailand, das eine große Zahl klassischer Werke der chinesischen revolutionären politischen Ideologie und einige Periodika wie "Vento dell' Est", "I Quaderni" und "Orientamenti" herausgab. Zudem war er einziger Direktor einer Übersee-Gesellschaft für den Export-Import mit Rotchina.

Die von Regis geführte Gruppe wurde zuerst von vielen lombardischen pro-chinesischen Bewegungen unterstützt; und so entstand später auch in Mailand die "Federazione dei Marxisti-Leninisti d'Italia", der sich u. a. auch die sizilianische Gruppe um "Il Proletario" anschloß.

Inzwischen hat sich eine sich "Italasia" nennende Gesellschaft in Rom konstituiert, offensichtlich mit der Unterstützung des chinesischen Handelskommissärs in Bern. Unmittelbar danach wurde das von der "Hsinua" (Neues China)-Agentur herausgegebene Bulletin regelmäßig von ihr verteilt. Das Management der Gesellschaft liegt bei Raffaele Bensasson, während dessen Bruder Silvano Herausgeber des Bulletins ist. Beide sind frühere Funktionäre der Kommunistischen Partei.

Im Oktober 1963 machte man den Versuch, die verschiedenen maoistischen Gruppen zusammenfassend zu konsolidieren. Am 15. Oktober wurde daher die "Partita Comunista Marxista-Leninista d'Italia" in Leghorn gegründet. Der Gründungsakt dazu fand am Ende des Treffens der Anhänger dieser neuen politischen Bewegung im Hotel Corsica statt. Vincenzo Misefari, ein kommunistisches Parlamentsmitglied, kündigte das Ereignis öffentlich mit folgender Erklärung an: "Wir alle haben die Notwendigkeit der Gründung dieser Partei erkannt, der einzig genuin linksgerichteten Partei auf der politischen Szene Italiens, die fähig ist, der kriminellen Gewalt der Kapitalisten Widerstand zu leisten.Wir haben die Fahne des Kommunismus gehißt, die die offizielle Kommunistische Partei heruntergelassen hat."

Die Exekutive der neuen Partei umfaßt außer Misefari Dino Frangioni, Fosco Dinucci, Osvaldo Pesce, Franco Geymonat und Arturo Balestri. Die Wahl von Leghorn als Geburtsstätte der neuen Partei war durch die Tatsache bestimmt, daß die erste kommunistische Partei Italiens ebenfalls in Leghorn, nämlich am 21. Januar 1921 durch Togliatti, gegründet wurde.

Die neue Partei verstärkte den Vertrieb der "Nuova Unitá", deren Erscheinen in der Zwischenzeit wieder fortgeführt wurde, und eröffnete zahlreiche Vertriebsstellen auf regionaler und provinzialer Ebene. Trotzdem erreichte sie nicht den Erfolg der "Federazione dei Marxisti-Leninisti d'Italia", die zuerst von Giuseppe Regis geführt wurde, sich später spaltete, um dann eine dritte maoistische Gruppe zu bilden, die aber ihre eigenen Aktivitäten verfolgt.

Die "Partita Comunista Marxista-Leninista d'Italia" gewann ebenfalls das Vertrauen und die Unterstützung Pekings und der Agentur "Neues China". Später trugen sich die Führer dieser neuen Partei auch in die Bücher des albanischen Diktators Enver Hodscha ein, der sie zu verschiedenen Gelegenheiten nach Tirana einlud. In der Folge waren sie auch in Peking eingeladen zur Feier des 18. Jahrestages der Chinesischen Volksrepublik, wurden von Mao Tse-tung empfangen und hatten Unterredungen mit Lin Piao, Tschou En-lai und andern chinesischen Parteiführern.

Die italienischen Maoisten haben ihre Anstrengungen ständig intensiviert, obwohl sich in der jetzigen Phase die Gefahr von Spaltungen erhöht hat. Auf alle Fälle bleibt die "Partita Comunista Marxista-Leninista d'Italia" die stärkste maoistische Gruppe, die die nötigen Mittel hat und organisatorisch daher entsprechend effektiv ist. Nach inoffiziellen Schätzungen umfaßt sie ungefähr 30.000 Mitglieder und mit ihr Sympathisierende in ganz Italien.

In jeder großen Stadt hat sie eine Abteilung. Die Gruppen zur Förderung der Freundschaft mit China und Albanien sind sehr aktiv. So reisen auch junge Leute gruppenweise und mehr und mehr für kurze Zeit nach Tirana und Peking. Diesen Sommer z. B. besuchten 30 oder mehr italienische Studenten revolutionäre Seminare in China und Albanien als auch in Kuba.

