Internationaler Vietnam-Kongreß
17.18.Februar 1968 Westberlin
DOKUMENTATIONDer Kampf des Vietnamesischen Volkes
Herausgegeben vom SDS Westberlin und Internationales
und die Globalstrategie des Imperialismus
Nachrichten und Forschungs-Institut (INFI)
Redaktion Sybille PlogstedtWestberlin 1968
Vorwort Die Internationale Vietnam-Konferenz in Westberlin am 17. und 18. Februar wurde bestimmt von der Erkenntnis, daß der Imperialismus, der die Befreiungsbewegung in Vietnam zu zerschlagen sucht, ein weltweites System ist, dessen Ausprägung zwar verschieden, seine wesentliche Bestimmung aber, Repressionsmaschinerie gegen die Emanzipation der Menschheit zu sein, überall identisch ist. Es ergeben sich also unterschiedliche Bedingungen und somit besondere Formen des Kampfes, die zu zerbrechende Macht bleibt die gleiche. Solidarität mit dem vietnamesischen Volk bedeutet für uns, Ho Chi Minhs Aufforderung an die italienischen Kommunisten "Errichtet die Revolution in eurem eigenen Land" zu übernehmen und an dieser Aufgabe zu arbeiten.
Unsere bisherige Solidarität mit der vietnamesischen Revolution war noch relativ abstrakt. Zwar konnten wir durch systematische Vermittlung von Aufklärung und Aktionen die vietnamesische Revolution zu einer Produktivkraft in unserer eigenen politischen Auseinandersetzung werden lassen: Das zunächst innerhalb der Universität entstandene antiautoritäre Lager erreichte durch die sich immer weiter ausdehnende US-Aggression ein klareres Bewußtsein über den Charakter des Kapitalismus, weitere Gruppen konnten mobilisiert werden; unsere Kampagnen trugen die Widersprüche in die verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen, Schulen, Universitäten und Kirchen und ansatzweise auch in die Gewerkschaften und Parteien, verschärften sie, trugen also dazu bei, die autoritären Strukturen dieser Institutionen zu entlarven.
Blieb das antiautoritäre Lager zunächst systemimmanent auf einer liberalen Stufe und forderte die Beendigung des Krieges, so erreichte es im Prozeß der Aufklärung bald eine sozialistische Position, solidarisierte sich mit der FNL und begann die Revolution als einen autoritären Akt gegenüber dem Klassenfeind und die libera len Momente seiner eigenen Position selber als autoritär, d. h. die sozialistische Position schwächend, zu begreifen. Unsere Hilfe veränderte sich vom Kauf von Medikamenten zum Kauf von Waffen.
Dennoch blieb die Solidarität notwendigerweise abstrakt, solange sie sich nicht als ein konkreter Kampf zur Zerschlagung des Imperialismus in den Metropolen selbst verstand; es war jenes Bewußtsein aufzuheben, das die konterrevolutionäre Gewalt der USA in Vietnam nur als "Unglücksfall" verstand, wie auch Jenes, dem die Rolle des resignierten Individualisten in verzweifelter Identifizierung mit den Guerilleros aufgehoben schien. Auf der anderen Seite bleibt es ebenso resignativ, die europäische Arbeiterbewegung nicht wirklich historisch zu verstehen, Momente aus ihr zu fetischisieren und ihre theoretische und praktische Tradition ungebrochen für unsere Aufgaben heute zu übernehmen, ohne die neuen Bedingungen des revolutionären Kampfes umfassend zu berücksichtigen. Entscheidend werden diese durch den ständig wachsenden Widerspruch zwischen den Metropolen und der Dritten Welt bestimmt.
Es ist unsere Aufgabe, die Vermittlung des antiimperialistischen und des antikapitalistischen Kampfes am Ende der europäischen Rekonstruktionsperiode aufzuzeigen, um in diesem Prozeß eine revolutionäre Strategie für Europa zu entwickeln.
