Günter Langer
Die Rolle des SDS-Berlin in der Revolte des Jahres 1968
Diskussionspapier für ein Treffen ehemaliger
Mitglieder des SDS Westberlin im Februar 1998
Die Perzeptionen der Ereignisse um das Jahr 1968 herum variieren stark, je nach dem wer sie in Worte kleidet. Sie unterscheiden sich nach unmittelbar Involvierten und Beobachtern, nach In- und Ausländern, nach Linken und Rechten. Andere Kriterien böten weitere Differenzierungen.
Klaus Schütz sieht, 30 Jahre nach dem Tode Benno Ohnesorgs, beispielsweise keine relevanten Ereignisse, die im Berlin von 68 stattgefunden hätten, schon gar nicht sieht er irgendwelche Langzeitwirkungen, die davon ausgegangen wären. Die rechtsradikale Junge Freiheit hingegen sieht die heutige Bundesrepublik maßgeblich durch 68 negativ geprägt. Rainer Langhans unterstellt ebenfalls, die Revolte von 68 hätte zwar nicht im althergebrachten Sinne politisch gesiegt, aber immerhin kulturell. Andere ehemalige Akteure haben sich enttäuscht zurückgezogen mit der Erkenntnis, die ganze Bewegung habe nicht viel gebracht, sie hätte nur Zeit verbraucht, die besser anders genutzt worden wäre, wie beispielsweise zum Fahrradfahren (Fritz Teufel).
Vom Ausland her betrachtet, insbesondere aus der US-Perspektive, werden die Ereignisse in Deutschland unter ferner liefen abgehandelt. Ähnlich in Frankreich. Aus der Sicht der in den dortigen Bewegungen Beteiligten war die Revolte in Deutschland Anhängsel einer ursächlich außerhalb Deutschlands stattgefundenen Erhebung. Diese Interpretation ist schon deshalb nicht von der Hand zu weisen, da es sich um eine weltweite Erscheinung gehandelt hat. Erinnert sei an weitere Unruheherde in Mexico, Japan, Italien, Polen und in der CSSR, um nur die wichtigsten zu nennen.
Wenn die Rolle des SDS-Berlin in diesem weltweiten Prozeß bestimmt werden soll, muß die historische Bedingtheit der theoretischen Erkenntnisse als auch der praktischen Aktionen reflektiert werden. Nur auf dem internationalen Hintergrund läßt sich die nationale Besonderheit in Deutschland herausarbeiten und einordnen, läßt sich die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit einer kleinen Gruppe von Akteuren, den SDS-Mitgliedern plus unmittelbarem Umfeld, deuten.
Der wichtigste Faktor des internationalen Aspekts ist sicherlich die Hegemonie der USA über den gesamten Westen und die Krise, in der die Hauptmacht der kapitalistischen Welt intern steckte. Diese Krise hatte zwei wesentliche Quellen:
1. Das Aufbegehren der diskriminierten afro-amerikanischen Bevölkerungsminorität gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung und
2. der Widerstand weiter Bevölkerungskreise gegen die Behandlung des Vietnamkonfliktes, dessen angestrebte militärische Lösung keine Akzeptanz in der Bevölkerungs mehrheit erreichen konnte.
Diese beiden Krisenmomente verstärkten oder verursachten gar die Erkenntnis vieler Studenten über den Demokratiemangel an den Universitäten und in der Gesellschaft allgemein. Überdies schien sich erstmalig "die Jugend" als eigenständige gesellschaftliche Schicht in die Geschichte einzumischen: "'Youth' became a class, a historical subject and the vanguard agent of change", resümierte die PL-Fraktion des SDS in den USA (Vgl. Stanley Aronowitz, When The New Left Was New, in: Sohnya Sayres u.a., The 60's Without Apology, Minneapolis 1984, S. 35). Bei uns wird häufig die 68iger Bewegung auch als "Studentenbewegung" bzw. als "Jugendrevolte" apostrophiert.
