Zengakuren
Johannes E. Seiffert
UNIVERSITÄT UND
WIDERSTAND IN JAPAN

Trikont - Schriften zum Klassenkampf 13
1969 Berlin, S. 91ff

1968/69 in Perspektive

In- und ausländische Beobachter sind hinsichtlich der japanischen Wirtschaftsentwicklung bis zum Jahre 2 000 fast überoptimistisch. Man malt heute schon Japan als d a s kapitalistische Paradies der Jahr- tausendwende aus, und zwar selbst bei einer erheblichen Steigerung der Militär- und Sozialausgaben, welche beide bislang sehr niedrig liegen.

1968 avancierte Japan zur Industriemacht Nr. 3, im Kapitalismus Nr.2. Die westdeutsche Investitionsquote von 25 Prozent, die schon sehrhoch ist, wird von der japanischen noch weit übertroffen: Japan investiert ungefähr ein Drittel seines Sozialprodukts.

Die japanische Währung ist stabil. Die Zahlungsbilanz von 1968 weist einen - allerdings wohl kaum wiederhol- oder gar übertreffbaren - Überschuß von 1,1 Milliarden Dollar auf. Nach dem Vietnam-Kriegsboom lockt der Vietnam-Friedensboom, der allerdings noch auf sich warten lassen wird. Zu erwartende Umstellungsschwierigkeiten nimmt man gelassen in Kauf. Unsicherheitsfaktoren für 1969 und 1970 sind die Instabilität des internationalen Währungssystems, Maßnahmen gegen die Preissteigerungen und politische und soziale Konflikte.

Die Giganten schließen sich zu Supergiganten zusammen, um im Rennen auf dem Weltmarkt vorn zu liegen. Entlassungen und soziales Unbehagen gegenüber der riesigen Macht der Monopole werden, so hofft die Bourgeoisie, vorübergehende Erscheinungen sein. Der Inlandmarkt ist noch bei weitem nicht ausgenutzt, trotz leichter Überproduktion im Autosektor expandiert die Automobilindustrie fröhlich weiter. Fusionen werden auch hier die Folge sein.

Im Kanto-Gebiet wächst um Tokyo eine Megalopolis; ähnlich im ebenfalls sehr expansiven Bereich von Osaka-Kobe-Kyoto im Kansai-Gebiet /West-Japan). Auf lange Sicht wird Tokyo-Megalopolis Kansai einschließen und sich außerdem nach Norden und Nordosten ausdehnen. Prospektiv ist Japan mehr oder weniger mit Tokyo-Megalopolis zu identifizieren, die japanische Gesellschaft und Politik aber mit dem Establishment einschließlich des linken.

Diese objektive Tendenz schließt eine soziale Polarisierung innerhalb der Megalopolis ein, von der wir nicht genau sagen können, wie weit sie gehen und welchen politischen Ausdruck sie entwickeln wird. "Die Wohnverhältnisse in den Ballungsgebieten spotten jeder Beschreibung", heißt es in dem ansonsten hinsichtlich Japans optimistischen Wirtschaftsteil der Wochenzeitung "Die Zeit" (27.12.68, S. 21. Sp. 3). Jene Wohnverhältnisse werden sozusagen architektonisch überhöht durch die großen Gebäude und Wolkenkratzer der Wirtschaft /Banken, Handel, Industrie); dadurch wird das Auseinanderklaffen von Arm und Reich in Megalopolis anschaulich.

Ein Sektor der jüngeren Generation - der Studenten, der senior high school-Jugend, der jungen Arbeiter - steht der gesamten Entwicklung mit äußerstem Mißtrauen gegenüber. Er hat auf seiner Seite: von strategischer Enteignung bedrohte Bauern; Arbeiter aus einigen Slum-Distrikten. Er ist heute der entschiedene Ausdruck der Polarisierung in Megalopolis. Er ist meist isoliert.