Die Bedeutung der maoistischen Kräfte in Italien kann nicht länger unterschätzt werden. Es steht außer Zweifel, daß sie manchen Straßenaktionen ein eskalierendes Moment gegeben haben. Die Unruhen in Genua anläßlich eines Generalstreiks vom 5. Oktober 1966 sind z. B. nachweisbar durch Maoisten gefördert worden. Der Tumult dauerte einige Stunden: Barrikaden wurden errichtet, im Stadtzentrum Geschäfte geplündert und der Polizei harte Schlachten geliefert. Kompetente Leute schätzen, daß nicht mehr als 200 bis 250 Personen für die Unruhen in Genua verantwortlich sind, die meistens im Alter zwischen 20 und 25 Jahren waren und alle Experten für Unruhestiftung. Es war das erste Mal, daß die Kommunistische Partei danach jegliche Verantworj tuna und alle Beziehungen zu den Demonstranten zurückwies. Sie erklärte offiziell, daß die Unruhen durch "verantwortungslose Individuen" initiiert worden seien, die "nichts mit der Arbeiterbewegung zu tun hätten."

Andere Unruhen, die auf das Konto der Maoisten gehen, waren jene in Cutro und Isola Caporizzuto und in der Gegend von Crotone in Kalabrien bei einer Bauernerhebung 1967. Auch in Kalabrien verfolgten die Maoisten die gleiche Taktik: Sie bahnten sich zuerst einen Weg in die von Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei organisierten Demonstrationen, um dann zur Gewaltanwendung überzugehen.

Dasselbe hat sich später anläßlich der Arbeiterstreiks in Turin, Valdagno und Mestro und bei den Studentendemonstrationen zwischen dem Oktober 1967 und dem Juni 1968 abgespielt. Im jetzigen Stadium machen die Maoisten überhaupt kein Geheimnis aus ihrer Rolle als Unruhestifter. So erklärte kürzlich Franco Geymonat, einer der Führer der "Partita Comunista Marxista-Leninista d'Italia" einem Reporter: "Unsere Partei ist die einzige, die Kontakte zu den Arbeitern und Bauern hat, was wir in den Arbeiterstreiks in Genua 1966 und der Bauernerhebung in der Gegend von Crotone in Kalabrien 1967 bewiesen haben. Dies hat uns eine gewisse Stellung innerhalb des internationalen Marxismus-Leninismus verschafft. Während der Wahlkampagne vom Mai 1968 kämpften wir für die leere Stimmabgabe mit dem Ziel, in der Wählerschaft einen psychologischen Bruch zu erzeugen. Wenn wir die Zeit als gekommen erachten, so werden wir auch eigene Kandidaten aufstellen."

Eine außergewöhnliche Tatsache ist, daß Geymonat selber - mit einer ebenso entschlossenen Haltung wie Moskau oder Peking - wenig Sympathien für die revolutionären Studenten übrig hat.

Zum gleichen Reporter sagte er nämlich: "Wir können diesen revolutionären und unkontrollierten Geist der Studenten nicht billigen, die sich nach dem bürgerlichen Philosophen und Reformer Marcuse und den Theorien Fidel Castros richten. Ein Guerilla-Krieg wie ihn Che Guevara verstand und praktizierte, ist weit davon entfernt, den Imperialismus wirklich zu bekämpfen, sondern begünstigt ihn vielmehr. Nur wenn ein Volkskrieg, wie ihn Mao lehrt - und wie er in Vietnam, Indochina und Thailand versucht worden ist -, weitergeführt wird, bestehen überhaupt reale Chancen. Die "Federation" (Geymonat verwies dabei auf die kleine Gruppe von Maoisten außerhalb seiner eigenen Partei, d. Verf.) und die Guevara-Leute haben keinen Kontakt zu den Massen. Sie haben sich selber als ideologische Elite etabliert und sind dazu bestimmt, so zu enden wie Guevara in Bolivien starb. Che Guevara war ein guter Kämpfer, niemand wird dies bezweifeln, aber er konnte nicht anders enden, denn er ignorierte die Anweisungen Maos. "

