TWENTY YEARS AFTER

GESPRÄCH MIT PETER GÄNG, MITGLIED DES ARBEITSKREISES VIETNAM DES BERLINER SDS 1964 UND AB 1966 ZWEITER BUNDESVORSITZENDER DES SDS

Aus: Balsen, Werner; Rössel, Karl, Hoch die Internationale Solidarität, Zur Geschichte der Dritte Welt-Bewegung in der Bundesrepubluk, Köln 1986

Wie kamst Du dazu, Dich mit Vietnam zu beschäftigen?

Das lag zunächst nicht an einem Verständnis für Internationalismus, sondern ich hatte einfach Interesse an Südostasien, weil ich mich schon lange vorher mit Buddhismus beschäftigt hatte. Auf Vietnam bin ich deshalb auch zum ersten Mal aufmerksam geworden, als sich dort buddhistische Mönche verbrannten. 1964 bin ich dann über den Vietnam-Arbeitskreis des SDS in das Thema reingerutscht...

Was folgte, war aber doch eine sehr intensive Beschäftigung mit Vietnam. Dabei ist ja auch das Buch entstanden, das zur Informationsgrundlage für viele wurde...

Was mich dazu bewegt hat, mich damit genauer zu beschäftigen und dann dieses Buch mit dem Jürgen Horlemann zu machen, das war einmal die Empörung über den Krieg selbst, aber stärker eigentlich noch die Empörung darüber, daß alles, was hier in den Zeitungen darüber berichtet wurde, einfach gelogen war. Du liest die New York Times oder Le Monde und schaust dann nach, was die deutsche Presse über ein bestimmtes Ereignis schreibt und Du kannst nur noch schwer erkennen, daß es sich um dasselbe Ereignis handelt. Diese Lügerei hat mich so empört, weil ich vorher dachte, das, was in der liberalen Presse - Springer ausgenommen - zu finden sei, stimme auch.

Aber die Falschberichterstattung betraf nicht nur Vietnam. . .

Durch die Beschäftigung mit dem, was in Vietnam abgelaufen ist, habe ich langsam auch mitgekriegt, was Dritte Welt überhaupt heißt, was Unterentwicklung heißt und was das mit uns zu tun hat. Also daß die nicht rein zufällig ärmer sind als wir, sondern, daß das angefangen hat beim Kolonialismus und mit Wirtschaftshilfe und Entwicklungspolitik bis heute weitergeht. Dann gab es auch die übliche, ich glaube bis heute richtigen Überlegung: Ich lebe hier als Metropolen-Mensch in einem reichen Land, das reich ist, weil andere arm sind. Aus diesem schlechten Gewissen entwickelte sich die Selbstverpflichtung, für die was zu tun. Das ist ein sehr kritischer Punkt, wenn ich das von heute aus zurückblickend sehe. Zumindest zum Teil ging es uns ja wirklich darum, daß wir von den Völkern der Dritten Welt erwartet haben, daß die für uns was tun, daß die gesellschaftliche Vorstellungen verwirklichen, die ich gut finde, die auch mein schlechtes Gewissen auf heben würden und die wir hier nicht verwirklichen können. Unsere Einschätzungen der revolutionären Bewegungen in Vietnam oder später auch der gesellschaftlichen Bewegungen in China waren sehr deutlich von der Vorstellung geprägt: Die tun genau das, was wir gerne tun würden. Am deutlichsten war das bei der Kulturrevolution in China, von der wir alle sehr angetan und begeistert waren, ohne hinzugucken, was sich da tatsächlich abspielte. Wir haben nur das gesehen, was wir sehen wollten, und was wir toll fanden. In Vietnam gab es einen revolutionären Befreiungskrieg, den die Vietnamesen sehr heldenhaft und aufopferungsvoll gegen die Amerikaner geführt und am Ende auch gewonnen haben. Ich habe mir nie richtig klargemacht, was es heißt, wenn ein Land jahrzehntelang Krieg führen muß, einen Krieg, der sicher die Hälfte der Bevölkerung das Leben gekostet hat. Oder wie Menschen, die im Krieg geboren sind und im Krieg aufgewachsen sind und nur Krieg erlebt haben, plötzlich eine friedliche, humane, menschenwürdige Gesellschaft aufbauen sollen.