Bei den breiten Massen der Lohn- und Gehaltsabhängigen führt nämlich die rasche Urbanisierung nicht zur Radikalisierung, sondern zu einem Trend, der sich im Stimmenzuwachs für die Sozialdemokraten, Kommunisten und kleinbürgerlichen Neobuddhisten, vor allem für letztere, ausdrückt, - bei Verlusten der (untereinander zweifellos polarisierten) großen Flügelparteien, der Konservativen auf der einen, der Sozialisten auf der anderen Seite. Eher noch relevanter kommt er zum Ausdruck in der rückgängigen Mitgliederbewegung des reformistischen Gewerkschaftsbundes Sohyo und dem Anwachsen sozialdemokratischer und sonstiger gelber Gewerkschaften.

Durch diesen Trend ist zwar auf die Dauer die Vorherrschaft der Konservativen (der sogenannten Liberal-Demokratischen Partei) in Parlament und Regierung bedroht. Jedoch gewinnt die Bourgeoisie mit dem Anwachsen der sozialdemokratischen und vor allem der kleinbürgerlich-neobuddhistischen Parlamentssitze eher einen noch größeren parlamentarischen Spielraum. Die KP wird trotz ihrer verzweifelten Bemühungen, das image des Ordnungsfaktors, der sie zweifellos ist, in der Öffentlichkeit durchzusetzen, von der Bourgeoisie und vom Management in Wirtschaft und Politik noch nicht als koalitionsfähig anerkannt. Wahrscheinlicher als das von SP und KP angestrebte neutralistische Koalitionskabinett mit den kleinbürgerlichen Neobuddhisten ist im Falle einer starken Schwächung der Konservativen eine bürgerlich-kleinbürgerliche oder eine bürgerlich-klein-bürgerlich-sozialdemokratische oder eine bürgerlich-sozialdemokratische Koalition.

Immerhin hat in Japan seit 1945 die außerparlamentarische Aktion eine Tradition. Der parlamentarische Trend zur Mitte ist von einem außerparlamentarischen Trend zur Radikalisierung begleitet. Ersterer ist stärker; immerhin rechnen sich Exponenten des letzteren für 1970 eine Chance aus, der Position des Imperialismus in Asien einen empfindlichen Schlag zu versetzen.

1970 treffen drei heiße Inhalte zusammen: die Verlängerung des sogenannten Sicherheitspaktes zwischen den USA und Japan, der die imperialistische Präsenz in Asien garantiert; die Fortsetzung des Krieges in Südostasien, und zwar in Vietnam selbst oder aber in Laos und Thailand, bei gleichzeitiger Verschärfung der Spannungen in Korea und im Japanischen Meer; die außerordentlichen Schwierigkeiten, die dem Imperialismus daraus erwachsen, daß Okinawa und die Ryukyu-Inselgruppe einerseits an Japan zurückgegeben werden müssen,um einer breiten Massenstimmung entgegenzukommen und dadurch zu verhindern, daß diese sich zu einer für den Imperialismus gefährlich werdenden Massenbewegung auswächst, - daß andererseits der Imperialismus nicht auf die Nuklearwaffenbasen in Okinawa und, ebendort, auf die Basen für die großen Bomber, die in Südostasien eingesetzt werden, verzichten zu können glaubt.

Diese drei heißen Inhalte werden im Vergleich zu den Kämpfen ge gen den sogenannten Sicherheìtspakt im Sommer 1960 noch dadurch besondersverstärkt,daßesinzwischen in den USA eineantiimperialistische Bewegung von noch nicht dagewesener Breite gibt, die mit ziemlicher Sicherheit erwarten läßt, daß sie 1970 ihr Wort mitreden wird. Trotzdem ,ist vor Illusionen zu warnen: Das von der bourgeoisen Macht zur Festung ausgebaute Parlament zu stürmen ist eine Sache, aber den Parlamentarismus, diese Einschränkung der Demokratie, zu beseitigen, eine andere. Letzteres ist nur möglich im koordinierten und zugleich institutionsspezifischen Kampf um die inhaltliche Demokratisierung der Betriebe und der anderen I nstitutionen.