Die "Federation", auf die sich Geymonat hier bezieht, ist die "Federazione dei Marxisti-Leninisti d'Italia" mit ihrem Hauptsitz in Mailand, wo sie auch die Zeitschrift "Rivoluzione Proletaria" herausgibt. Diese dritte Gruppe von Maoisten (die zweite wird von Giuseppe und Maria Regis geführt, deren Organ die "Edizioni d'Oriente" sind, die u. a. auch "Vento dell'Est" herausgeben) ist heterogen. Ihre Mitglieder akzeptieren zwar die Lehre Mao Tsetungs, bleiben aber kritisch und drücken ihr Mißfallen darüber aus, daß Mao eine Tendenz zum Personenkult hat. Darüber hinaus bewahren sie sich ihre Sympathie für Fidel Castro und seine Bewegung, die sie als "dritten Weg" des proletarischen Kampfes betrachten. Che Guevara ist einer ihrer "Mythen". Es scheint, daß diese dritte maoistische Gruppe auch eine bestimmende Rolle in der Besetzung der Universitäten und der nachfolgenden Unruhen gespielt hat.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß es im "italienischen Maoismus" drei Schwerpunkte gibt: die "Partita Comunista Marxista-Leninista d'Italia", die "Federazione dei Marxisti-Leninisti d'Italia" und die "Edizione d'Oriente". Ihre Organe in derselben Reihenfolge sind: "Nuovo Unitá", "Rivoluzione Proletaria" und "Vento dell'Est".

Es gibt aber auch kleinere Bewegungen, die unabhängig agieren, obwohl sie ideologisch und taktisch den andern Gruppen nahestehen. Sie bezeichnen sich selber als Trotzkisten, Anhänger von Guevara, Castristen oder Anarchisten und haben zum Teil nur eine rein ideologische Existenz. Sie teilen mit den Maoisten die Ablehnung Moskaus, das sie als "integriert in das System" betrachten. Fast alle diese kleinen Bewegungen sind im Zusammenhang mit den Studentendemonstrationen entstanden. Daher kann auch gesagt werden, daß die Universitäten die Basis für ihre Entwicklung und ihr Wachstum abgegeben haben, zu dem sie andernfalls nie gekommen wären. Es fällt schwer zu bestimmen, wie viele Studenten wirklich überzeugt sind, einer bestimmten revolutionären Richtung anzugehören; tatsächlich betrachten sich aber viele als beeinflußt und stehen Schulter an Schulter während der Demonstrationen und der Eskalation in Richtung auf den "weltweiten Protest". Klar ist außerdem, das die Anführer der Universitäts"revolution" kleine, stark politisierte Gruppen sind, ein Umstand, der für alle Revolutionen zutrifft.

Es ist unmöglich, eine vollständige Aufzählung der italienischen revolutionären Gruppen schon jetzt zu geben, denn einige existieren nicht länger als ein Semester, andere gehen Verbindungen ein und wiederum andere sind vorzeitig verschwunden oder haben sich gespalten. Alle diese Bewegungen haben ihre eigenen Zeitungen und Periodikas mit einem ausgesprochen engen Leserkreis wegen des zu theoretischen Stils ihrer Autoren. So gehören sie zu der Art der Presse, die sich mit ihren von philosophischen Theorien bestimmten Artikeln und Essays an ein eng begrenztes Publikum wendet. Für den Moment stellen diese Bewegungen noch eine Elite dar, denn oft haben ein oder mehrere ihrer Führer gar keine Nachfolger, sondern werden nur durch eine treue Gefolgschaft unterstützt, die bis jetzt eher einem in sich widersprüchlichen Amalgamat von revolutionären Theorien gleicht.

Die Gruppe mit der größten Stoßkraft ist jene hinter den "Quaderni Piacentini", einem in Piacenza gedruckten Periodika, dessen Herausgeber Piergiorgio Bellocchino (Bruder des bekannten Filmregisseurs von "Fists in pocket" und "China is near") ist. Die "Quaderni Piacentini" haben Artikel gebracht, die die ideologische Basis für die Universitätsdemonstrationen in den verschiedenen Städten Italiens geliefert haben. Sie konnten zahlreiche Studenten und einige Professoren für sich gewinnen, haben aber überhaupt keine Beziehung zu den arbeitenden Schichten, wofür einer der Gründe darin liegt, daß diese Gruppe bis jetzt ausschließlich auf einem hohen Abstraktionsniveau Theorie betrieben und nie daran gedacht hat, sich auch zu organisieren. Jedenfalls ist die "Quaderni Piacentini"-Gruppe diejenige, die die Forderungen der Neuen Linken Italiens am radikalsten formuliert. In einem Interview mit einem Reporter erklärte einer ihrer Herausgeber (der allem Anschein nach Marcuses Theorie nicht sehr gut beherrschte) : "Wir gehen weiter als Marcuses Theorie. Dieser ist daran gescheitert, den zwangsläufigen Protest gegen das ganze 5þstem zu verstehen und nicht nur den gegen die Konsumgesellschaft. Die Gesellschaft in ihrem jetzigen Zustand kann nicht einfach durch einen Parteienrevisionismus reformiert werden. Wir leben inmitten eines sozialen Konfliktes von nie erwartetem Ausmaß. Marx konnte die heutige technologische Entwicklung nicht voraussehen. Es handelt sich daher nicht länger um das Problem von Unterdrückten, die gegen ihre Unterdrücker revoltieren, von Arbeitern gegen ausbeutende Unternehmer; sondern es handelt sich vielmehr um die Revolution einer Generation, von Rassen und von Geschlechtern. Söhne stehen gegen Väter, Schwarze und Gelbe gegen Weiße, Frauen gegen Männer. In Italien wird die Notwendigkeit einer solchen Revolution genauso gesehen wie anderswo."