Die USA sahen sich von innen heraus infrage gestellt. Diese US-spezifische Krise berührte auch das Selbstverständnis der Hegemonialmacht. Die USA hatten Mühe, ihre Hegemonie ideologisch weltweit aufrecht zu erhalten. In der 3. Welt verloren sie Terrain, in den Industrieländern Westeuropas Vertrauen. Es entstand ein ideologisches Vakuum, in das kritische Theorien eindringen konnten. (Das "geistige Vakuum", die "geistige Leere", oder auch das "politische Vakuum" spielt bei unterschiedlichsten Deutungsversuchen eine zentrale Rolle, und zwar sowohl von linken als auch von rechten Theorieansätzen her, wie z.B. Ines Lehmann oder Günter Rohrmoser für diese beiden Seiten genannt werden können. Interessanterweise beziehen sie sich auf dieses Bild, ohne jedoch Gründe für das Entstehen des "Vakuums" zu benennen). Der einfache Glaube an die allgemeine Nützlichkeit des kapitalistischen Wirtschaftsmodells konnte erschüttert werden, am weitesten in Frankreich. Die Hinnahme autoritärer Herrschaftsstrukturen wurde infrage gestellt, am weitesten in der CSSR. (Die Tatsache, daß die CSSR Teil des SU-Blocks war, spricht nur vordergründig gegen den hier dargestellten Zusammenhang. Wichtig vielmehr war der gegen autoritäre Herrschaft gerichtete Protest des Prager Frühlings, der sehr wohl auch u.a. von linken Kritikern aus dem Westen inspiriert wurde.)
Die Ereignisse in Deutschland, speziell in Berlin, d.h. in West-Berlin, haben in abgeschwächter Form beide Elemente, die Kritik des Kapitalismus als auch die Infragestellung autoritärer Herrschaft, zum Ausdruck gebracht. Die rebellische Bewegung nahm zunächst jedoch die Themen auf, die auch in den USA wichtig waren, die Idee der Gleichheit und Gerechtigkeit in Anlehnung an die Bürgerrechtsbewegung, den Protest gegen verkrustete Strukturen in den Universitäten in Anlehnung an die Free Speech Movement, den Protest gegen den Krieg in Vietnam. In Berlin wurde dementsprechend gegen den Mörder von Lumumba, Moise Tschombé, gegen den Schah von Persien, gegen Humphrey und Nixon demonstriert, es wurde der Vietnamkongreß durchgeführt und die Studienreform bzw. die Kritische Universität in Angriff genommen. Die Jugend entwickelte hier wie dort eigene kulturelle Ausdrucksformen, es wurde "Underground-"musik gehört, eine "Subkultur" entwickelt, die Gründung einer Kleinfamilie infrage gestellt, Kommunen oder wenigstens WGs gebildet, statt Alkohol wurde Marijuana genossen, traditionelle Arbeitsverhältnisse abgelehnt etc.
Ein deutsches Spezifikum, das es in anderen Ländern so nicht geben konnte, war die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, mit der Geschichte der eigenen Eltern, d.h. mit der Nazizeit, mit deren Verdrängung in der BRD, mit der autoritären Rekonstruktionsperiode der Adenauerära. Ein Berliner Spezifikum, das es so anderswo auch nicht geben konnte, war die unmittelbare Nachbarschaft des poststalinistischen Regimes in der DDR, in der anderen, der östlichen Stadthälfte. Der DDR-Sozialismus brachte linke Dissidenten hervor, die auf die Entwicklung in West-Berlin unmittelbar Einfluß nehmen sollten. Die deutschen und Berliner Spezifika verdichteten sich zu einem besonders betonten Antiautoritarismus und Voluntarismus, der die besondere kulturelle Sprengkraft der Berliner Bewegung mit verursachte.
Der SDS war zunächst ein Verband, der hauptsächlich kapitalismuskritische, linkssozialdemokratische, sozialistische Theorien rezipierte, die Hochschuldenkschrift erarbeitete, und der sich friedenspolitisch äußerte. Erst die aktionistischen Theorien der Münchener Kulturrevolutionäre und die antiautoritären Ideen der linken DDR-Dissidenten brachten die brisante Mischung in den Berliner SDS, die im Austausch mit den eher traditionalistischen Marxrezeptionen der Altgenossen zur kritischen Masse wurde. Eine kleine Gruppe von Studenten fand Wege, sich in der Uni als auch in der Gesellschaft Gehör zu verschaffen, hauptsächlich durch Aktionen, die Negativreklame verursachten, aber auch durch feinsinnige Erklärungsmethoden in der Uni-Öffentlichkeit und durch fundierte Hochschulpolitik. In der Stadt entwickelte sich gleichzeitig eine oppositionelle Jugendbewegung, eine Subkultur, die sich aus verschiedensten Quellen speiste: Gammlern, Kiffern, Hippies, Freunden der Bluesmusik, versprengten Linken etc.
Innerhalb von gut zwei Jahren verbreitete sich der Protest zu einer Bewegung, die nationale Beachtung fand und die nach über 30 Jahren Distanz immer noch stark umstritten ist. Es wird mitunter die Frage gestellt, wie der Beitrag des SDS bzw. der einzelnen Mitglieder zu bewerten ist. Wäre die Bewegung entstanden auch ohne diese Gruppe oder hätte sie einfach nur anders ausgesehen? Hat es nicht auch andere Individuen bzw. Gruppen gegeben, die genauso oder ähnlich wichtig waren wie der SDS? Zählen beispielsweise die Kommunen dazu (die K1 wurde immerhin aus dem SDS ausgeschlossen), der Republikanische Club, die Falken, die Gammler etc.? Vielleicht war der SDS ja nur Durchlauferhitzer für die wichtigere Kommunebewegung?.