Wie versucht die Bourgeoisie der Gefahr des Zusammentreffens dreier heißer Inhalte im Jahre 1970 zu begegnen? - Sie versucht, von ihnen abzulenken mit Hilfe der Weltausstellung in Osaka, und bei dieser Gelegenheit, wie bei der Olympiade 1964 in Tokyo, auf der nationalen Gefühlsklaviatur zu spielen. Sie hofft, am Ende sogar die antinukleare Allergie der japanischen Massen einzuschläfern; schon hat Ministerpräsident Sato einen Versuchsballon losgelassen mit seiner öffentlichen Äußerung, die Verbringung nuklearer Waffen nach Japan würde nicht verfassungswidrig sein. US-amerikanische N-Waffen nach Japan zu bringen vvürde gestatten, Okinawa wieder mit Japan zu vereinigen, ohne daß die N-Waffen aus Okinawa eliminiert zu werden brauchten. Und die Bourgeoisie baut Kasumigaseki, das Tokyoer Regierungsviertel, zur Festung aus und equipiert neben der riot police (Kidotai) auch die (verfassungswidrigen) sogenannten Selbstverteidigungsstreitkräfte mit Schilden, Spezialhelmen und Tränengasgranaten, dazu mit leichten Feuerwaffen, die, falls die vorgenannten Mittel nicht ausreichen, allein oder in Verbindung mit Tanks gegen die Studenten eingesetzt werden sollen.

Alles in allem hofft die japanische Bourgeoisie, die Präsenz des im perialistischen Vernichtungspotentials in Japan und Okinawa über die Runden zu bringen, bis sich die Rückwärtsreformen im japanischen Schulwesen auswirken (traditionelle, teroistische Mythen, Kult der Nationalflagge, Rehabilitierung des früheren Imperialismus, betonte Verehrung des Kaiserhauses, gesteigerte physical education bei Abbau kritischer Reflexion). Dem traditionalistischen Spiritualismus dieser Tendenzen laufen aber objektive gesellschaftliche Entwicklungen zuwider, nicht nur in der Schülerschaft mindestens der senior high schools, sondern im Neokapitalismus selbst: dieser wirkt mit seinen unaufhörlichen Innovationen, seiner ständig weiter gesteigerten technologischen Revolution ungewollt jeglichem geistigen Immobilismus entgegen, und ein solcher ist ein Traditionalismus in jedem Falle. Hinzu kommt die im Neokapitalismus unvermeidliche Verlängerung der Ausbildungszeit für breite Massen; diese hat aber später eine gesteigerte Erfahrung der frustration in work zu Folge, woraus sich revolutionäre Tendenzen ergeben können. Man sieht also, daß der zur Schau getragene Optimismus der bürgerlichen Publizistik und "Futurologie" die Perspektive verschleiert.

Hier ist unsere Betrachtung unversehens bei jener Sctiwierigkeit angelangt, auf die der gesamte Neokapitalismus ("Plan"-Kapitalismus im engen Zusammenspiel von Banken, Regierungen, Konzernen) nicht vorbereitet sein konnte: bei der tendenziell totalen Strukturkrise des Bildungswesens, die in Universitäten und senior high schools begonnen hat.

In Japan ist 1968, nach manchen kleineren und größeren Campus-Konflikten vor allem der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, im Mai, Juni und Juli die Universitätskrise in breiter Streuung ausgebrochen und in ungewohnter Heftigkeit. Diese neue extensive und intensive Quantität ist sogleich in eine neue Qualität der Krise der universitären Institution schlechthin umgeschlagen, sodaß es hinter diesen Wendepunkt, hinter die das ganze Land erfüllende Explosionswelle der Campus-Konflikte kein Zurück mehr gibt. Als das U.S. Student Mobilization Committee für den 26. April 1968 zum Streik gegen den Krieg in Vietnam aufrief, folgten in Japan 72 Universitäten diesem Aufruf. Die französische Mai-Revolution gab zusätzliche Ermutigung. Hinzu kamen im Juni im Sanya-Slum-Distrikt sozialistische Arbeiterdemonstrationen. Aber die Streiks vom 26. April waren wohl der Wendepunkt, die Erfahrung eines Erfolgs und das Startzeichen, weiterzugehen. Die Universitäts-Okkupationen (ganz oder teilweise) begannen; bis Ende Juli oder Anfang August sollen in ganz Japan in über 50 Universitäten Campus-Auseinandersetzungen in verschiedenen Formen stattgefunden haben.

