TEACH-IN IN DER TU BERLIN
AUSZÜGE AUS DER CSSR-DEBATTE

aus: Berliner Extra Dienst vom 24.8.1968


Im Auditorium maximum der Westberliner TU veranstalteten die Studentenvertretungen und andere Verbände der Außerparlamentarischen Opposition am Mittwochnachmittag (21.8.1968 – red.trend) ein Teach-in, von dem wir wesentliche Auszüge einer Tonbandaufzeichnung veröffentlichen:

SEMLER: Kommilitonen und Genossen, der Kampf gegen den Stalinismus in der Außenpolitik, der in Wirklichkeit ein Opportunismus ist, der die Stabilisierung des stärksten Gliedes innerhalb des sozialistischen Herrschaftsgebietes im Sinn hat, hat in Berlin selbst eine Tradition. Wir hatten am Vorabend des 2. Juni vor der Tschechoslowakischen Militärmission demonstriert gegen Novotny und dessen Politik gegenüber dem Schah, globaler gesprochen: die Politik der sozialistischen Staaten gegenüber den Emanzipationsbewegungen in der Dritten Welt. Wir wissen sehr wohl, daß die Novotny-Regierung mit ihren scheinheiligen Phrasen mit den Unterdrückungsinstanzen der Dritten Welt zusammengearbeitet hat. Wir hatten an diesem Vorabend des 2. Juni eine Gedenkminute für Rudolf Slansky eingelegt -viele von uns wußten damals noch gar nicht, wer das überhaupt war-; später hat es sich dann herausgestellt, daß die Triebfeder zur Beseitigung des stalinistischen Terrors in der Tschechoslowakei eine der stärksten progressiven Triebfedern in diesem Lande war. Wir müssen jetzt zusehen, daß wir die Entwicklung in der Tschechoslowakei begreifen als eine widersprüchliche. Daß wir einerseits sehen, daJ& die Regierung Dubcek sowohl in ihren ökonomischen Reformbestrebungen als auch in ihrer Außenpolitik objektiv die Möglichkeit bot, eine linke Position innerhalb der Tschechoslowakei aufzubauen. Aber wir müssen auch auf Widersprüche hinweisen, die sich in der beabsichtigten Konstruktion der tschechoslowakischen Betriebe und in der Neukonstruktion der Nationalökonomie abzeichnen. Wir müssen auch noch einmal nachprüfen, wo die Hebel zu einer kulturrevolutionären und linken Entwicklung in der Tschechoslowakei tatsächlich vorhanden gewesen wären und auch noch vorhanden sind. Wir müssen dahin kommen, daß wir eine klar formulierte Alternative sowohl zum Stalinismus wie auch zu den Möglichkeiten einer spontanen Rückkehr zum Kapitalismus haben.

