AStA der Freien Universität Berlin
Die Widersprüche des Prager Sozialismus
Aus: Der Tagesspiegel vom 10. September 1968, S. 6
Jugendliche & brennende sowjetische Panzer in Prag August 1968
Wenn man in diesen Tagen die westlichen Zeitungen liest, so müßte man erwarten, daß noch in diesem Jahr in der Bundesrepublik und West-Berlin der Sozialismus eingeführt wird, daß in den nächsten Monaten die Großbetriebe verstaatlicht die Pressekonzerne entflochten, die Betriebe, Universitäten und Schulen endlich von Arbeitern, Angestellten Studenten und Schülern selbst verwaltet werden. Mit einem Wort: dal3 der Kapitalismus abgeschafft wird.
Presse, Rundfunk, Fernsehen, Regierung und Opposition sind sich einig in der emphatischen Unterstützung, ja Indentifizierung mit dem tschechoslowakischen Sozialismus einem "humanen Kommunismus". Nun, warum fangen sie nicht an, diese Gesellschaftsordnung zu verwirklichen?
Die Antwort ist einfach: Die Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag ist ein Geschenk des Himmels für die Verwalter dieses Systems, die Entrüstung heucheln.
Mit dieser Intervention hat man endlich eine Gelegenheit, die Flamme des Antikommunismus genüßlich wieder anzuheizen. Denn besser als Notstandsgesetze zur Unterdrückung der Opposition ist ein Obergroßer, häßlicher, drohender Außenfeind, die Sowjetunion, die mit allen Übeln belastet ist und das eigene System schneeweiß erscheinen läßt.
Unsere Auffassung von Sozialismus unterschied sich bereits vor der Invasion fundamental von dem bürokratisch erstarrten System der intervenierenden Staaten.
Die Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in der CSSR hat erneut mit brutaler Offenheit demonstriert, daß es dem sowjetischen System nicht gelungen ist qualitativ neue Beziehungen zwischen den Menschen und damit auch zwischen sozialistischen Ländern zu schaffen.
In Prag und Bratislava wurde versucht, eine Grundvoraussetzung jedes demokratischen Sozialismus zu verwirklichen: nämlich die offene Diskussion unterschiedlicher sozialistischer Position.
Daß dabei zunächst ein starker Nachholbedarf zu beobachten war, darf nicht verwundern und ist voll der bürokratischen Erstarrung vor dem Januar-Plenum zuzuschreiben. Der neu gewonnene Spielraum bot zum erstenmal die Möglichkeit, sozialistische Politik links von Moskau zu definieren: Der Versuch, Fraktionsbildungcn innerhalb der KPC zu erlauben, könnte zu einem Wiedererwachen dcr sozialistischen Theorie aus dem monolithischen,von oben verordneten Dogmatismus führen.
Die Aufhebung der Pressezenzur gab den Weg frei zu einer umfassenden Information der Bevölkerung, dic damit auch die Voraussetzungen eigenen kritischen Denkens geliefert bekam. Daß gerade die Presse zum Teil von bürgerlichen Journalisten mit sozialistischer Terminologie besetzt war, macht das Unvermögen des stalinistischen Systems deutlich, innerhalb von 20 Jahren ein sozialistisches Bewußtsein wenigstens in der Avantgarde zu erzeugen.
Die Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen in allen Bereichen bot zumindest tendenziell die Chance, zu ciner Selbstbestimmung der Massen zu gelangen.
Wenn wir dennoch einige kritische Momentc in der Entwicklung der CSSR hervorheben, so sind damit Chancen und Aufgaben bezeichnet, Uber die noch nicht endgültig entschieden war, deren Verwirklichung mit der Invasion jedenfalls abgeschnitten oder stark verzögert wurde.
Der Prozeß der Liberalisierung der CSSR hat bisher ausschließlich den formal-politischen Bereich umfaßt und ist nicht fortgeschritten bis zum gesellschaftlichen Bereich. Es gab zwar die Aufhebung der Pressezensur, den Abbau der willkürlichen Parteibürokratie, aber es gab keine grundlegende Demokratisierung des gesamten wirtschaftlichen Bereichs. Dennoch muß sich jede Verbesserung an diesem Bereich messen: Die meisten Menschcn arbeiten acht Stunden oder mehr in Fabriken, Büros und Universitäten. Die Demokratisierung in Form der Selbstverwaltung dieser Bereiche ist ausschlaggebend für die Humanisierung der Gesellschaft. In der CSSR gab es (noch) keine radikale Demokratisierung der Wirtschaft. Schon vor dem Januar-Plenum und erst recht später wurde in den Betrieben eine radikale Abstufung aller Löhne und Gehälter durchgeführt. Die soziale Kraft, die die ganze Entwicklung in der CSSR getragen hat, war nicht die Arbeiterklasse, sondern die Schicht der Technokraten und Intellektuellen.
Daß im Laufe dieser Entwicklung sich die Technokraten mit der Abstufung der Löhne und der Einführung von Marktmechanismen in die sozialistische Wirtschaft die größten Vorteile und Privilegien zuschanzen wollten, ist bedenklich. Es war immer das Ziel sozialistischer Revolutionen, die Lasten des Áufbaues und die Lasten der Arbeit einer Gesellschaft gerecht zu verteilen. Wenn jetzt durch die Differenzierung der Löhne wieder eine Umverteilung dieser Lasten zugunsten der privilegierten Schichten von Intelligenz und Management vorgenommen wird, so trägt das nicht zur Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft bei, sondern verstärkt im Gegenteil die Ausbildung schon vorhandener Schichten.
Drittens gab es in der CSSR keinen sozialistischen Internationalismus, das heißt es gab keine aktive Unterstützung dcr sozialistischen Befreiungsbewegung, vor allem in der Dritten Welt. Statt dessen übertrug die CSSR das Modell der friedlichen Koexistenz auf die Länder Asiens, Lateinamerikas und Afrikas. Ihre Unterstützung mußte sich daher im besten Falle auf das bloß Deklamatorische beschränken.
Für die sozialistische Opposition der Studenten, Schüler und Arbeiter in der Bundesrepublik und West-Berlin ergeben sich aus der Invasion der CSSR langfristige Konsequenzen: Wir haben in Zukunft einen Zweifrontenkrieg zu führen gegen das kapitalistische System auf der einen und gegen den bürokratischen Sozialismus auf der anderen Seite. Unser Kampf muß sowohl antikapitalistisch wie auch antiautoritär sein.
Dabei bieten uns die Ereignisse der letzten Wochen in verstärktem Maße die Gelegenheit, aufzuweisen, daß wir ein Modell des Sozialismus vertreten, das nicht mit stalinistischen und bürokratischen Merkmalen behaftet ist.
Unsere Hauptgegner bleiben nach wie vor die Herrschenden des kapitalistischen Systems, die gerade in diesen Tagen dcn Antikommunismus neu beleben wollen. Im Kampf gegen diesen Gegner abcr kann es so lange keine auch nur punktuelle Zusammenarbeit mit der SED oder orthodoxen Kommunisten geben, wie diese sich nicht von der Invasion der CSSR distanzieren.