Die Reaktion stellt es so dar, als sei die Strukturkrise der Universität Tokyo, der Elite-Universität number one, für das ganze Land, für alle anderen Universitäten signifikant. Die Reaktion hat ein Interesse daran, daß die viel relevantere Strukturkrise der Nihon University /ebenfalls in Tokyol übersehen wird. Wir werden genau umgekehrt vorgehen und die Strukturkrise der Nihon University in den Vordergrund rücken.

Indessen gingen die antiimperialistischen Demonstrationen pausenlos weiter: gegen die strategische Enteignung von Bauern zur Anlage oder zur Verlängerung von Start- und Landebahnen für große Düsenflugzeuge, gegen die Hafenbesuche nukleargetriebener US-Kriegsschiffe, für die Entfernung eines dem Vietnam-Krieg dienenden Lazaretts der U.S. Army aus Tokyo. Am 15. Juni 1968, dem 8. Jahrestag des Todes von Michiko KAMBA, demonstrierten in ganz ,lapan Zehntausende - Studenten, Arbeiter, Intellektuelle, sogenannte ordinary citizens (shimin) - gegen den Vietnam-Krieg und verlangten die Ungültigkeitserklärung des sogenannten Sicherheitsvertrags zwischen den USA und Japan.

Als das entscheidende Novum ist dennoch die Universitätskrise anzusehen, die Universitätskrise großen Stils. Die vereinzelten Campus-Konflikte vor 1968 überschritten meist nicht die bestehende Universitätsstruktur. Von jetzt an aber ist àas traditionelle System selbst in Frage gestellt. Damit aber haben für die Studenten die eigentlich institutionsspezifischen Kämpfebegonnen, mit denen sie zugleich beginnen, proletarisch-revolutionär zu werden, insofern die Demokratisierung des Arbeitsplatzes ein proletarisches Problem ist und kein "studentisches".

Die neue Problematik ruft eine neue politische Kraft auf den Plan: die non sect radicals oder non sect militants. Hier exzellieren die Studenten der Nihon University. In der Kunstfakultät unterstützen die non sect militants die Forderung der Doppelherrschaft (dual power) und fordern eine "Gegen-Universität" mit Studentenkontrolle der Universität, also eigentlich eher "student power", Studentenmacht (zur Problematik vergleiche unten: "Kritische Thesen").

Ansätze zur Kritischen Universität und Gegenuniversität finden sich auch in der naturwissenschaftlich-technischen Fakultät (Riko-gakubul) der gleichen Universität. Hier ist es vor allem die brennende Frage nach dem ideologischen Moment, das in "der Technik" selbst steckt und diese als "ideologisch" ( - klassenmäßig) "neutral" erscheinen läßt. Hier wird deutlich, wie sehr die Totalkrise der universitären Institutionen zugleich Wissenschafts- und Gesellschaftskrise ist in dem produktiven Sinne, daß sie denkerische und theorie-praktische Fragestellungen verschärft. Die gesellschaftliche Problematik der Universität und der Wissenschaft steht plötzlich überdeutlich vor Augen. Jetzt beginnt das wissenschaftliche, pädagogische und politische Leben, erst eigentlich interessant zu werden.

Die neue politische Kraft der non sect militants bringt zur selben Zeit, in der Sampa Zengakuren (Dreifraktionenallianz-Studentenverband) auch formell auseinanderbricht, eine neue politische Bewegung hervor: die Bewegung der zenkyoto (der All Campus Struggle Committees), zuerst als spontane Strömung, im weiteren Verlauf als in neuer Art organisierte Bewegung nicht ohne die Aussicht, eine Vereinigung eines größeren Teils der radikalen Studentenbewegung zu vollbringen.

