Was geschieht in den Metropolen?
Spätkapitalismus und Individuum
Aus: Gäng, Peter; Reiche, Reimut,
Modelle der kolonialen Revolution, Frankfurt/m. 1968 S.158ff

Daß das, was in den kapitalistischen "Metropolen" geschieht, über den Erfolg oder Mißerfolg der antikolonialen Revolution bestimmt, ließe sich relativ leicht an Vietnam und Algerien, aber auch an Venezuela, an der Dominikanischen Republik, am Kongo und Iran, an den Philippinen nachweisen. Trotzdem haben weder die Theoretiker der Dritten Welt noch die in den sozialistischen Ländern, noch auch die Sozialisten in den kapitalistischen Ländern selbst bislang eine Theorie und Praxis schlüssig entwickeln können, deren Minimalziel es wäre, die physische Vernichtung der sich emanzipierenden Länder zu verhindern, und die die politische und ökonomische Repression der kapitalistischen Länder gegenüber der Dritten Welt aufzuheben geeignet wäre oder dieser Aufhebung durch die Unterdrückten selbst Vorschub leisten könnte. Es gibt diese Theorie nicht, und es gibt deshalb auch keine ihr angemessene Strategie. Unter diesem Gesichtspunkt sind die folgenden Bemerkungen zu verstehen.

Es läßt sich belegen, daß der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital, zwischen gesamtgesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung in den spätkapitalistischen Gesellschaften objektiv nach wie vor existiert. Aber ebenso läßt sich empirisch belegen, daß dieser Widerspruch heute nicht mehr - weder objektiv noch subjektiv - nach einer revolutionären Lösung drängt. Konkreter: den spätkapitalistischen Gesellschaften ist es gelungen, ein Instrumentarium zu entwickeln, das es ihnen gestattet, der zyklischen Überproduktionskrisen weitgehend Herr zu werden; gleichzeitig hat sich die Lage der Arbeiterschaft so weit verbessert, daß Entfremdung nicht mehr notwendig kongruent ist mit materiellem Elend, daß also Entfremdung auch nicht mehr unmittelbar als durch die Veränderung der Produktionsverhältnisse aufhebbar erlebt wird.

Die politisch-ökonomische Bewegung in den spätkapitalistischen Ländern zeichnet sich durch zwei Tendenzen aus: fortschreitende Konzentration des Kapitals und fortschreitende Anonymisierung des Kapitals. Es gibt nicht mehr den "Kapitalisten", es gibt mehr oder weniger große Unternehmen, in denen die Produzierenden zwar nach wie vor abhängig sind, aber nicht mehr vom Kapitaleigentümer, sondern von einem anonym bleibenden Apparat, der sie verwaltet. Privateigentum an Produktionsmitteln und Verfügungsgewalt über Produktionsmittel haben sich in vielen Bereichen der Wirtschaft getrennt - das Management und der bürokratische Apparat (sei er nun ein privates oder ein staatliches Kooperativ) teilen sich die Arbeit mit den Privatkapitalisten. Von dieser ökonomischen Grundstruktur des Kapitalismus der gegenwärtigen historischen Periode her betrachtet sieht auch die Klassenanalyse dieses Systems anders aus, als es die Klassenschemata klassisch "marxistischer" Theorien vermuten lassen. Alle Hochrechnungen, die durch geschickte Summierung von Arbeitern, Angestellten etc. auf eine Mehrheit der "Lohnabhängigen" kommen, sind ebenso eindrucksvoll wie sinnlos. Zwischen das Proletariat als Klasse der unmittelbaxen Produzierenden (selbst so ist der Begriff noch unscharf) und die Bourgeoisie als Klasse der Eigentümer der Produktionsmittel hat sich die breite Schicht derer geschoben, die die Produktionsmittel oder allgemeiner: die Produktivkräfte von der menschlichen Arbeitskraft bis zu den Arbeitsmitteln der gesamten Gesellschaft verwalten - diese Schicht übt die Macht in den spätkapitalistischen Gesellschaften aus, und ihr ist es gelungen, ihre Ideologie zur Ideologie der gesamten Gesellschaft zu machen. Die Verwaltenden handeln und entscheiden in Übereinstimmung mit den stärksten Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung der spätkapitalistischen Länder: mit den Interessen der Großindustrie. Dies bedeutet nicht notwendig, daß diese Interessen immer unmittelbar und vollständig durchgesetzt werden; sie werden vielmehr mit denen anderer Gesellschaftsgruppierungen mit dem Ziel vermittelt, die Struktur des Systems zu erhalten. Konflikte können sich so nur noch artikulieren als quantitative Differenzen verschiedener Interessengruppen, die in den zuständigen Gremien (Parlamente etc.) scheinbar neutral, realiter aber im Sinne der Systemerhaltung und damit im Sinne derer, deren Herrschaft dieses System ausdrückt, ausgehandelt werden. Auf diese Weise ist die Herrschaft der herrschenden Klassen doppelt gesichert: zum einen in den Institutionen selbst, zum anderen dadurch, daß jeder Anspruch der Beherrschten gleichsam nur in gefilterter Form manifest werden kann, während sich die Beherrschten gleichzeitig durch die Delegierung ihrer Ansprüche an "Interessenvertreter" der systemtranszendierenden Verwirklichung ihrer Interessen begeben.