Eine andere Zeitschrift ist "La Sinistra", die vom Publizisten Feltrinelli* finanziert wird und deren erste Nummer am 1. Oktober 1966 erschien. Anfangs sollte sie ein Forum für die revolutionären Gruppen, die progressiven Kommunisten und Sozialproletarier (PSIUP) werden. Der Redaktionsstab schloß zu Beginn auch Kommunisten wie Professor Lucio Collotti und den Journalisten Tommaso Chiaretti ein. Später schieden diese jedoch zusammen mit andern Kommunisten aus unter Berufung auf den radikalen Akzent und die sich verstärkende pro-castristische Tendenz von "La Sinistra". Jedenfalls ist es kein Geheimnis, daß Feltrinelli enge freundschaftliche Beziehungen mit Castro verbinden.

Am 16. März 1968 ging "La Sinistra" sogar so weit, einige Artikel mit Anweisungen für die Herstellung von Molotow-Flaschen und die Guerilla-Technik zu veröffentlichen. Dies führte dann allerdings zu einer gerichtlichen Verfügung wegen "Aufwiegelung zur Begehung eines Deliktes" und "Aufruf zum Ungehorsam gegenüber dem Gesetz".

Die italienische Universitätswelt ist Zeugin einer ganzen Fülle von Wochenzeitungen, Periodika, Revuen und verschiedenartigsten Druckerzeugnissen. Die bekanntesten sind "Quaderni Rossi" (rote Hefte) und "Gatto Selvaggio" (wilde Katze) in Turin; "Falce e Martello" (Sichel und Hammer), "Il Foglio della Sinistra Universitaria" (Linksgerichtetes Universitätsbulletin) und "Potere Operaio" (Arbeitermacht) in Mailand; "Angelus Novus" (Neuer Engel) in Florenz; "Classe Operaia" (Die arbeitende Klasse) in Genua; "Cronache Operaie" (Arbeiternachrichten), die in Mailand, Turin, Genua, Florenz und Rom herausgegeben werden und als letztes die "Sinistra Universitaria" (Linksgerichtete Universität) in Neapel.

Die kulturellen und politischen Klubs sind ebenso zahlreich: "La Comune" (Die Kommune) in Verona; "Centro d'Informazione" (Informationszentrum) in Bolzano; "Universita Negativa" (negative Universität) in Trento; "Potere Operaio e Studentesco" (Arbeiter- und Studentenmacht) in Padua und Pisa; "Gatto Selvàtico" (Wildkatze) und "Uccelli" (Vögel) in Rom. Dazu kommen noch die zahllosen Guevara-Klubs, die in ganz Italien, besonders aber in Neapel, der Toscana, der Emilia und in ganz Norditalien wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Diese Klubs sind ein Attraktionszentrum für Intellektuelle und Studenten, besonders der Studenten, ganz verschiedener politischer Richtungen: Kommunisten, Sozialproletarier und Linkskatholiken.

Bevor ausführlicher auf die Frage der studentischen Demonstrationen und ihrer Ursachen eingegangen wird, soll das Bild der Neuen Linken durch einige Bemerkungen über den Linkskatholizismus abgerundet werden, der einen sehr wichtigen Teil der Neuen Linken ausmacht. Als eine relativ starke Gruppe ist er wahrscheinlich die einzige linksgerichtete Kraft, die aus fundierten Intentionen heraus langfristige Arbeit zu leisten vermag. Vor einigen Jahren noch waren die politisch abweichenden Katholiken in sich sehr heterogen und zerfielen in viele kleine Gruppen.