Wie reagierten in der neuen Situation der großen Universitätskrise die alten und neuen Sekten? Wie fällt der Vergleich mit den non sect militants aus? - Da fällt zunächst auf, daß fast kein Programm existiert; die Sekten waren von der Universitätskrise des Neokapitalismus ebenso überrascht wie dieser selbst. Dies wirft ein kritisches Licht auf die von den Sekten geleistete theoretische Arbeit: sie ist fast durchweg mangelhaft /Ausnahmen: Teile der Internationalist Faction /(Kokusai-ha)) und der betriebsorientierten Gruppen des Jugendkomitees gegen den Krieg ((Shokuba Hansen)); theoretische Aufgeschlossenheit gibt es auch in "Bund" und in den Strukturreform (Kokai)-Gruppen, aber wir sprechen hier von systematischer theoretischer Arbeit). Die Sekten reagieren auf die neue Situation nicht spezifisch, sondern mit "militant struggle". Alle Faktionen reden von "student power", auch "university commune" oder "commune university". Die Inflation unverstandener linker Schlagworte ist etwas beängstigend, ein Verständnis für die Bedeutung der Doppelherrschaft als Methode des Übergangs zum Sozialismus und für eine konkrete historische Rolle der Universität in diesem Übergang fehlt.

Die non sect militants agieren häufig empirisch richtiger, das heißt spezifischer; sie versuchen zum Beispiel, physische Kämpfe zwischen den Faktionen ("uchi-gewa" - "Innen-Gewalt") zu unterbinden und in den zenkyoto die Aktionseinheit im Campus herzustellen. Sehr verwirrend dagegen wirkte das Eingreifen von Kakumaru-ha (Revolutionär-Kommunistische Faktion) sowie auch von Kaiho-ha (Befreiungsfaktion des Sozialistischen Jugendbundes) .

Wir sehen hier eine Art Doppelnatur der Sekten am Werk: einerseits verstärken sie energisch die neue Bewegung, andererseits hemmen sie diese in ihrer Entwicklung, führt der Sektenzwist zu Stagnation und Niederlage (Universität Tokyo!), verleitet ihr Beispiel die neuen Leute zu den alten Fehlern, sodaß die ganze Bewegung nach kurzem Aufschwung bald wieder fast auf der Stelle tritt. Sie wird unvermeidlich steril und monoton, wo Klassenanalyse und Klassenkampf bewußt oder unbewußt ersetzt werden durch eine Art Psychologie und Gruppendynamik, anstatt daß der Klassenkampf diese dort, wo es paßt, in Dienst nimmt. Ich-Schwäche, unbewältigte Vaterrelation (KP - "Yo-yogi"-Komplex), tiefgehende Unsicherheit der Studenten in ihrer Übergangssituation zwischen Kleinbürgertum und Mittelstand einerseits, Proletariat andererseits spielen hier eine verhängnisvolle Rolle. Dies ist eine durchaus internationale Erscheinung.

In der sogenannten Massen-Universität, der Nihon University, wo "Yo-yogi" (KP und Demokratischer Jugendbund) keinen effektiven Einfluß hatte und wo überdies die Studenten am wenigsten elitehaft sind und von vornherein nur mit der Aussicht auf niedere Jobs studieren, war die Bewegung am meisten "creative" - das ist ein Kernpunkt der Lehren von 1968/69!

Die Maoisten (ML-Faktion) stellten sich unter dem Slogan "Dem Volke dienen!" in den Dienst der Massenbewegung in der Nihon University. Auch die Kernfaktion (Chukaku-ha) und andere schlossen sich an. Die Bewegung in der Nihon University ist eìner Monographie wert (Anregung für deutsche Japanologie-Studenten), hier können wir leider nur eine winzige und völlig unzulängliche Skizze geben.