Diese Form der Herrschaft (oft euphemistisch als "pluralistische Demokratie" bezeichnet) ist ein adäquater Ausdruck der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse.

Sie sind geprägt vom Primat der Proñtmaximierung, dessen systemzerstörenden Momente korrigiert werden durch Eingriffe der überindividuellen Repräsentanz der Verwaltenden (Regierungen). Das "Gesetz von Angebot und Nachfrage" deutet nur scheinhaft auf eine Strukturierung der Ökonomie nach den Bedürfnissen der unmittelbaren Produzenten: schon der Aufwand, der betrieben wird, um die Bedürfnisse der, "Konsumenten" jeweils so zu strukturieren (zu "wecken"), daß sich die Nachfrage dem Angebot anpaßt, zeigt, daß die Nachfrage nur insofern als Variable in den Gesamtzusammenhang eingeht, als sie den Kreislauf von Produktion und Konsumtion im Sinne der Eigengesetzlichkeit der Produktion gewährleistet. Die mit dieser Anpassung der Individuen an die bestehenden Produktionsverhältnisse verbundene Manipulation verschleiert nicht nur den repressiven Zusammenhang der Klassengesellschaft, sondern bindet auch gleichzeitig psychische Energien, die anders in Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen stünden.(1)

Neben die beiden geschilderten Aspekte der manipulativen Disziplinierung der Massen (den öffentlich-politischen und den ökonomischen, der sich fortsetzt bis in die Organisation der unmittelbaren Produktion hinein) tritt als dritter Aspekt der sozialpsychologische, der besonders in der Organisation der Familie und deren Veränderungen deutlich wird.(2) Hier vermitteln sich die verschiedenen Elemente der Repression zur Aufrechterhaltung der irrationalen Produktionsweise. Die Veränderungen in der Familienorganisation, die sich mit dem Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise ergeben haben, liefern gleichzeitig einen Ansatzpunkt zur Beantwortung der Frage nach der subjektiven Artikulierbarkeit der objektiven Widersprüche der spätkapitalistischen Gesellschaft. Am klarsten kann man die unterschiedlichen Situationen der Anpassung an modellhaft vereinfachten Strukturen der klassischen bürgerlichen Familie und der gegenwärtigen, sich auflösenden Familie darstellen. In der patriarchalischen Familie wurde das Kind (insbesondere der Junge, der nachher seinerseits wieder Träger der Anpassung wurde) in die Gesellschaft integriert, indem seine Familie es lehrte, die gesellschaftlichen Mechanismen zu internalisieren, wobei in der Erziehung ein Freiheitsspielraum gelassen wurde, der - positiv ausgedrückt - jedem die Gelegenheit ließ, sich erfolgreich anzupassen. Der Mechanismus läßt sich am besten in Kategorien der Psychoanalyse ausdrücken: der Knabe baute, indem er die Autorität des Vaters verinnerlichte, die ihn für bestimmte Verhaltensweisen mit negativen Sanktionen bestrafte, für andere mit Liebe belohnte, ein Über-Ich als moralische Kontrollinstanz auf. Durch ständige Projektion und Reinternalisierung (unter Gewaltandrohung der Gesellschaft gegen individuelles Fehlverhalten) wurde dieses Über-Ich gestützt un d gleichzeitig die gesellschaftlichchen "Führer" (vom Chef in der Fabrik bis zum Regierenden des Staates) mit ihm identifziert, wodurch deren Herrschaft erst wirksam werden konnte - auch ohne direkte Gewaltausübung.

