Signale aus der Provinz
Die Rote-Punkt-Aktion in Hannover 1969
von Franz Haase
aaus: Spezial Nr. 97, 1994 Hannover, S.4

Während der APO-Hochzeit war Hannover politische Provinz, der SDS ein kleiner Haufen, geschart um das von Peter Brückner geleitete Psychologische Seminar der Technischen Hochschule. Aus dem provinziellen Schatten trat Hannover nur einmal, dafür umso spektakulärer und nachhaltiger heraus: Im heißen Juni 1969 mit der "Rote-Punkt-Aktion".

Ein elftägiger politischer Kampf gegen Fahrpreiserhöhungen der privaten Straßenbahngesellschatt ÜSTRA endete mit einer Kapitulation der Obrigkeit, nachdem alle gezogenen Register der Herrschaftstechnik nicht gefruchtet hatten. Weder harte Polizeieinsätze, Spaltungsversuche, noch Mini-Zugeständnisse konnten den Konflikt eindämmen oder gar vorzeitig beenden.

Die Rote-Punkt-Aktion ist zum unverbrüchlichen Bestandteil der (linken) politischen Geschichte der BRD geworden und hat sich zudem dauerhaft in das kollektive Gedächtnis der Hannoveraner eingegraben als kurze, lustvolle Zeit der Anarchie, als Leben in einem "befreiten Gebiet".

Wie konnte es dazu kommen?

Zum 1.Juni 1969 traten Fahrpreiserhöhungen von 33% für Busse und Straßenbahnen in Kraft, deren Legitimität von den politischen Parteien und Gewerkschaften nicht bestritten wurde. Durch Subvention vorsorglich ausgenommen blieben die Schüler/Studententarife, man befürchtete Proteste wie ein Jahr zuvor in Bremen, die nach militanten Auseinandersetzungen zur Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen geführt hatten.

Und doch waren es gerade Schüler und Studenten, namentlich die Gruppierungen der APO - von SDS bis DKP - und die Asten der hannoverschen Hochschulen, die ein Aktionsbündnis bildeten und, wenn auch zögerlich, eine Woche nach der Preiserhöhung zum Protest aufriefen.

Da 1969 die Straßenbahnen in Hannovers Innenstadt noch oberirdisch verkehrten und sämtlich über wenige Knotenpunkte geführt wurden, hatten die anfangs nur von wenigen hundert Demonstranten durchgeführten Blockaden und sit-ins auf den Straßenbahnschienen durchschlagenden Ecfolg: Die Bahnen stellten den Verkehr zeitweilig ein, die Fahrpreiserhöhungen gelangten schlagartig als politische Frage ins Bewußtsein der Bevölkerung.

Als am zweiten und dritten Protesttag mit sich steigernden Polizeieinsätzen - erstmals wurden Tränengasgranaten eingesetzt - die Blockaden zerschlagen werden sollten, trat ein Umstand ein,der in der APO-Geschichte beispiellos ist: Die hannoversche Bevölkerung solidarisierte sich mit der APO, reihte sich in die täglich sprunghaft anwachsenden Demonstrationen ein und wurde darüber hinaus aktiv als Teil des Rote-Punkt-Verkehrs.

Nachdem der massive Polizeieinsatz am dritten Demonstrationstag (Einkesselung, Verhaftung von über Hundert Blockierern) fehlgeschlagen war und die Blockade nach Abzug der Polizei, verstärkt um tausende Hannoveraner stundenlang fortgesetzt wurde, zog das niedersächsische Innenministerium die Polizei bis zum Ende der Auseinandersetzungen zurück, weil "die Böcke nicht mehr von den Schafen zu trennen seien", wie der Einsatzleiter bemerkte.

Da auch vom vierten Blockadetag an die ÜSTRA den kompletten Bahn- und Busverkehr einstellte, gehörte die hannoversche Innenstadt sieben herrliche Sommertage lang den Demonstranten und Bürgern, die auch abends und nachts die innenstädtischen Grünflächen besetzt hielten, diskutierten, Kittners spontanem Straßenkabarett zuhörten oder einfach nur dabei waren.

Als Ersatz für den ausgefallenen Bahn- und Busverkehr hatte sich die APO die Rote-Punkt-Aktion ausgedacht. Zehntausende von handtellergroßen roten Punkten auf weißem Grund wurden an die Autofahrer ausgegeben, die sie an der Windschutzscheibe befestigten und damit signalisierten: ich nehme Einsteiger mit.