STROTHMANN: Ich wollte einiges sagen zur Begründung, warum wir der Meinung sind, daß die Tschechoslowakei zwar eine notwendige Liberalisierungsphase durchgemacht hat, aber im Laufe dieser Liberalisierungsphase einige bürgerliche Elemente zum Vorschein gekommen sind, die der Aufgabe einiger sozialistischer Errungenschaften gleichkommen. Natürlich geht es im Augenblick darum und vor allem darum, die Liberalisierung selbst zu verteidigen. Aber ich glaube, daß dieses Teach-in und die nachfolgende Demonstration nicht irgendwelche abstrakten Verurteilungen der Sowjetunion darstellen könnea sondern daß wir uns fragen, welches ist der Charakter der Entwicklung in der CSSR uiro welche Entwicklung können wir befürworten und welche nicht. Die Entwicklung ab Januar 1968 hatte ein langes Vorspiel; eine ihrer Hauptursachen war die ökonomische Malaise der Tschechoslowakei. Es gab in den Jahren 1964 und 1965 in der CSSR negative Wachstumsraten, zum ersten Mal in einem sozialistischen Land, und es gab auch in folgenden Jahren nur Wachstumsraten von ein bis zwei Prozent. Das ist für ein sozialistisches Land sehr wenig. Es zeigte sich, daß die Tschechoslowakei falsche ökonomische Politik getrieben hatte, und daß sie diese ökonomische Politik revidieren mußte. Wie sind diese Reformen der Wirtschaft in der CSSR vonstatten gegangen? Dazu einige Beispiele. Zum ersten: Schon vor denn Januar-Plenum und erst recht später wurde in den Betrieben eine radikale Differenzierung aller Löhne und Gehälter durchgeführt. Das heißt, daß die soziale Kraft, die die ganze Entwicklung in der Tschechoslowakei getragen hat, nicht die Arbeiterklasse war, sondern daß es die Klasse der Technokraten und der Intellektuellen war; daß im Lauf dieser Entwicklung sich tatsächlich die Technokraten mit der Differenzierung der Löhne und der Einführung von Marktmechanismen in die sozialistische Wirtschaft die größten Profite oder Privilegien zuschanzen wollten. Es war aber immer das Ziel der sozialistischen Revolution, daß die Lasten des Aufbaus, die Lasten der Arbeit einer Gesellschaft gerecht verteilt werden. Wenn jetzt durch diese radikale Differenzierung der Löhne wieder eine reaktionäre Umverteilung der Lasten zugunsten der privilegierten Schichten der Technokraten vorgenommen wird, so ist das zumindest eine sehr bedenkliche Erscheinung. Zum zweiten: Es hat in der Tschechoslowakei eine Wiederzulassung des privaten Hausbesitzes und damit die Wiederzulassung des Privateigentums gegeben. Damit werden kapitalistische Elemente in eine sozialistische Wirtschaft eingeführt. Das bedeutet noch nicht, jetzt noch nicht, daß das ein bourgeoiser, ein kapitalistischer Umsturz ist, aber es ist meiner Ansicht nach der erste Schritt dazu, das Profitmotiv und das Privateigentum sowohl als Faktum als auch als Ideologie in eine sozialistische Gesellschaft wiedereinzuführen. Das dritte ist die Wiedereinführung der Marktmechanismen in der Tschechoslowakei. Man kann darüber verschiedener Meinung sein. Auf jeden Fall ist zu konstatieren, daß mit dieser Wiedereinführung eine Menge an Dezentralisierung, eine Delegierung von willkürlicher Entscheidungsmacht an die unteren Ebenen verbunden ist. Gleichzeitig aber ist mit dieser Wiedereinführung auch ein Betriebsegoismus der einzelnen Betriebe verbunden, so daß also das Ziel der sozialistischen Gesellschaft, die Konkurrenz aller gegen alle zu beseitigen, in der Tschechoslowakei durch diese Wiedereinführung der Marktmechanismen gefährdet ist. Und viertens: Die Tschechoslowakei hat sich mit mehr oder weniger Erfolg darum bemüht, bei den kapitalistischen Ländern Anleihen für ihre Wirtschaft zu bekommen. Dabei besteht zumindest eine große Gefahr, daß die CSSR durch diese Anleihen in Abhängigkeit von dem internationalen Währungsfonds gerät. Fünftens haben wir festgestellt, daß mit der Aufhebung der Pressezensur und der Einführung der Pressefreiheit, die ja ein unbedingt notwendiges Element der sozialistischen Demokratie ist, in der Tschechoslowakei ein Monopol von bürgerlichen Intellektuellen in der tschechoslowakischen Presse zu beobachten war. In der CSSR ist in keinem einzigen Organ seit Wochen eine konsequente linke Politik vertreten worden, es ist kein einziges Mal zum Beispiel die Politik der Chinesen objektiv dargestellt worden. Ich spreche damit nicht für eine Wiedereinführung der Pressezensur, sondern ich sage nur, daß es notwendig wäre, in der sozialistischen Presse auch alle sozialistischen Fraktionen zu Worte kommen zu lassen, so daß es einen wirklichen Dialog geben kann. Bisher konnten wir nicht beobachten, daß das der Fall war.

SEMLER: Genossinnen und Genossen, ich möchte vorschlagen, daß sich diejenigen, die hier dauernd Zwischenrufe machen und sich heuchlerisch mit Geno'ssen Dubcek identifizieren, hier darüber erklären, was sie dazu beigetragen haben, daß der sozialistische Kurs der CSSR tatsächlich stabilisiert wird. Im Gegensatz zum SDS und den anderen linken Organisationen, die seit Monaten an der Stabilisierung dieses demokratischen Kurses mitwirken. Diese Heuchler ! In Wirklichkeit hüpft ihnen das Herz vor Freude über die Intervention der sowjetischen Armee.