Die Auflösung der Kernfamilic nun, die mit der Entstehung des Kapitalismus begann, hat einige Konsequenzen für den Mechanismus der Anpassung, die es hier kurz zu skizzieren gilt. Zunächst und vor allem wird der Bannkreis Internalisierung-Projektion durchbrochen, d.h. die unterdrückende Instanz wird immer abstrakter. Damit wandeln sich die Möglichkeiten für das Individuum, die Anpassung zu vollziehen, die Unterdrückung zu akzeptieren. Verändert werden aber auch die Bedingungen, unter denen sich das Individuum gegen die Unterdrückung aufzulehnen vermag. Konnte es in der Vaterzentrierten Familie sich noch mit der Unterdrückung auseinandersetzen, Alternativen zu ihr formulieren, so geht diese Möglichkeit in dem Maße, wie die Repression abstrakt, gesichtslos wird, mehr und mehr verloren. Das heißt, die Negation des Bestehenden schlägt um in ein abstraktes Unbehagen am ßestehenden - sie selbst wird abstrakt; und sogar diese abstrakte Negation ist immer weniger gesellschaftlich vermittelt. Durch Ästhetisierung des Leidens und vorgeformte Artikulation der individuellen Bedürfnisse ist es der Kultur- und Werbeindustrie gelungen, objektive Widersprüche der Gesellschaft als subjektives Versagen zu deklarieren. Das zeigt sich deutlich beispielswcise bei der Begründung der Stellung im Produktionsprozeß: die gängige Ideologie "bei uns kann jeder alles werden" reduziert soziale Gegensätze auf eine Differenz der persönlichen Fähiglseiten. Diese Herrschaftsstruktur, die nicht mehr den autoritativen und autoritären Charakter voraussetzt, sondern durch Herrschende und Verwaltende einerseits und sich ihrer Minderwertigkeit bewußte Individuen anderseits hinreichend stabil erhalten wird, entbehrt freilich der konkreten Gewalt, die das patriarchalische Anpassungssystem auszeichnete. An die Stelle konkreter Gewalt und konkreter Belohnung treten Anerkennung oder Ächtung durch die Gruppe - eine Entwicklung, die eng verbunden ist mit einer individualistischen Ideologie, die Besonderheit und Unauffälligkeit in der Bezugsgruppe zu Leitideen gemacht hat. Und sowenig die Alternative zu der gesellschaftlichen Repression vernünftiger Diskussion innerhalb der Familie zugänglich sind (weil die Familie nicht mehr die sie vermittelnde Instanz ist), sowenig sind sie es in der sozialen Gruppe. Das Ergebnis ist wiederum ein abstraktes Unbehagen, das sich allenfalls als unpolitischer Protest zu artikulieren weiß.

Die entscheidenden Momente dieser Entwicklung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Im Fortgang der kapitalistischen Produktionsweise löst sich die bürgerliche Kernfamilie auf. Gleichzeitig wird

  1. keine neue personalisierte oder personalisierbare Unterdrückungsinstanz geschaffen.
  2. Für den kapitalistischen Reproduktionsprozeß bleibt Repression jedoch nach wie vor notwendig.
  3. Der Härtegrad besellschaftlicher Unterdrückung nimmt sogar im gleichen Maße zu, wie die "Vorunterdrückung" und deren Internalisierung in der Familie abnimmt.

Für das Individuum in der spätkapitalistischen Gesellschaft bedeutet dies :

  1. die Zwänge, denen das Individuum unterworfen ist, nehmen zu;
  2. die konkreten negativen Sanktionen zur Durchsetzung der Zwänge nehmen ab;
  3. die Unterdrückuiig wird immer abstrakter;
  4. da es zu keiner echten Internalisierung kommt, wird das Verhalten unsicherer.