Wer hat also welche Wirkung erzielt? Die Frage so zu stellen, heißt, sie nicht beantworten zu können, ohne zu berücksichtigen, wer genau welche Ziele hatte und inwieweit diese sich realisieren ließen. Motive, Ziele und Methoden, sowie der Grad der Beteiligung müßten genau definiert, dargestellt und gemessen werden. Was sind subjektive Beiträge und was ist objektiven Bedingungen geschuldet? Eines ist sicher, zumindest in den Unis waren SDS-Mitglieder zumeist in den Gremien und an allen wichtigen Aktionen führend beteiligt (Sit-ins, Asta, Konvent, KU etc.). War dies so, weil sie Mitglieder in diesem Verband waren oder wären sie auch ohne ihn aktiv geworden? Ohne die vielen MitkämpferInnen aus anderen Gruppen oder ohne die vielen Unorganisierten wären sie ohnehin wirkungslos geblieben.
Als es 1967 so richtig los ging, brach die erste Gruppe schon aus dem SDS wieder aus. Die Kommune 1 diskutierte nur noch unter sich und plante ihre Aktionen, ohne sich mit dem SDS oder anderen abzusprechen. Die Vorbereitungsgruppe des Vietnamkongresses plante nicht nur den Kongreß, sondern auch die Gründung des Ché Guevara Instituts, später als INFI realisiert. Das Gegenöffentlichkeitsprojekt bastelte am GÖFI und an der Entwicklung einer linken Tageszeitung. Beide Gruppen erstatteten zwar noch Bericht im SDS, legten ihre Karten aber nicht mehr voll auf den Tisch. Eine gemeinsam erarbeitete und ausgewiesene SDS-Strategie war nicht mehr auszumachen. 1968 sah dann schon den Versuch vieler GenossInnen, das Korsett der Uni zu verlassen. Basisgruppen in verschiedensten Stadtteilen wurden initiiert. 1969 war es endgültig vorbei, der SDS löste sich auf.
Weshalb sprechen wir aber überhaupt von Revolte? Was war denn das Spezifische an dieser Bewegung, verglichen bspw. mit dem heutigen Protest der Studierenden? Während heute mehr Geld und Mitspracherecht in den Gremien verlangt wird, wurde damals der gesamte Lehrbetrieb infrage gestellt. Vorlesungen wurden erst im FU-Spiegel kritisiert und als keine Besserungen erkennbar waren, wurden die Vorlesungen einfach gesprengt und in die eigenen Hände genommen. Heute versuchen die Professoren, die StudentInnen für sich, für ihre eigenen Interessen zu vereinnahmen. Der Vietnamkrieg wurde theoretisch auf seine Implikationen hin analysiert, der Protest aber auf die Straße getragen und das Amerika-Haus symbolisch angegriffen. Heute werden die diversen Kriege rund um den Globus als unabänderlich hingenommen, früher wurde wenigstens über aktive Sabotage der Rüstungslieferungen aus den Metropolen noch nachgedacht. Während heute geklagt wird, wegen der Globalisierung sei leider kein Geld mehr übrig für Soziales oder für Bildung, wurde früher der Imperialismus als abzulehnender Ausbeutungsmechanismus erkannt und entsprechend bekämpft. Der Faschismus wurde als Facette des Kapitalismus gesehen, der Kapitalismus deshalb in toto abgelehnt. Heute wird bestenfalls eine fehlende Alternative beklagt, aber keine Utopie entwickelt. Die dumpfen Moralvorstellungen der Nachkriegszeit wurden als Ausfluß spießbürgerlicher und postfaschistischer Ideologien erkannt und praktisch infrage gestellt, und das öffentlich. Antiautoritäre Erziehung wurde organisiert, Kinderläden in den verschiedensten Wohngebieten gegründet. Die K1 lebte dem Publikum andere zwischenmenschliche Beziehungen vor und entwickelte sich so zum Medienstar, wohingegen z.B. die jetzigen Autonomen sich in politischer Korrektheit üben und sich zunehmend in fundamentalistische Sekten verwandeln.