STROTHMANN: Ich habe noch einen letzten Punkt. Und zwar kann man beobachten, daß der Prozeß der Liberalisierung der Tschechoslowakei bisher ausschließlich und allein ihren politischen Bereich umfaßte und daß er nicht fortgeschritten ist bis zum gesellschaftlichen Bereich. Damit meine ich: Es gab in der CSSR eine Aufhebung der Pressezensur, es gab einen Abbau der willkürlichen Parteibürokratie, aber was es nicht gab, ist, daß diese Liberalisierung auf den gesamten wirtschaftlichen Bereich übergriff. Es gibt dort keine radikale Demokratisierung der Wirtschaft und damit keine Rätedemokratie. Diese ganze Kritik - und nun möchte ich nicht falsch verstanden werden - ist eine linke Kritik, links von Moskau. Sie richtet sich ebenso gegen Moskau wie gegen Entartungserscheinungen in Prag. Es dürfte ganz klar sein, daß derjenige, der am wenigsten Recht zu einer Intervention in der CSSR hat, die Sowjetunion ist, weil sie nämlich die ganze alte Scheiße selbst in ihrem eigenen Land haben, die die Tschechoslowaken gerade beseitigt haben.

HOFFMANN: Ich bin nicht der Meinung des Genossen, der hier sagte, heuchlerisch würden sich andere Kräfte mit Dubcek verbrüdern. Ich komme aus dem anderen Teil dieser Stadt und habe diesen Teil unter Lebensgefahr verlassen, und für mich war, weil ich die Situation drübenkenne, Dubcek ein Held und ist ein Held. Ich bin auch nicht der Meinung, daß die Arbeit des SDS besonders in Sofia dem Liberalisierungsprozeß besonders geholfen hat.

REINHARD WOLFF: Ich bin etwas verwundert über diesen Beitrag. Gestattet mir als einem derjenigen, die in Sofia gewesen sind, eine Bemerkung: Während eine Gruppe des SDS und andere Genossen aus der Bundesrepublik, unterstützt von italienischen, norwegischen und schwedischen Genossen und einigen britischen Genossen, den Kampf auch auf dem Festival führten gegen den sowjetischen Revisionismus, saßen Bundesrepublikaner, CDU-Mitglieder, die hier in der Bundesrepublik den Kapitalismus verteidigen, ruhig in den Foren, machten nichts, ließen uns die Auseinandersetzungen führen, begeisterten sich aber auf der Empore abstrakt für Dubcek. Diesen Differenzierungsprozeß sollten wir hier malklar herausarbeiten; die Dubcek-Begeisterung der Springer-Presse nämlich einerseits, die für die Repression hier in unserem Lande entscheidend steht, die Begeisterung selbst von CDU-Bürgerschaftsabgeordneten in Sofia ganz abstrakt für die Entwicklung Inder CSSR - andererseits aber die konkrete Auseinandersetzung, die in Sofia gegen die Entwicklung der sowjetischen Politik geführt worden ist, gegen die zentralistisch-bü-rokratisch-autoritär organisierten Parteien in diesen Ländern.

BERNHARD: Wir sind doch alle hier zusammengekommen, um in irgendeiner Form gegen die Ereignisse in der Tschechoslowakei zu demonstrieren. Ich glaube, es ist nicht nötig, daß wir uns über die älteren Vorgänge in der CSSR noch informieren. Überall in jedem Staat regiert doch eine Clique.

HUFFSCHMID: Es dürfte wohl klar geworden sein, daß dieses Teach-in hier nicht das Wohlrabe-Teach-in ist und daß wir nicht gewillt sind, die Ereignisse in der CSSR von rechts zu kritisieren. Darum ist es so, daß wir die Informationen über die früheren Ereignisse, die mein Vorredner genannt hat, etwas genauer untersuchen müssen. Und dA stellt sich genau das Problem, daß auch wir mit einigen Entwicklungen in der CSSR nichr ganz einverstanden sind und einige Bedenken der anderen sozialistischen Länder durchaus teilen. Wir wissen, daß einige bürgerliche Gruppen in der CSSR ein Pluralismus-Konzept vertreten, mit dem wir in Westberlin die allerschlimmsten Erfahrungen gemacht haben. Und es ist uns auch unverständlich, wie es von einer Gruppe in der CSSR diskutiert worden ist, Teile der Wirtschaft zu reprivatisieren und damit einem Mechanismus zu unterwerfen, den wir gerade hier von links dauernd kritisieren. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite müssen wir aber doch auch feststellen, daß alle diese Kritikpunkte doch keine konterrevolutionäre Situation bedingen, wie es die Erklärung der fünf Warschauer Staaten beinhaltet. Die genannten Gruppen sind zweifellos konterrevolutionär, aber ihre Existenz stellt keine konterrevolutionäre Situation dar. Diese Situation ist erst dann gegeben, wenn eine unmittelbare Gefahr eines Putsches von rechts besteht, und diese Situation hat zweifellos nicht bestanden.