Heute kann ihre Position schon sehr viel klarer aufgezeigt werden. Ein Überblick zeigt, daß heute wenigstens 100 katholische Klubs in Italien existieren, die der Protestbewegung angehören und nach den hervorragenden Vertretern der militanten Katholiken wie F. L. Ferrari, Antoine Ozanam, Don Lorenzo Milani, Jacques Maritain, Jean Vigo, Enrico Mattei, Don Primo Mazzolari und Don Camillo Torres benannt sind. Diese kleinen Klubs drucken ihre Zeitschriften mit Namen, die nur in vagem Zusammenhang mit ihrem politischen Programm stehen, so z. B. "Impegno Politico" (politische Verpflichtung), "Ora Sesta" (Die sechste Stunde), "Resistenza" (Widerstand), "Il Portico" (Die Arkade), "Esprit", "Il Cenàcolo" (Speisesaal), "Persona e Comunità" (Individuum und Gesellschaft) und "Nuovi Incontri" (Neue Möglichkeiten) .

Alle diese Klubs und Publikationen waren noch vor einiger Zeit lediglich kleine politische Gruppen, hier und dort zerstreut, die im Schatten der lokalen politischen Tradition ohne Verbindung und in einer erfolglosen Kontroverse mit ihrer Umgebung engagiert waren. Doch Anfang 1968 wurde der Versuch gemacht, eine einheitliche Basis für alle Linkskatholiken zu schaffen, die mit der kirchlichen Autorität und den Christlich-Demokraten nicht übereinstimmen. Im Februar wurde ein nationales Treffen in Bologna abgehalten, das von Wladimiro Dorigo, dem Herausgeber der Zeitschrift "Tuttitalia" angeregt worden ist. Die offizielle Ankündigung erklärte, daß Treffen wäre von "allen spontan entstandenen Gruppen, ob gläubige oder nicht", erwartet worden, d. h. alle diese Gruppen wollten auf die eine oder andere Art mit den andern zusammen eine Neue Linke gründen. Wladimiro Dorigo ist eine Persönlichkeit, die einen Kommentar verdient. Er ist vierzig Jahre alt, erscheint ausgesprochen intellektuell introvertiert; seine politische Auffassung spiegelt in gewisser Weise die schwierige innere Situation des Linkskatholizismus wider. Schon als er noch sehr jung war, wandte er sich gegen die Integrationspolitik Amintore Fanfanis und Giuseppe Dossettis mit den Vorstellungen des linken Zentrums und sogar des Dialogs mit den Kommunisten, womit er den progressivsten Auffassungen innerhalb der Christlich-Demokraten um zehn Jahre voraus war.

Tatsache ist, daß Dorigo für seine fortschrittlichen Ideen verurteilt wurde durch jenen Mann, der später Papst Johannes XXIII. wurde. Es war wirklich Kardinal Roncalli und der spätere Bischof von Venedig, der Dorigo von seinem Posten als Herausgeber des "Popolo Veneto", dem offiziellen Organ der venezianischen Christlich-Demokraten, enthob.

Auf dem Treffen in Bologna legte Wladimiro Dorigo seine Abwendung von der kirchlichen Autorität in einer unmißverständlichen Erklärung dar. Bezugnehmend auf die päpstliche Enzyklika und bischöfliche Hirtenbriefe sagte er: "Wir fordern das Recht zur Diskussion eines jeden Dokumentes, woher es auch immer kommen mag." Später legte er seine theoretische Position folgendermaßen dar: "Auf die Frage, ob wir mit den Bischöfen übereinstimmen oder nicht, können wir nur antworten ,Warum sollten wir es nicht?' Wenn behauptet wird, man verteidige die Legitimität der gegenwärtigen politischen Anweisungen, so kann von uns nicht erwartet werden, daß wir uns ruhig verhalten, weil dies vollkommen untragbar wäre. Das Gewissen der Gläubigen einer solchen Härte zu unterwerfen, kann nicht zugelassen werden. Wir glauben an die Reife des Gewissens und sind überzeugt, daß der Prozeß der politischen Befreiung Fortschritte macht."

Dorigo steht mit allen Parteien in einer Kontroverse, die er anklagt, "taub für alle Wünsche der unteren Schichten" zu sein. Er bestätigt sehr klar die Möglichkeit einer Neuen Linken, die aus einem Zusammengehen von Katholiken und marxistischen Gruppen entsteht, die beide im Gegensatz zu den ins System integrierten Parteien stehen. Er wies auf mögliche Verbündete hin, zu denen die Zeitschrift "Astrolabio" (Herausgeber Ferrucci Parri), die Salvemini Klubs und die Autonome Sozialistische Bewegung gehören. Bemerkenswert ist, daß das Treffen von Bologna von sehr vielen Mitgliedern dieser radikal-marxistischen Gruppen erwartet wurde und wo auch Repräsentanten der PSIUP nicht gefehlt haben.