Während die sozialistische Bewegung heute national organisiert ist, hat der amerikanische Imperialismus die unterentwickelt gehaltenen Länder der Dritten Welt wie die meisten anderen kapitalistischen Länder in ein internationales System integriert. Ermöglicht wurde diese Entwicklung unter anderem durch den Gegensatz zu den sozialistischen Ländern und durch die besonders während des Zweiten Weltkriegs angewachsenen Produktionskapazitäten in den USA. Die übrigen imperialistischen Länder waren durch den Krieg so geschwächt, daß sie zunächst nicht mit den Amerikanern konkurrieren konnten, ja ihre jeweiligen Machtgebiete, um sie für das kapitalistische System zu retten, den USA überantworteten.
Die militärische Präsenz und die Arbeit des CIA bedrohte direkt jede gesellschaftliche Alternative. Der Anti kömmunismus verdächtigte jede fundamentale Demokratisierung der Gesellschaft und weitete sich über Stipendien, Forschungsaufträge, Abwerben von Wissenschaftlern, Monopolisierung des Lizenzenmarktes, die Arbeit der Amerika-Häuser usw. zu einem Kulturimperialismus aus, der die Amerikanisierung der europäischen Wirtschaft folgerichtig begleitete.
Die unter anderem durch die zu niedrige Kaufkraft der Massen in den USA hervorgerufene zu geringe Auslastung der Produktionskapazitäten und die damit verbundene Verminderung der Investitionschancen wird teilweise durch erhöhte Rüstungsindustrie und Kriegsabenteuer ausgeglichen. Die dadurch verursachten toten Kosten und die durch den Krieg in Vietnam notwendig erhöhten Importe und gesenkten Exporte führten zu einer defizitären Handelsbilanz, zu einer inflationären Entwicklung.
Gleichzeitig verstärkten die amerikanischen Monopole ihre Konkurrenz auf dem europäischen Markt, dessen Verbrauch inzwischen dreimal so schnell wächst wie der amerikanische. Sie investierten speziell in den Sektoren der Wirtschaft mit besonders hoher Wachstumsquote und kontrollieren bereits im Bereich der Elektronik den größten Teil der Produktion. Die amerikanischen Unternehmen in Europa sichern ihre Investitionen inzwischen zu neun Zehnteln aus europäischen Finanzquellen, nicht zuletzt durch Subventionen der jeweiligen Regierungen. Dagegen sind die Dividenden, die die amerikanischen Firmen aus Europa zurückschicken, bereits höher als das Kapital, das aus den USA nach Europa fließt. Die Kosten für die Konterrevolution werden verschleiert und auf die Massen in den abhängigen kapitalistischen Ländern abgewälzt.
Die zunehmende Internationalisierung des Kapitals sollte nicht über die Widersprüche hinwegtäuschen, die auf den internationalen Märkten durch nationale Konkurrenz entstehen. Der Rückzug der einstigen Kolonialländer auf europäische Ebene, die Versuche einer Stärkung des europäischen Marktes im internationalen Wettbewerb als Grundlage eines neuen Stadiums des Imperialismus sind der Ausdruck dieser Widersprüche. Die Konkurrenz nationaler Interessen ist jedoch keine akzeptable Alternative, die die europäischen Staaten von den imperialistischen Interessen der USA lösen kann.
Ein Zusammenschluß europäischer Staaten könnte ähnliche Ansprüche auf politische Einflußsphären als wesentlichem Element imperialistischer Politik erheben, wie die USA es heute tun. Der wirtschaftliche Druck als Mittel dieser Politik ist bereits in den Verträgen der EWG und den Bestimmungen über die Assoziierung der Länder angelegt, die sich der Arbeitsteilung auf europäischer Ebene unterwerfen wollen. Die Unterzeichnung der EWG-Verträge kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 27. März 1957: "Die Vorstellung, daß wir, gleichsam in ihrer letzten Stunde, an der europäischen >Kolonialpolitik< beteiligt werden, hat etwas Erregendes..." Hans von Boeckh, der als Mitglied der bundesdeutschen Delegation an dem Abschluß des Vertrages beteiligt war, kommentierte den Erfolg der Delegation auf einer Wirtschaftskonferenz in Königswinter (22./23. März 1957): "Früher pflegte man große Ereignisse dieser Art durch Feldherren, Generäle und Schlachten zu gestalten. Heute machen wir es mit Verträgen; ich glaube, daß das, was wir auf diese Weise mit juristischen Artikeln geschaffen haben, mindestens ebensogut, hoffentlich besser und auch beständiger ist." Über die Assoziierungsverträge konnte z. B. der französische Imperialismus die formal von ihm losgelösten Länder West- und Zentralafrikas in seiner Einflußsphäre festhalten.