ZWISCHENRUF: Ist die Intervention jetzt also gerechtfertigt?

HUFFSCHMID: Nein, das ist sie gerade nicht. Das wird auch von uns als ausgesprochen konterrevolutionär bezeichnet. Revolutionär wäre es, die sozialistische Revolution, difl jetzt angefangen hat, weiterzuführen im Sinne einer echten Selbstverwaltung, im Sinne eines Abbaus der bürokratischen Apparate, der Autoritätsstrukturen, im Sinne einer Selbstverwaltung und Selbstbestimmung der Betriebe. Dies alles hätte in der CSSR passieren können, und es wird vielleicht noch passieren. Aber in der Sowjetunion ist man offensichtlich nicht bereit, dies als einen Fortschritt im Sozialismus anzuerkennen. Deshalb ist der Einmarsch in diesem Augenblick konterrevolutionär.

VIETEN: Kommilitoninnen und Kommilitonen, meine Damen und Herren, ich bin eigentlich enttäuscht, daß man hier in einer solchen Situation anfängt, über Kleinigkeiten zu streiten, über eine stärkere Lohndifferenzierung, wie wir sie z. B. auch in Jugoslawien haben, oder ob man kleine Gewerbebetriebe auch in einem sozialistischen Staat privatisierenkann, ohne daß Machtanhäufung erfolgt, oder ob ein Land in Unfreiheit gerät, wenn es unter Umständen Kredite westlicher Staaten annimmt. (. . . ) Für solche Gespräche wäre eine andere Zeit sehr viel angemessener. Ich meine, es wäre notwendig, darüber zu diskutieren, aus welchem Selbstverständnis heraus sozialistische Staaten längst den Anspruch verloren haben, sich sozialistisch zu nennen. Zu prüfen, aus welchem Selbstverständnis heraus hier gegen ein Land vorgegangen -wird, das gezeigt hat, daß es den Weg zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung geht, der auch jenen, die in den westlichen Staaten bisher dem Sozialismus sehr negativ gegenüberstanden, Hoffnung gegeben hat auf eine gesellschaftliche Veränderung in den westeuropäischen Staaten. Es ist hier, auf diesem Teach-in, noch nicht in dieser Deutlichkeit von Vertretern des SDS gesagt worden, aber heute morgen in einem kleinen Kreis ist es diskutiert worden, daß man es ablehnt, mit Leuten wie Ristock und Albertz gemeinsam eine Demonstration gegen das Vorgehen der Sowjetunion zu machen. Der SDS sagt: Mit diesen Leuten können wir nicht gemeinsam unsere Vorstellungen diskutieren. Ich halte das für politisches Sektierertum. Das sage ich an die Adresse des SDS. Wir sollten einsehen, daß wir eine Veränderung der Gesellschaft, eine Veränderung, die auf eine möglichst hohe Freiheit des Individuums zielt, eine Veränderung der Wirtschaftsordnung, für die ich auch plädiere, eine Veränderung, die wirklich zur Befreiung des Menschen führt, nur dann erreichen können, wenn wir auch die Kräfte in den westeuropäischen Ländern unterstützen und mit ihnen zusammenarbeiten, die bis heute in der Praxis der kommunistischen Staaten nicht das Allheilmittel sehen. Wir sollten die Möglichkeit sehen, daß wir mit einer Neubestimmung des Sozialismus weiterkommen können. Und hier glaube ich, haben Sie mehr Verbündete, als Sie jetzt in Ihrer Kleinkariertheit sehen.