Eine Sensation schuf das Treffen auch mit seinem Mitglied Professor Corrado Corghi, dem früheren Regionalsekretär der Christlich-Demokratischen Partei der Emilia, der gleichzeitig noch persönlicher Mitarbeiter De Gasperis war. Corghi begründete seine Abwendung von den Christlich-Demokraten "nach 25 Jahren größter Aktivität" damit, "daß ein nichtkonformes Verhalten in der Democrazia Christiania nicht länger toleriert werde". Bei dieser Gelegenheit (am Vorabend der Wahlen) maclite Corghi auch den Vorschlag, in zwei Regionen, der Emilia und der Toscana (wo der politische Dialog am meisten Fortschritte gemacht hat und die Linkskatholiken bei verschiedenen Gelegenheiten Verbindungen mit der institutionalisierten Linken eingegangen sind), gemeinsame Listen mit den Kommunisten, Sozialproletariern und rebellierenden Katholiken aufzustellen, die außerhalb und über den ursprünglichen Parteien der Kandidaten stehen.

Damit sollte jede Gruppe ilzren politischen Willen unter Beweis stellen und einen ersten Schritt zur politischen Umgruppierung in Richtung auf eine linksgerichtete Basis leisten. Die PCI wollte jedoch nicht auf den Vorschlag eingehen, sondern forderte die Linkskatholiken auf, ihre Kandidaten als Unabhängige unter kommunistischer Flagge zu präsentieren.

Professor Corghi ist heute nach seinen Intentionen und Vorschlägen die herausragendste Persönlichkeit unter den Linkskatholiken, so daß er als ihr eigentlicher Führer bezeichnet werden kann. Anfang 1968 kündigte er verstärkte Anstrengungen für eine zu schaffende "einheitliche Bewegung" an, obwohl die einzelnen Gruppen nichts von ihrer Unabhängigkeit preisgeben wol len. Grundsätzlich wird es darauf ankommen, in alle linksorientierten Gruppen, einschließlich der Maoisten und Castristen, vor allem aber in die "Federazione" einzudringen. Corghi selber war entschlossen, alle Versuche der PCI zur Ausweitung ihrer Kontrolle auf die rebellierenden Katholiken zurückzuweisen, denn dann würde die Neue Linke nicht länger die Unterstützung der dissidenten Kommunisten haben.

Jede Einschätzung der italienischen Neuen Linken muß die Tatsache in Rechnung stellen, daß die katholischen "Willensfreien" ein wichtiger Bestandteil der Linksbewegung sind. Sie haben nicht nur eine gute theoretische Basis und eine entsprechende Entschlossenheit, sondern unterhalten auch enge Verbindungen mit der offiziellen katholischen Linken, d. h. zu jenen, die weder von der Kirche noch von der Christlich-Demokratischen Partei ausgeschlossen worden sind. Zu ihnen gehören der frühere Bürgermeister von Florenz, Giorgio La Pira, die mit "Testimoinanze" arbeitende Gruppe aus Florenz, die Genueser Gruppe "Giallo", die Mailänder Gruppe mit "Relazioni Sociali", einige Führer der ACLI (Christliche Arbeitervereinigung), Mitglieder der Christlich-Demokratischen Linken (Doant, Cattin, De Mita, Galloni und Granelli). Obwohl alle diese die politische Linie von Katholiken wie Corghi und Dorigo nicht teilen, halten sie mit ihrer den Opponenten zugeneigten Haltung doch keineswegs zurück.

Dies führt uns zur studentischen Bewegung an sich und wie sie sich in das Gesamtbild der Neuen Linken einfügt. Es ist unzweifelhaft, daß der Ausbruch der Universitätsdemonstrationen den Entschluß einiger rebellierender politischer Gruppen ermutigt und gefördert hat, öffentlich hervorzutreten. Ohne die Studenten und die verschiedenen maoistischen, castristischen, pro Guevara- und neoanarchistischen Bewegungen hätten sie nie diese Bedeutung erlangt, sondern wären eine Randgruppe des politischen Lebens mit wenig oder keiner Möglichkeit zur effektiven Einflußnahme geblieben.

Anfangs hat sich die studentische Bewegung ganz spontan entwickelt. Niemand, auch nicht die PCl oder die Maoisten, konnten ihr Entstehen voraussehen als das, was man heute eine revolutionäre Bewegung nennt. Als die Studenten die ersten Fakultäten besetzten, dachten sie noch nicht an den "weltweiten Protest".