Gemeinsame Projekte, die eine größere Ausweitung der Technik ermöglichen, die allein der Abwerbung der Wissenschaftler durch die USA begegnen können, sowie eine zunehmende Konzentrierung und Internationalisierung des Kapitals im Rahmen der EWG sind das Produkt dieser Entwicklung. Während im Jahre 1958 in 120 französischen Gesellschaften westdeutsche Großunternehmen als Partner füngierten, betrug diese Zahl 1962 bereits 500. Während im Jahre 1957 westdeutsches Kapital in Höhe von etwa 11 Millionen Dollar in Frankreich investiert wurde, erhöhte sich dieser Betrag bis zum Jahre 1961 auf etwa 68 Millionen Dollar jährlich (vgl. Imperialismus heute, Berlin 1965, p. 504). Diese Liierung französischen und bundesrepublikanischen Kapitals konnte bisher jede politische Krise in der EWG auffangen. "Eine Zerstörung des Gemeinsamen Marktes durch de Gaulle würde für die aufstrebende Industrie Milliardenverluste bedeuten, zu Arbeitslosigkeit und Bankrott führen" (Der Tagesspiegel, 8. 7. 1965, S. 3).
Die Erfolge der Politik des Gemeinsamen Marktes können nicht die genuinen Züge kapitalistischen Profitstrebens in Europa verbergen. Das haben die spanischen Studenten erkannt, als sie mit der Forderung nach einem sozialistischen Europa den falschen Antiamerikanismus Servant-Schreibers ablehnten. Nicht Antiamerikanismus ist das Ziel der internationalen Solidarisierung mit dem Kampf des vietnamesischen Volkes, sondern der Kampf gegen jeden Imperialismus.
Der Vorwurf der "liberalen" Bourgeoisie, der linke Antiamerikanismus stärke den rechten, stützt sich auf einen Zusammenhang, der nicht von der linken Opposition gesteuert wird, auf den Zusammenhang von Krieg und ökonomischer Krise. Während der Krieg für die Imperialisten noch immer ein Mittel der Stabilisierung der ökonomischen Situation ist, das eine ständige Ausweitung und Auslastung der Produktionskapazitäten erfordert und so wiederum zu einer Ausweitung des Krieges führt, kann sich wohl für Teile der nationalen Bourgeoisien die Beteiligung an der zunehmenden Verflechtung nachteilig auswirken, so daß diese den Kampf der Amerikaner "für die Freiheit der westlichen Welt" aus dem Interesse eigener politischer Vorherrschaft, i. e. Sicherheit eigener Profite, ablehnen; der Kampf linker Sozialisten gegen den internationalen wie den nationalen Faschismus kann diese Widersprüche zwar aufzeigen, verstärken und ausnützen - nicht aber produzieren. Der liberale Staat entwickelt nationalintegrative Formen des autoritären Staates, dessen Forderungen nach weitgehender Vermeidung einer Überfremdung durch ausländisches Kapital den Zielen der nationalen - auf dem internationalen Weltmarkt unwesentlichen Bourgeoisien dient. Die NPD vertritt diesen Antiamerikanismus ebenso wie General de Gaulle (vgl. Mandel).