LEFEVRE: Manwirft also dem SDS vor, angesichts gravierender Ereignisse kleinkarierte, wie es Herr Vieten nennt. Verbandsinteressen zu machen. (...) Ich meine, daß die Kritiker am SDS sich artikulieren sollten, welchen Weg sie denn einschlagen würden, was ihr politisches Programm ist, um solche Situationen vermeiden zu können. Sollten sie uns sagen wollen, daß man eben den liberalen Staat als liberal-kapitalistischen Staat restaurieren müsse, dann meinen wir, sie sollten einmal die Geschichte ihres eigenen fctaates in den letzten 50 Jahren studieren, um zu wissen, welche Katastrophen der liberale Staat aus sich hervorgebracht hat. Aber noch etwas anderes gilt es festzustellen: Daß nämlich heute nacht, und zwar endgültig, für immer auch nur der Anschein des Anspruches erloschen ist, als sei die sozialistische Bewegung auf dem Erdball an die Zukunft der Sowjetunion geknüpft. Wir müssen sehen, daß das Chancen eröffnet. Wer beobachtet hat, wie seit dreißig Jahren die sozialistischen Parteien Westeuropas durch diesen Führungsanspruch der Sowjetunion ganz grauenhaft gelähmt worden sind, wer nicht zuletzt die Ereignisse noch gut im Kopf hat, die sich in diesem Mai in Frankreich abgespielt haben, weiß, daß positive Entwicklungen nicht zuletzt dank der gut aus Moskau instruierten Kon-imunistischen Partei Frankreichs vereitelt worden sind, der wird begrüs-sen, daß wir jetzt wirklich ganz andere, fundamentale Chancen haben, endlich einmal den Sozialismus aus diesem grauen Fahrwasser herauszukriegen, ständig eine Sowjetunion verteidigen zu müssen, die man tatsächlich gar nicht mehr verteidigen kann.

RISTOCK: Ich möchte zu der Frage sprechen, ob man in einer Situation wie der heutigen anfangenkann, theoretische Debatten über das zu führen, was heute nacht gewaltsam beendet worden ist. (. . .) Rosa Luxemburg hat einmal die Frage gestellt: Kann man die blassen, die in revolutionäre Ereignisse hineingehen, alleinlassen, oder kann man sich theoretisierend, kritisierend beiseitestellen und sagen, man hätte es besser gewußt. Gewiß: Einiges von dem, was in der Tschechoslowakei in den letzten Monaten vor sich gegangen ist, hätte vielleicht theoretisch, abstrakt besser gemacht werden können. Aber gegenüber dem, was Novotny vorher machte, war es ein riesengroßer, gesellschaftlicher Fortschritt, hinter den sich jeder Sozialist bedingungslos zu stellen hat. (. . . ) Inder Tschechoslowakei tauchte die Vision auf, das zu verbinden, was von vielen abstrakt und theoretisch angestrebt wird, nämlich die reale Mitbestimmung der Arbeiter in allen Bereichen. Selbst wenn zeitweise - wer sollte es anders tun? - einige Leute aus dem Management und einige aus der kommunistischen Partei selbst führend wurden, wenn ein Teil der Arbeiterschaft restriktiv war - verständlich nach zwanzig Jahren stalinistischer Mißwirtschaft! -, wenn danach ein Teil der kommunistischen Partei aufstand, dann finde ich das einmalig und großartig für Sozialisten in aller Welt. Ich bin der Meinung, wir haben voll - ohne jeden abstrakten theoretischen Vorbehalt - hinter den Männern, die vielleicht schon in den Zuchthäusern sitzen, zu stehen, heute, morgen, und übermorgen, und sie nicht zu vergessen. Wann reagieren Mächtige, wann reagieren Klassenherrscher, wann reagieren die, die die Macht haben, restriktiv, reaktionär, aggressiv? Immer dann und auch erst dann, wenn sie merken, daß das, was dort zu bekämpfen ist, ihnen selbst an den Hals geht. Es ist doch so, daß die autoritäre, bürokratische Funktionärgschicht der Sowjetunion gemerkt hat, daß das Modell Tschechoslowakei den Sozialismus einleiten könnte und damit die Revolution über den ganzen Ostblock bringen könnte. Deshalb sollten wir uns hier in diesen Fragen nicht in zersetzenden Abstraktionen verlieren. Natürlich sollen wir auch die Heuchler beiseiteschieben, die heute abend wieder ihre Krokodilstränen weinen werden - die sind verlogen, weil das, was Dubcek und die tschechoslowakischen Kommunisten wollten, der Versuch war, den Sozialismus zu realisieren, wie er Marx, Engels, Rosa Luxemburg vorschwebte als Selbstbestimmung der Menschen. Ganz sicher wären über diese Tschechoslowakei, wenn sie weiter geblieben wäre - und sie wird wiederkommen wie sie war, da bin ich Optimist, weil Sozialist - eines Tages die Reaktionäre des Westens hergefallen, vielleicht sehr bald schon, wie jetzt heute nacht sowjetische Reaktionäre und die ostdeutschen Kommunisten. (. . . )