Am 14.10.1966 verbietet der Rektor der Nihon University einen Vortrag von Shingo SHIBATA in der ökonomischen Fakultät. Am 20. April 1967 kommt es zu einer Schlägerei, als Mìtglieder von Sportklubs der Nihon University den Vortrag von Goro HANI in der ökonomischen Fakultät zu verhindern suchen. Die Universitätsautoritäten bestrafen nur Mitglieder der studentischen Selbstverwaltung. Hier ist ein Blick auf die Rolle der Sportklubs in japanischen Privatuniversitäten zu werfen. Diese dienen häufig den reaktionären Universitätsverwaltungen als Streikbrecherorganisationen und als eine Art Privatpolizei. Insbesondere handelt es sich hier um Karate-, Judo-, Box- und Sumoklubs. Besonders schlimm war dies in der Nihon University: diese wurde vom Terror gewisser Sportklubs kontrolliert. Die Studenten dieser Universität hatten keine Freiheit. Erst die Revolte im Juni 1968 brach die Herrschaftsstruktur. Unter den genannten Bedingungen konnte der Kampf in der Nihon University nicht anders als sehr violent sein. Aber diese Violenz war nicht die antiautoritär-elitäre "Gewalt" der Sekten (die hierfür das deutsche Wort gebrauchen), sondern die verzweifelte Notwendigkeit der Masse. Diesen Unterschied klar zu sehen ist für eine schöpferische Weiterentwicklung der Studentenbewegung von äußerster Wichtigkeit. Hier handelt es sich um einen zweiten Kernpunkt der Lehren von 1968/69.

In diesem Horizont ist das Gedicht des Sekretärs des zenkyoto /All Campus Struggle Committee) der Nihon University, Masatoshi TAMURA, zu verstehen:

IN DER BARRIKADE AUFS SPlEL GESETZT DEN
LEBENSFRÜHLING

Zeit unsres Schweigens; ein Wort schnellte ab.
Das geschärfte Wort, in der langen Nacht durchbohrend
steckt´s.

Zur lnsurrektion
Zeige dein eignes Leben
Erdrückter Zorn schmerzt. lange Nacht schmerzt.
Dreieckskopf, auf den Kopf gestellt
Mit wirrem Haar; kleine Nacktheit hebt sich ab
ln der mit Blut gefärbten Welt.
Sprich leise
Mütter können den Kampf verstehn.
Zeit unsres Schweigens in jenem Wort entscheide dich!
Wir müssen siegen.

Unterdrückung war nicht Geschichte.
Schweren Schreckens voll stürzt sie sich auf uns.
Gewalt
Wir suchen Sprache; schaffen wir in der Dunkelheit einen
kleinen Zeitspielraum!

Unterdrückung war nicht Geschichte.
Nacht voll Leidens. Wir erhoben uns.
Wir müssen die lange Nacht wegwerfen.

Der Aufstand kam zu früh.
Wir müssen den organisierten Kampf beginnen.
Schmalen entblöl3ten Leib in die Gewalt!
Zeit unsres Schweigens vergil3 sie nicht.

(Übersetzung: Y. Abe, N.S. Uchida, Ref.)

Nach der Massenerhebung in der Nihon-University organisierten rechtsgerichtete Verwaltungen Tokyoer Privatuniversitäten eine vereinte f a s c h i s t i s c h e Jugend-Terrorbande. Im Herbst 1968 griff d i e s e Organisation eine Barrikade in der Nihon University an, fesselte einige Opfer und schlug sie brutal. - Ferner gibt es eine rechte Studentenorganisation der konservativen Partei (Jiminto); sie hat in der Kansai University in Senriyama bei Osaka eine Massenbasis. Diese Organisation tritt - mindestens bislang - parlamentarisch-demokratisch auf mit nationalistischen Obertönen. Das Hauptmachtmittel der Bourgeoisie gegen die Studentenbewegung bleibt jedoch die riot police (kidotai); das Forschungsinstitut der Polizei, das auch den Ärzten, die Studenten mit schweren Verletzungen durch chemische Kampfstoffe behandeln, nicht die Zusammensetzung der verwandten Substanzen verrät; politische Polizei und,Kriminalpolizei; Universitätsverwaltungen, die mit letzteren kooperieren, um gefangene Studenten, die ihren Namen nicht nennen, fotografisch zu identifizieren.