Ihre Basis findet diese Politik in der ökonomischen Verunsicherung, in der Undurchschaubarkeit gesellschaftlicher wie ökonomischer Prozesse, die durch ideologische Versatzstücke dem Individuum erklärbar gemacht werden. Die Konkurrenz im internationalen Maßstab, das Machtstreben der nationalen Bourgeoisien werden verstanden in einem ethnozentrisdien Blickwinkel, der die Beteiligung der Unbeteiligten subjektiv ermöglicht. Antiameri-kanismus als Reflex unkontrollierbarer Machtverhältnisse, Angst vor dem ökonomisch Mächtigeren, kommt dieser subjektiven Beteiligung des autoritären Bewußtseins nahe.
Antiamerikanismus dieser Art deckt sich mit der irrationalen Struktur des ethnozentrisdien Vorurteils; der "Antiamerikanismus" der Linken dagegen muß in der Vermittlung des Kampfes gegen die einheimischen Bourgeoisien gerade die Irrationalität des Vorurteils der Rechten und so die Widersprüche des gesamten kapitalistischen Systems aufzeigen.
Der Westberliner Vietnam-Kongreß war ein erster notwendiger Schritt in der Richtung. Es ergibt sich aus der Situation des Imperialismus in Europa wie aus der Situation der Linken, daß er nur international bekämpft werden kann.
Eine Wiederbelebung des sozialistischen Internationalismus in Europa war auf diesem Kongreß über die vietnamesische Revolution möglich, weil die Solidarität mit der vietnamesischen Revolution zu einer wichtigen politischen Aufgabe für alle sozialistischen, linkssozialistischen und kommunistischen Organisationen geworden ist. Gerade die vietnamesische Revolution zeigt uns, wie man Sektierismus und falsche Widersprüche überwindet. Zwar konnte auf der Konferenz noch keine grundlegende theoretische Diskussion geführt werden, die Referate hatten zum Teil einen in diesem Stadium notwendigen agitatorischen Charakter, aber es zeigten sich die Ähnlichkeiten im antiimperialistischen Kampf, die Notwendigkeit einer Koordination und als Perspektive die Möglichkeit eines Internationalismus neuen Typs, der aus diesem gemeinsamen antiimperialistischen Kampf resultieren könnte.
Diesem Internationalismus entspräche eine weiterzuentwickelnde Theorie und Praxis, die die falschen Alternativen "Vietnam" oder "Arbeiterpolitik" überwinden und aufweisen, daß die Krisenmomente innerhalb des Gesamtsystems des amerikanischen Imperialismus zu begreifen sind. Eine neue Stufe der Organisationsform müßte den Provinzialismus der verschiedenen sozialistischen Gruppierungen überwinden, eine überregionale und internationale Zusammenarbeit an bestimmten Projekten erreichen. Ein erster Versuch, diese Aufgabe zu lösen, ist das Internationale Nachrichten- und Forschungs-institut (INFI) des SDS-Landesverbandes Westberlin. Der Gefahr solcher Institute, die aus der Zusammenarbeit an bestimmten Projekten über eine kurzgefaßte Taktik erwachsen kann, kann nur in der weiteren Festigung marxistisch-leninistischer Positionen im antiautoritären Lager begegnet werden. Erst wenn die Liberalen und Antiautoritären nicht mehr jede organisatorische Strukturierung über einen falsch verstandenen Antistalinismus als Verselbständigung einer Bürokratie verdächtigen können, erst über eine Organisationsstruktur, die demokratisch und verbindlich bleibt, kann eine sozialistische Strategie entwickelt werden. Das verbindliche Moment solcher Organisationsstruktur könnte die spontan mobilisierten Massen anleiten, einen andauernden revolutionären Kampf zu führen, indem sie, an ihren unmittelbaren Interessen anknüpfend, die Auswirkungen des amerikanischen Imperialismus aufzeigt und beginnt, das gewerkschaftlich integrierte Bewußtsein der Massen in ein Klassenbewußtsein umzuwandeln.
Wolfgang Dreßen, Sibylle Plogstedt, Gerhart Rott