NIELS KADRITZKE: Solidarisierung heißt Identifizierung, und wenn wir nicht analysiert haben, was dort ist, können wir uns nicht vorbehaltlos identifizieren. Ich möchte mich jetzt beschränken auf die etwas apodiktisch vorgetragenen Thesen von Herrn Strothmann und einige Fakten anführen, die dagegen sprechen, daß hier etwas vorschnell von restau-rativen Erscheinungen in der CSSR gesprochen wird. Ich glaube, daß der Vorwurf, die Löhne würden differenziert oder seien spürbar differenziert worden, kaum zutrifft.- Mir ist nichts dergleichen bekannt. Die Tatsache, daß etwa bestimmte Gewinne auf Betriebsebene einbehalten und verrechnet werden, sagt noch nicht, daß diese Gewinne nicht noch innerhalb der Betriebe egalitär verteilt werden, sagt noch nichts aus über eine Ausein-anderentwicklung des Lohnniveaus. Zweitens w(irde ich meinen, daß die Anleihen bei den kapitalistischen Ländern, die Herr Strothmann den Tschechoslowaken vorwirft, oder dr Bestrebungen dahin, doch nicht zu sehen sind ohne den Hintergrund, daß etwa die Sowjet"* union sich bis jetzt geweigert hat, diese zwei Milliarden, die die CSSR ihr zurückzuzahlen hat, zu stunden und ihr damit die Möglichkeit zu den Investitionen in der Wirtschaft zu geben, die dort anstehen. Was diePressefreiheit betrifft, so ist darauf hinzuweisen, daß allein die Tatsache, daß etwa die Entwicklung in China heute noch nicht angemessen dargestellt wird, nicht beweisen kann, daß hier bürgerliche Intellektuelle dominieren. Ich meine, das Kriterium, was ein bürgerlicher Intellektueller ist, bemißt sich heute nur nach der Stellungnahme zur Solidarität mit den Arbeitern. Natürlich ist die Diskussion in der Presse in der letzten Zeit in gewisser Weise auf die Rolle des eigenen Landes beschränkt gewesen, aber man hätte noch eine Weile zuwarten müssen bis zu der Behauptung, daß etwa die Probleme der Dritten Welt in der Presse der CSSR nicht angemessen berücksichtigt würden. Ich glaube, daß es in der Tschechoslowakei ein ganz hartes Kriterium dafür gibt, daß in den letzten Monaten keine restaurative Entwicklung vonstatten ging. Das Kriterium ist die ganz klare Ablehnung der Wiederzulassung einer sozialdemokratischenpartei. Ich hätte in dem Augenblick an der progressiven Entwicklung in der CSSR gezweifelt, wo man diesem Gedanken nähergetreten wäre. Da dies nicht geschehen ist, können wir doch einigermaßen sicher sein, daß hier eine sozialistische EiA wicklung imgange war und weitergelaufen wäre.