Alles, was sie forderten, war eine Hochschulreform. Langsam wurde aber daraus eine stärkere Protestbewegung, was sowohl durch den Einfluß ausländ¡scher Studenten als auch die Unzulänglichkeit des Professorenkollegiums und der nicht reformgewillten politischen Autoritäten bedingt war. Von daher gesehen tragen die letztern zusammen mit dem akademischen Lehrkörper eine große Verantwortung für die ganze Entwicklung. Die italienische Universität war schon während Jahren in einer kritischen Situation; von einer Universitätsreform wird schon seit dem Ende des Krieges gesprochen, doch noch heute stehen die Dinge da, wo sie vor 20 Jahren gestanden haben. Mit unhaltbaren Versprechungen wurde zudem ein ungeheurer Zeitaufwand vertan, um eine Gesetzesvorlage (Nr. 2314) über eine Universitätsreform auszuarbeiten (die hinfällig wurde mit dem Ende der Legislaturperiode im März 1968). So gewannen die Studenten allmählich die Überzeugung, daß man, um etwas zu erreichen, Forderungen kollektiv erheben und eine gesellschaftspolitisch fundierte Position einnehmen müsse. Die Entwicklung der studentischen Bewegung ist besser zu verstehen unter dem Gesichtspunkt der folgenden Erklärungen der Studenten der Universität von Trento vom November 1967: "Nachdem wir zu diesen Schlußfolgerungen über die jetzige Situation gekommen sind, müssen die Studenten beginnen, eine eigene Macht zu werden . . . Als Studenten sind wir machtlos und haben keinen Einfluß auf Entscheidungen, die uns betreffen. Wir können nur gehorchen und unsere Köpfe hinhalten. Nur indem wir Demonstrationen durchführen, erreichen wir jene Macht, die uns die bestehenden Strukturen verweigern; und unser Kampf hat um so mehr Aussicht auf Erfolg, je mehr wir die Gefahren eines korporativen Systems vermeiden (d. h. einer neuen organisatorischen Verfestigung, d. Verf.) und dieses zu einer allgemeinen Streitfrage werden lassen." Abgesehen von einigen Übertreibungen gibt es zweifellos mehr als genügend Grund zum Protest innerhalb der italienischen Universität. Gerade die außerhalb der Universität agierenden Kräfte haben entscheidend von dieser Situation profitiert, d. h. alle Gruppen der Neuen Linken, die seit ein bis zwei Jahren am Rande des politischen Lebens in Italien mit geringem politischen Erfolg existiert haben. Sie betrachteten die studentischen Demonstrationen als eine ausgezeichnete Möglichkeit, um ihre Ziele zu realisieren.

Auch war es leicht, in die studentischen Kreise hineinzukommen, denn unter ihnen waren schon Linksradikale, die der PCI oder der PSIUP angehörten, die bereits 1966/67 Vorfälle inszeniert hatten, die sich aber auf den universitären Bereich beschränkten.

Maoisten, Castristen und Guevara-Leute und Neoanarchisten konnten ihren Protest leicht ausbreiten, als sie erst einmal in der Universität Fuß gefaßt hatten. Sie fanden unter den Studenten genau das, was sie bei den Arbeitern umsonst anzusprechen versuchten. Es war leicht, die pro-sowjetischen Kräfte zu verdrängen, denn diese schlossen sich ihnen hinterher sogar an. Dasselbe traf für die linksorientierten Katholiken zu. An diesem Punkte begann dann aber eine Art Führungskampf um die studentische Bewegung. Jede Gruppe versuchte, noch weiter nach links zu tendieren, so z. B. die Katholiken, die in den Demonstrationen sogar extremistischer auftraten als selbst die eigentlichen Kommunisten. Zwischen dem November 1967 und dem Juni 1968 hat eine ständige Eskalation stattgefunden: von lediglich geäußertem Protest zur Besetzung der Universitäten, von der Besetzung zur Ablehnung jeglicher akademischen Autorität, von ihr oder dem Protest zur Revolte, von der Gewaltanwendung innerhalb der Universitäten zu Straßenkämpfen, Angriffen auf öffentliehe Gebäude, Zeitungen usw.

Die schlimmsten und gewalttätigsten Vorfälle waren fast immer durch Gruppen provoziert worden, die nicht der Universität angehörten. Auch den Studenten Unbekannte führten die größten Demonstrationen an. Es bleibt aber die Tatsache, daß die Studenten immer bereit waren, ihnen zu folgen. Anfangs taten sie es mehr aus Freude an der Sache selber, als eine Art anarchischen Unfug. Doch zuletzt vertraten zehn Prozent der jungen Leute revolutionäre Auffassungen. Das von einer bewußten Minderheit der Studenten gespielte Spiel wurde ernster. Geblendet durch den schnellen Erfolg der Universitätsbesetzungen begannen die Studenten mit dem Marsch in die Städte und provozierten sogar Kämpfe mit der Polizei.