Über die verwaisten Straßenbahnhaltestellen geführt, bewältigten Rote-Punkt-Autos selbst den Berufsverkehr, die eine Hälfte der Bewohner transportierte die andere. Studenten und Schüler traten als Einweiser und Ausrufer in Erscheinung. Auf dem Höhepunkt der Aktion fuhr jedes zweite Auto mit dem Roten Punkt, Verkehrsregeln wurden nur noch als Empfehlung betrachtet, des Straßenverkehrs hatte sich "französischer Esprit und englische Fairness" bemächtigt.

Die politischen Forderungen des APO-Aktionsbündnisses: Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen, Kommunalisierung der ÜSTRA (von einigen als "Sozialisierung" mißverstanden), waren einsichtig, und die Parole "ÜSTRA, ÜSTRA, Ungeheuer, erstens Scheiße, zweitens teuer" entsprach dem Verhältnis, das die Hannoveraner zu "ihrer" Straßenbahngesellschaft hatten.

Nachdem sich DGB, DAG, Jusos, Betriebsräte der Großbetriebe VW, Hanomag, Continental und zahllose andere Gruppierungen den Forderungen (teils notgedrungen) angeschlossen hatten, reagierte der hannoversche Stadtrat - von 1945 bis heute SPD-dominiert - mit der Ausrufurig der Rote-Punkt-Aktion zur "bürgerschaftlichen Selbsthilfe" in einer Notsituation, verteilte seinerseits 50000 Rote Punkte und versuchte so, sich an die Spitze der Aktion zu setzen und den Einfluß der APO auf die Hannoveraner zurückzudrängen.

Dem Kalkül der Stadtobrigkeit war kein Erfolg beschieden, die fragile Einheit von APO und Bevölkerung ließ sich so leicht nicht trennen, auch nicht durch Mini-Zugeständnisse wie die Einführung eines Rentner-Tarifs. Demonstrationen und Blockaden hielten solange an, bis der Stadtrat nach tagelangen Sondersitzungen die Ausgangsforderungen des Aktionsbündnises übererfüllte: Die Preiserhöhungen wurden nicht nur zurückgenommen, sondern die Fahrpreise sogar erheblich gesenkt und das Tarifsystem radikal vereinfacht, außerdem die Überführung der ÜSTRA in städtischen Besitz beschlossen. In Hannover wurde dies in Extrablättern der Lokalzeitungen verkündete Ergebnis als großer Sieg gefeiert, und die Rote-Punkt-Aktion für beendet erklärt. Innerhalb der APO war es bereits vor diesem Ende zu heftigem Streit gekommen. Der SDS sah in dem massenhaften Zulauf und der augenscheinlichen Ohnmacht der Obrigkeit eine Chance, den Konftikt zu radikalisieren und bestimmte für sich als neues Ziel der Aktion den Null-Tarif, was die anderen Grup pierungen für utopisch erklärten.

Als aus Frankfurt und Berlin angereiste SDS- Genossen - Krahl, Semler, Horlemann, Knapp, Schmierer aus Heidelberg waren zeitweilig in Hannover - bei den täglichen Kundgebungen mit dem Schwenken von roten Fahnen einen sichtbaren revolutionären touch in die Aktion hineintragen wollten, spielten die DKP und Teile der Bevölkerung nicht mit: Die roten Fahnen wurden heruntergerissen, mit Revolution sollte die Rote-Punkt-Aktion nichts zu tun haben.

In späteren Analysen wird gerade dieser Vorfall besonders heerausgestrichen. Uwe Nettelbeck nahm ihn in "konkret" zum Anlaß, der gesamten Aktion "sozialfaschistische Solidarisierungen mit Volksgemeinschaftscharakter" zu attestieren. Peter Brückner erkannte dagegen in den Angriffen auf die roten Fahnen nur ein irregeleitetes Bewußtsein der Bevölkerung: "Große Teile der sich solidarisierenden Bevölkerung wissen noch nicht, daß die rote Fahne nur interpretiert, was sie selbst zu tun sich endlich anschickten." Brückner sah deshalb in der Rote-Punkt-Aktion vor allem "ihrer selbst nicht bewußte sozialistische Formen der Kommunikation." (Zitate aus "konkret")

Der hannoversche SDS analysierte die Aktion als "kulturrevolutionäre Selbstorganisa tion" und "Präzedenzfall der Dialektik von Reform und Revolution" und lag damit nicht weit von der erschreckten Feststellung der FAZ entfernt, die nach der Kapitulation des hannoverschen Stadtrats um den Fortbestand des Systems bangte: "Ein Präzedenzfall ist geschaffen worden, derjenen revolutionären Kreisen beträchtlichen Auftrieb geben wird."