Wie wichtig war nun die theoretische Arbeit, die im SDS geleistet wurde? Viele GenossInnen kamen aus dem theoretisch orientierten Argument-Club, andere besuchten den Kapitalkurs von Hans-Martin Kuhn. Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Dieter Kunzelmann u.a., also die ehemaligen Situationisten und Kulturrevolutionäre, brachten die Erkenntnis ein, die Kapitalanalyse sei nicht mehr so wichtig, der Kapitalismus habe einen Reproduktionsstand erreicht, der ausreiche, um Not und Elend für immer zu beseitigen, der historische Moment sei gekommen, an dem transitorische Modelle unmittelbar umsetzbar wären. (Orthodoxen Marxisten fiel es angesichts der wirtschaftlichen Prosperität dagegen schwer, nachzuweisen, daß die ökonomischen Bedingungen eine sozialistische Umwälzung in der Metropole notwendig machen würden.) Althergebrachte Hierarchien würden nicht mehr benötigt. Im Prozeß der Veränderungen würden sich neue, egalitäre Strukturen herausbilden. Es käme nur noch darauf an, endlich die theoretisch erkannten Notwendigkeiten und Möglichkeiten praktisch werden zu lassen. Das sich über den großen Teich ausbreitende ideologische Vakuum fand so in diesem voluntaristischen Modell seine revolutionstheoretische Entsprechung. Geschichte wurde als machbar deklariert.
Das waren die drei wichtigen Elemente, die den Berliner SDS kennzeichneten: Marxismus, Voluntarismus, Aktionismus. Orthodoxe Sozialisten, u.a. die sog. Keulenriege im SDS selbst, d.h. die Altgenossen, sahen darin blanken Anarchismus und lehnten diese Entwicklung ab, waren aber schon zu schwach, um sie noch verhindern zu können. Die Mittel, die einerseits erfolgreich dazu dienten, die Öffentlichkeit, die Medien, für die Themen der Revolte zu erobern, also der Voluntarismus und der Aktionismus, ließen andererseits den Verband schnell unfähig werden, die weitere Entwicklung gezielt steuern zu können. Neue Formen wurden benötigt und gefunden. Die nicht angegangene Frauenfrage führte jedoch zu Frustrationen, die fehlende gemeinsame Reflexion der Ereignisse, die fehlenden Kategorien für die Einschätzung der wirklichen Lage, führten zu Selbstüberschätzungen, zu Fehlurteilen und zu falschen Organisationsmodellen. Die Theorien, die im SDS rezipiert bzw. erarbeitet wurden, reichten nicht mehr aus, um die stattfindenden Ereignisse richtig einordnen zu können. Statt die Theorien weiterzuentwickeln, wurden die Stalinschen Interpretationen des Marxismus und die Kostüme der Weimarer Zeit ausgegraben und erneut zur Schau gestellt, die Revolution wurde geprobt, z.T. sogar mit rellem Waffengebrauch, insgesamt aber diesmal glücklicherweise nicht mehr als Tragödie, sondern nur noch als Farce.
Lag der Zerfall des SDS aber nur an der Unfähigkeit der handelnden und denkenden Subjekte oder an der ungelösten Organisationsfrage? Waren die objektiven Bedingungen nicht einfach zu übermächtig, als daß die plötzlich entdeckte proletarische Revolution hätte vorangetrieben werden können, m.a.W. war der Voluntarismus an seine natürlichen Grenzen gestoßen? Auffallend ist jedenfalls, daß zeitgleich mit dem zu Ende gehenden Vietnamkrieg und der Beseitigung der offenen Segregation der Afro-Amerikaner sowohl in den USA, als auch in Europa und in Japan die Neue Linke mit ihrem Antikapitalismus für eine breitere Basis unattraktiv wurde. Neue Themen, die AKW-Frage, die atomare Aufrüstung, die Zerstörung der alten Stadtkerne (Häuserkampf), die Frauenfrage wurden angegangen und es wurden Siege errungen.
Nachdem die USA ihre Legitimationskrise überwunden hatten, kam es zur weltweiten ideologischen Gegenoffensive, der Neo-Liberalismus bestimmte das Feld, Ronald Reagan zum neuen Idol, das SU-Imperium brach zusammen, die Linke wurde orientierungslos. So betrachtet, erscheinen die Ideen und Aktivitäten des SDS als das was sie waren, als eine (kleine) Episode der Zeitgeschichte. Die Revolteure hatten das Glück, in eine Zeit geraten zu sein, in der sie den Mantel der Geschichte ein wenig mittragen durften und ihre Identität als Erneuerer gewannen. Der Mythos von 68 ist sogar noch heute positiv besetzt.
Günter Langer schrieb 1984 über Tupamaros und umherschweifende Haschrebellen: Der Berlin "Blues", in: SheSchahShit, die Sechziger zwischen Cocktail und Molotow, Red. E. Siepmann, Westberlin 1984, Elefanten Press