Paris Mai `68
Der Höhepunkt
aus: Vienet, Rene, Wütende und Situationisten in den Bewegungen und Besetzungen, Paris 1968, dt. Hannover 1977, S.120-123
Im Verlaufe des Vormittags vom 27. Mai legte Seguy den Arbeitern der Renault-Werke in Billancourt die Abkommen vor, die zwischen Gewerkschaften, Regierung und Unternehmern ausgehandelt worden waren. Einstimmig pfiffen die Arbeiter den Bürokraten aus, der - wie seine ganze Rede bezeugt, in der Hoffnung gekommen war, eine "Volkszustimmung" zu diesem Resultat zu erhalten. Vor der Wut der Basis zog der Stalinist sich eiligst hinter ein bis dahin verschwiegenes, aber tatsächlich wichtige Detail zurück: nichts würde ohne die Zustimmung der Arbeiter unterzeichnet werden. Da diese die Vereinbarungen ablehnten, mußten Streik und Verhandlungen weitergehen. Im Anschluß an Renault wiesen alle anderen Unternehmen die Krümel zurück, mit denen die Bourgeoisie und ihre Helfeshelfer gedacht hatten, die Wiederaufnahme der Arbeit zu bezahlen.
Plakate vom Pariser Mai
Der Inhalt der "Vereinbarungen von Grenelle" hatte sicher nichts an sich, was die Arbeitermassen zu Begeisterungsstürmen hätte hinreißen können, die wußten, daß sie schon die virtuellen Herren der Produktion waren, die sie seit zehn Tagen stillgelegt hatten. Diese Vereinbarungen erhöhten die Löhne um 7 % und setzten den gesetzlich festgelegten Mindeslohn (SMIG) von 2, 22 auf 3, 00 Francs herauf. Das heißt, daß der am meisten ausgebeutete Teil der Arbeiterklasse - besonders in der Provinz - der 348, 80 Franc im Monat verdiente, nun mit 520 Francs über eine der "Überflußgesellschaft" besser angepaßte Kaufkraft verfügen durfte. Die Streiktage sollten erst dann bezahlt werden, wenn sie in Form von Überstunden abgearbeitet worden waren. Dieses Trinkgeld belastete das normale Funktionieren der französischen Wirtschaft bereits schwer genug, besonders in ihren Zwangsbeziehungen mit der EWG und in allen anderen Aspekten der kapitalistischen Konkurrenz auf internationaler Ebene. Alle Arbeiter wußten, daß solche "Vorteile" ihnen durch unmíttelbar bevorstehende Preiserhöhungen wieder abgeknöpft werden würden - und noch mehr. Sie f ü h 1 t e n , daß es wesentlich zweckmäßiger wäre, das ganze System, das bis zu seinen äußersten Zugeständnissen gegangen war, wegzufegen, und die Gesellschaft auf einer anderen Basis zu organisieren. Der Sturz des gaullistischen Systems war ein notwendiges Vorspiel zu dieser Umkehrung der Perspektiven.
Die Stalinisten sahen, wie gefährlich die Situation war. Trotz ihrer ständigen Unterstützung war die Regierung in ihrem Bemühen, sich durchzusetzen, wieder einmal gescheitert. Nach dem Mißerfolg Pompidous am 11.Mai, der versucht hatte, die Krise dadurch aufzuhalten, daß er seine persönliche Autorität im Universitätsbereich opferte, hatten nun eine Rede von de Gaulle und die Vereinbarungen, die hastig zwischen Pompidou und den Gewerkschaften abgeschlossen worden waren, eine Krise nicht überwinden können, die tief sozial geworden war. Die Stalinisten fingen an, die Hoffnung auf das Überleben des Gaullismus aufzugeben, weil sie ihn bis dahin nicht hatten retten können und weil der Gaullismus die nötige Triebkraft verloren zu haben schien, um sich an der Macht zu halten. Sie sahen sich zu ihrem großen Bedauern gezwungen, sich in das andere Lager hineinzuwagen, dort, wo sie immer zu sein behauptet hatten. Am 28. und 29. Mai setzten sie auf die Karte des Sturzes des Gaullismus. Sie mußten verschiedene Faktoren berücksichtigen, die sie unter Druck setzten, an erster Stelle die Arbeiter, dann die verschiedenen Elemente der Opposition, die zu behaupten begannen, daß sie an die Stelle des Gaullismus treten würden und denen es also passieren könnte, daß sich ihnen ein Teil derer anschloß, die in erster Linie den Sturz des Regimes wollten. Es handelte sich dabei ebenso um die christlichen Gewerkschaftler der CFDT wie um Mendès-France, um die "Féderation" des zweideutigen Mitterand wie die Versammlung der äussersten Linken zwecks einer bürokratischen Organisierung im Stadion Charléty (1). Alle diese Träumer erhoben im übrigen ihre Stimme nur im Namen der angeblichen Kraft, die die Stalinisten ins Spiel bringen würden, um i h r e n Nach-Gaullismus zu beginnen. Albernheiten, die in der unmittelbaren Folge sanktioniert werden sollten.
Viel realistischer waren die Stalinisten. Sie schickten sich darein, in den zahlreichen und entschlossenen Demonstrationen der CGT am 29. Mai ein "Volksregierung" zu fordern,und waren schon bereit, diese zu verteidigen. Sie wußten wohl, daß dies für sie nur ein gefährlicher Notbehelf darstellte. Wenn sie noch dazu beitragen konnten, die revolutionäre Bewegung zu besiegen, bevor diese den Gaullismus gestürzt hatte, so fürchteten sie zu Recht, daß sie sie h i n t e r h e r nicht mehr besiegen könnten. Bereits am 28. Mai verkündigte ein Kommentar im Radio mit verfrühtem Pessimismus, daß die KPF sich nie wieder erholen würde und daß die Hauptgefahr von den "situationistischen Gauchisten" drohe.
Am 30. Mai offenbarte eine Rede de Gaulles seinen festen Willen, um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Er schlug vor, zwischen baldigen Legislativwahlen und dem sofortigen Bürgerkrieg zu wählen. Regierungstreue Regimenter wurden rund um Paris aufgestellt - und häufig genug fotografiert. Die äußerst erfreuten Stalinisten hüteten sich sehr wohl, zur Aufrechterhaltung des Streiks bis zum Fall des Regimes aufzurufen. Sie beeilten sich, sich den gaullistischen Wahlen anzuschließen, was auch immer sie dafür bezahlen sollten.
Unter solchen Bedingungen bestánd die unmittelbare Alternative in der autonomen Bestätigung des Proletariats oder in der totalen Niederlage der Bewegung; in der Revolution der Räte oder den Beschlüssen von Grenelle. Die revolutionäre Bewegung konnte die KPF nicht entmachten, ohne vorher de Gaulle gefeuert zu haben. Die Form der Arbeitermacht, die sich in der nach-gaullistischen Phase der Krise hatte entwickeln können, fand sich gleichzeitig durch die erneute Behauptung des alten Staates und die KPF blockiert und hatte somit keine Chance mehr, ihrer bereits in Gang gesetzten Niederlage zuvorzukommen.
Anmerkungen
(1) Es war eines der Verdienste der Anhänger Cohn-Bendits im "22. März", die Annäherungsversuche des in Bann gelegten Stalinisten Barjonets und anderer gauchistischer Ökumenehäuptlinge zurückzuweisen, Es versteht sich von selbst, daß die Situationisten darauf nur mit Verachtung antworteten (siehe Anhang: "Adresse an alle Arbeiter")