Kurzum, die Neue Linke hatte unerwartet eine Basis gefunden. Sogar für die Kommunisten war dies eine unerwartete Überraschung, so daß sie nicht gleich wagten, ihre Irritation zu zeigen. So sagte Ingrao in einer Diskussion mit andern ZK-Mitgliedern der PCI im März 1968: "Es ist klar, daß sieh eine neue revolutionäre Kraft außerhalb unserer Kontrolle entwickelt hat, ohne daß wir dies wahrgenommen haben." Auch Longo konnte seine Verwunderung nicht verbergen und sagte: "Wir stehen der freien und übertriebenen Förderung einer Bewegung gegenüber, die das ganze System umwälzen will." Amendola sprach in einem Artikel der "Rinascita" von "organisatorischen Anstrengungen der maoistischen Kommunisten". Pasolini, ein kommunistischer Schriftsteller, widmete den revolutionären Studenten ein zorniges Gedicht, das er mit "La Piccola Bourgeoisia e Daddy's Boys" überschrieb.

Im Moment herrscht Ruhe an der studentischen Front. Der Sommer, die Ferien und Examina haben den Aufstand gedämpft, was aber nicht bedeutet, daß alle Kämpfe vorbei wären. Im Herbst wird zweifellos alles weitergehn und wie es scheint, mit mehr Gewalt. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß der Protest an Kräften zunehmen wird. Man spricht von Straßen-Guerilla, Barrikaden, der Besetzung von Schulen und sogar Fakultäten, einer Allianz zwischen Studenten und Arbeitern, also in einem Wort von einer Ausweitung der Revolte. Einige Studenten waren diesen Sommer auch in Kuba, andere in Albanien oder sogar China.

Die Situation ist derart neu und wechselt so schnell, daß kaum eine Prognose gemacht werden kann; aber sicher wird es Straßenkämpfe geben. Die Kommunisten erwarten einen "heißen" Herbst und bereiten sich dementsprechend vor, um nicht von links überholt zu werden. Diesen Sommer wurden einige wohlwollende Kommentare über die studentische Bewegung durch die "Unità", das offizielle Organ der PCI, publiziert, was darauf hindeutet, daß die PCI an der ganzen Auseinandersetzung teilzunehmen beabsichtigt. Enrico Berlinguer betonte die Notwendigkeit nicht nur der zeitlichen Abstimmung, sondern auch der Interessenübereinstimmung zwischen dem Kampf der Arbeiterklasse und dem der Intellektuellen in der "Unità" vom 26. Juni 1968.

Und ebenso schrieb Senator Franco Antonicelli in der "Unità" vom 10. August 1968: "Plötzlich ist die mehr oder weniger angenehme Ferienpause vorbei und die studentische Revolte wird wieder Feuer fangen und explodieren. Der Kampf der Studenten wird alle andern Bereiche der konservativen Gesellschaft in Bewegung bringen. Diese von Studenten Italiens und der Welt ausgelöste Bewegung ist der größte Kampf, der jemals für die Freiheit irgendwo geführt wurde. Er fordert die geistige und moralische Trägheit heraus, zerstört überholte Tabus, räumt auf mit veralteten Gewohnheiten und hat uns von einem allgemeinen Zustand der Feigheit und der Depression gerettet."

Diese Zitate genügen vielleicht, um die Fluktuation der Situation, ihre kontroverse Interpretation zu zeigen. Im Herbst wird ein interessanter Kampf zwischen den zwei konkurrierenden Kräften beginnen: der offiziellen Linken und der Neuen Linken. Es geht dabei um die Kontrolle über die neue Beweguiig von fast einer halben Million Studenten, die nach einem politischen Bewußtsein suchen und eine eigene politische Rolle spielen wollen.

Auch wenn es nur 50 000 Leute sein sollten oder noch weniger, die bereit sind, den Weg der Revolution einzuschlagen, so wird es nicht leicht sein, sie davon abzuhalten. Italien nähert sich 1969 mit einer schweren Hypothek. 

 * Feltrinelli ist ein sehr bekannter linksgerichteter Publizist, der aus einer äußerst wohlhabenden Mailänder Familie stammt. Im Ausland wurde er durch die Herausgabe von Boris Pasternaks Buch "Dr. Schiwago" bekannt und seine Gefangennahme und Verweisung aus Bolivien, da er Debray unterstützte, dessen Buch über neue revolutionäre Theorien er in Italien herausgab.