KRIPPENDORFF: Unsere Positionbesteht darin, daß wir einen Zweifrontenkrieg kämpfen müssen. Wenn wir eins verhindern müssen, dann, daß wir uns in die Situation manipulieren lassen: Wir kennen keine Parteien mehr, wir kennen nur noch Deutsche. Wir müssen vielmehr jetzt genau wieder Parteien erkennen. Ein zweites: Es wurde hier wiederholt auf Parallelen zwischen Vietnam und der Aktion in der CSSR hingewiesen. Wir müs-senhieraber auch differenzieren. Wenn ich das richtig sehe, so gibt es eine innere Logik, die die Sowjetunion zu ihrer Intervention veranlaßt hat, genau wie eine sehr präzise Logik vorhanden ist in dem Völkermord der Amerikaner in Vietnam. In beiden Fällen haben konkrete Systeme aufgrund einer konkreten Logik ihrer Apparate und ihrer Tkon-kreten Interessen gehandelt. Aber was ist der Unterschied? Der Unterschied liegt darin, daß in Vietnam in der Tat die Herrschaftsschichten, das gesamte gesellschaftliche System der USA langfristig strategisch auf dem Spiel stehen; daß man sehr genau weiß, daß ein Verlust hier in Vietnam zu einer qualitativen Veränderung auch der amerikanischen Gesellschaft führen muß. Der Unterschied dazu scheint mir darin zu liegen, daß die Logik der sowjetischen Intervention die Logik eines Apparates ist, der um seine konkrete Herrschaft fürchtet, wobei es aber nicht um die qualitative Veränderung der sowjetischen, d.h. der sozialistisch sich entwickeInkönnendenGesellschaftsordnung geht. Hier ist eine Apparatlogik, aber keine qualitative gesellschaftliche Logik im Spiel, wenngleich man konzedieren muß, daß beide in gleicher Weise mit einer gewissen Logik intervenieren. Insofernkommt es uns nicht darauf an, allgemein moralisch zu protestieren gegen Intervention an sich, sondern wir müssen diese Moral jedesmal wieder politisch konkretisieren, denn nur eine konkrete Politik hat ihrerseits den Anspruch, dann auch moralische Urteile fällen zu können.

MESCHKAT: Ich glaube, daß wir es uns abgewöhnen müssen - und ich glaube, auch diejenigen Genossen in der SED, die weiter mit uns zusammenzuarbeiten wünschen, sollten es sich abgewöhnen - zu vermuten, daß irgendeine tiefe und uns verborgene Weisheit hinter den jeweiligen Entscheidungen des ZK der KP der UdSSR steht. Jemand, der nicht versucht, aufgrund der jetzt vorhandenen Informationen sich ein politisches Bild zu machen, wie wir das ja auch in anderen Fällen tun, wenn nicht-sowjetische Interventionen infrage stehen, jemand der meint, er müsse in diesem Falle abwarten, dessen Vernunft hat abgedankt und der ist für mich, jedenfalls in der nächsten Zeit, auch kein Partner mehr für punktuelle Zusammenarbeit. Das zweite, was ich sagen möchte, betrifft den sogenannten demokratischen Sozialismus. Ich erinnere mich, daß es kürzlich bei einem internationalen Treffen eine Diskussion gab, auf der tschechische Vertreter ihren Standpunkt darlegten und sagten, sie wollten so etwas finden wie einen Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Einer der Vertreter Indonesiens, des jetzigen indonesischen Regimes, stand daraufhin auf und sagte: Das ist ja wunderbar, sowas versuchen wir im Moment auch mit unserer neuen Ordnung in Indonesien. Also, man muß sich auch hier vor bestimmten Solidarisierungen hüten, und man muß ganz laut sagen: Eine Solidarisierung mit dem, was zum Beispiel die Herren Brandt, Schiller und Wilson unter demokratischem Sozialismus verstehen, mit dem, was zum Beispiel Dubcek versucht hat, empfinde ich für Dubcek als diskriminierend. Wir sollten auch der Argumentation von Harry Ristock nicht ganz folgen. Ich halte es auch für richtig, daß man sagt, es gibt für uns mit diesen Leuten, die an der Spitze der CSSR stehen, nur eine bedingungslose Solidarität. Da sind wir noch einig. Das heißt aber nicht, daß man alle Schritte ihrer vergangenen Politik nun unterschreibt und glaubt, sie haben im Interesse des tschechoslowakischen Volkes die einzig denkbare und richtige Politik betrieben, und daß man die dann noch mit seinem eigenen Sozialismusmodell identifiziert. Hier ist eine sehr viel diffizilere Analyse nötig. Es ist doch klar, daß es in einem Land, das eine so lange Periode stalinistischer Deformation mit noch viel ernsteren Begleiterscheinungen als zum Beispiel in der .DDR hinter sich hat, unkritische Begeisterung für den Westen gibt, die erst einmal in Keiner Periode freier Diskussion überwunden werden muß, damit dann in sozialistischer Richtung weitergearbeitet werden kann. Viele Dinge waren in der Entwicklung der CSSR noch nicht ausgestanden. Aber eines ist sicher, und dazu müssen wir uns als Sozialisten bekennen: Daß diese Entwicklung tatsächlich aufgrund der inneren Auseinandersetzung in einem solchen Lande in freier Diskussion weitergetrieben werden muß.