Das Resultat dieser Entwicklung ist zunächst, daß die Bereitschaft des Individuums, sich gegen die ihm auferlegten Zwänge aufzulehnen, zwar wächst, gleichzeitig aber auch unbestimmter, "unpolitischer" wird, da es weniger als zuvor weiß, wogegen es sich auflehnt, noch auch, zu welchem Endzweck es sich auflehnt. Dem Individuum wird seine Auflehnung nur insofern bewußt, als es das Bestehende negiert, ohne konkret zu wissen, zuas es am Bestehenden negiert; aus dieser Unbestimmtheit der Negation resultiert die Unsicherheit in der je eigenen Zielsetzung. Sehr häufig wird die Unbestimmtheit der Negation falsch konkretisiert; dann riclztet sich die Aggression gegen alles und alle. Von hier bis zur Integration in die Ideologie des "jeder gegen jeden" ist es nur ein kurzer Weg. Aber in der abstrakten Negation des Bestehenden liegt auch die Chance, konkrete gesellschaftliche Zielvorstellungeii zu entwickeln. Und dabei spielt nun die welthistorische Entwicklung eine bedeutsame Rolle.

Geht man aus von den oben analysierten Beziehungen der hochindustrialisierten kapitalistischen und sozialistischen Länder einerseits und der sozialrevolutionären Emanzipation der Länder der Dritten Welt anderseits, so zeigt sich, daß in der gewaltsamen Niederschlagung der revolutionären Bewegung der Dritten Welt an einem nur scheinbar dem kapitalistischesn System äußerlichen Punkt die Aggressivität dieser Gesellschaft manifest wird. Es ist dieselbe Aggressivität, die auch nach "innen" schlägt und den Menschen in ihrer eigenen Gesellschaft entgegentritt. Gleichzeitig läßt die Entspannung zwisdien den hochindustrialisierten sozialistischen und kapitalistischen Ländern die Denktabus gegenüber ganz bestimmten Zielvorstellungen zusammenbrechen: Je weniger die Informationen über die hochindustrialisierten sozialistischen Länder durch die Propaganda des Kalten Krieges verzerrt werden, desto weniger wird jede gesellschaftliche Alternative diffamierend mit der Praxis in diesen Ländern identifiziert werden können, und desto seltener wird jede Alternative gleichsam automatisch in deren Entwicklungsschemata fallen müssen. Konkreter gesagt: die gesellschaftliche Wirklichkeit der hochindustrialisierten sozialistischen Länder erscheint immer weniger als die einzige Alternative zu derjenigen der kapitalistischen Länder; sie gilt nicht mehr als die schlecht erfüllte (und deshalb auch nur schlecht erfüllbare) Hoffnung der unfreien Individuen. Diese Entwicklung ergibt den Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich die oppositionelle Haltung vorzüglich von Teilen der Jugend und der Intelligenz zunächst an der manifesten äußeren und der latenten inneren Aggressivität der kapitalistischen Staaten lsonkretisiert. In dem Maße, wie die Opponierenden begreifen, daß die gewaltsame Niederschlagung der kolonialen Revolution kein "zufälliger Fehltritt", sondern eine gesetzmäßige Erscheinung der kapitalistischen Staaten ist, beginnen sie Alternativen zur bestehenden Gesellschaft zu entwickeln, die den zunächst voluntaristischen Impetus transzendieren und die Voraussetzung dafür sind, daß diese Oppositionsbewegung sich mit anderen oppositionellen Strömungen der Unterdrückten in den kapitalistischen Ländern verbinden kann. Eine reale Erfolgschance hat sie freilich erst, wenn sie nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch begreift, daß die Realisierung ihrer Ziele im Kampf gegen das kapitalistische System ebenso von der Entfaltung der nationalen Befreiungsbewegung abhängt, wie der Kampf jener von der Entwicklung in den Metropolen. Erst wenn beide Bewegungen sich verbinden, besteht die Möglichkeit, daß sie ihr allgemeines und gemeinsames Ziel verwirklichen: die Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den Menschen.

Anmerkungen

1) Dieser Zusammenhang ist eingehend analysiert in R. Reiche, Sexualität und Klassenkampf, Frankfurt 1968.

2) Vgl. hierzu besonders W. Reich, Massenpsychologie des Faschismus, 1933.