Zurück zur Entwicklung in der Nihon University. Am 12. September 1967 wird Akehiro AKITA zum Vorsitzenden der studentischen Selbstverwaltung der ökonomischen Fakultät gewählt. Damit beginnt seine Tätigkeit in der Leitung der Emanzipationsbewegung in der Nihon University.

Am 15.4. 1968 gibt das Staatssteueramt in Tokyo bekannt, daß die Verwendung von zwei Milliarden Yen durch die Verwaltung der Nihon University unklar sei. Am 23.5. demonstrieren 2 000 Studenten der ökonomischen Fakultät. Am 27.5. wird zenkyoto (Kampfkomitee der gesamten Universität) gegründet. Versammlungen, welche die öffentliche Verhandlung fordern, Protestversammlungen gegen die Ablehnung der öffentlichen Verhandlung häufen sich.

Am 20. Juni 1968 fordert zenkyoto:

Rücktritt aller Vorstände,
vollständige Offenlegung der gesamten Rechnungsführung,
gänzliche Zurücknahme ungerechter Bestrafungen,
Versammlungsfreiheit,
Abschaffung des Prüfungsunwesens.

Am 11.6. fordern alle Fakultäten von zenkyoto die öffentliche Verhandlung. Ein Angriff rechter Studenten auf diese Versammlung führt zu Verletzungen. Im Gebäude 3 der juristischen Fakultät wird mit dem Bau der Barrikade begonnen.

Am 14.6. beginnt ein selbständiger Lehrbetrieb, am 22.8. die selbständige Verwaltung der Gebäude 5 und 6 der naturwissenschaftlichcechnischen Fakultät durch deren Kampfkomitee.

Am 30.9. findet um 13 Uhr vor der Ökonomischen Fakultät die von Zenkyoto einberufene Generalversammlung statt. Parallel tagen die rechten Studenten in der Ryugoku-Halle. Um 15 Uhr wird in der Ryugoku-Halle die öffentliche Verhandlung abgehalten, die bis um 3 Uhr morgens dauert. Anschließend zieht eine Demonstration von 5.000 Studenten nach Kanda Misaki-cho. Bis 30.9. sind insgesamt 426 Studenten verhaftet.

Ab 4.10. 1968 wird zenkyoto-Vorsitzender AKITA und werden weitere acht Studenten steckbrieflich gesucht. AKITA versteckt sich bei einem Schriftsteller-Ehepaar, wird 1969 beim Schneeschippen vorm Haus erkannt, denunziert und verhaftet.

Am 8.11. greift eine faschistische Bande von 400 Rohlingen die Kunstfakultät an. Am 12.11. greift die riot police an und verhaftet nach dreistündigem Gefecht das gesamte Kampfkomitee der Kunstfakultät - 46 Studenten.

Am 22.11. findet vor der Yasuda-Halle der Universität Tokyo eine gesamtjapanische Studentenversammlung statt unter dem slogan: "Sieg dem Kampf der Nihon University und der Tokyo-University!".

-Soweit unsere kleine Auswahl von Terminen und Ereignissen des großen Kampfs der Studentenbewegung der Nihon University. Er kann als stellvertretend gelten für die im Mai, Juni und Juli auch in Japan ausgebrochene permanente Universitätskrise.

Unterdessen gingen die harten Demonstrationen gegen Imperialismus und Krieg weiter (8.10., 21.10.). Am Okinawa-Tag, dem 28. April 1969, erweist eine konzertierte Aktion der Studenten sowie der Arbeiter und senior high school-Jugend des Antikriegs-Jugendkomitees (um den Preis von fast 1000 Verhaftungen -1 000 Kader, die in den Institutionen fehlen!), daß die Einigungsbemühungen der zenkyoto bis zu einem merkbaren Grade erfolgreich waren, daß aber der elitäre, selbstproklamierte, abstrakte Charakter der Bewegung noch nicht überwunden werden, diese noch nicht einen deutlich proletarischen Charakter gewinnen konnte. Hierfür sind große theoretische, organisatorische und erzieherische Anstrengungen im Schoß der Masse erforderlich, um deren Selbstartikulation vorzubereiten. Denn einzig diese wäre der Wendepunkt der Weltgeschichte.