Überlegungen, die bis heute aktuell geblieben sind, wenn man sich Diskussionen über El Salvador und Nicaragua ansieht. . .

Dieses Problem ergibt sich bei der Unterstützung jeder Befreiungsbewegung in der Dritten Welt. Im Grunde unterstützen wir damit andere Menschen dabei, einen Krieg für uns zu führen, mit dessen Zielen wir übereinstimmen. Wir haben das Glück, diesen Krieg nicht selbst führen zu müssen. Daraus folgt aber gleichzeitig die Blindheit gegenüber diesen Kriegen, weil wir nicht mehr sehen, was dabei mit den Menschen passiert.

Wie hat sich denn die Vietnam-Bewegung in Bezug auf den Vietnamkrieg entwickelt?

Die Bewegung hat sich kontinuierlich so entwickelt, wie sich der Krieg entwickelt hat. Je härter und umfangreicher der Krieg wurde, um so umfangreicher wurden auch die Solidaritätsaktionen. Es gab ja tatsächlich die Theorie - nicht nur im SDS, sondern auch in der amerikanischen Vietnam-Bewegung - daß die Vietnamesen den Krieg nur dadurch gewinnen können, daß in Amerika selbst und in der mit Amerika verbündeten westlichen Welt die Protestbewegung gegen diesen Krieg so stark wird, daß die amerikanische Regierung gezwungen wird, den Krieg einzustellen. Diese Theorie reichte bis zu der Wunschvorstellung, daß sich die Opposition gegen den Vietnamkrieg in den westlichen Ländern zu einer revolutionären Bewegung insgesamt entwickeln könnte. Am Ende stand das Idealmodell, daß der Krieg in Vietnam von den Vietnamesen gewonnen wird und damit quasi bei uns die Revolution ausbricht.

Noch mal zurück zu den Anfängen: Zwischen den ersten Treffen des Vietnam-Arbeitskreises bis zu einer Bewegung, die die Revolution vor der Haustüre stehen sah, lagen doch einige Jahre und einige Erfahrungen?

Zunächst gab es im SDS nur eine Handvoll Vietnam-Spezialisten, die als Referenten herumreisten und Vorträge hielten. Der eigentliche Punkt, mit dem die Dritte-Welt-Bewegung im SDS einen Aufschwung genommen hat, war die Demonstration gegen den Besuch des kongolesischen Ministerpräsidenten Tschombé in Berlin. Es wußte im Grunde damals kaum jemand was über den Kongo. Bekannt war nur, daß dieser Tschombé ein rechter Diktator war. Mehr wußte niemand. Als der jetzt nach Berlin kam, da entlud sich plötzlich bei dieser Demonstration alles, was sich an Empörung über die ungerechten Verhältnisse in der Dritten Welt und die westliche Politik gegenüber der Dritten Welt angestaut hatte. Daß es nun gerade gegen den Tschombé ging, war Zufall. Aber es war die erste Demonstration, bei der es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, weil die Demonstranten den Fußweg verließen und auf die Straße gingen. Das war der Anfang. Diese erste Demonstration hatte mehrere Effekte: Einer der Effekte war, daß die gesamte Öffentlichkeit aufbrüllt, wenn wir eine Demonstration machen, bei der nicht mehr haargenau die Spielregeln eingehalten werden. Die Zeitungen waren voll davon. Die Springer-Presse fing schon damals an, von bezahlten Agenten aus Ost-Berlin zu faseln, kurzum: Das ganze Lügengespinst, was sich seitdem bei jeder Demonstration entwickelte, war mit einem Schlag da. Der zweite Effekt war, daß niemand bereit war, sich mit dem, was diese Demonstration politisch aussagen wollte, inhaltlich auseinanderzusetzen, sondern daß nur über die Form der Demonstration geredet wurde. Jedenfalls wurde bei all dem klar - um es mal gemein auszudrücken -, daß die Dritte Welt ein zugkräftiges politisches Thema war. Das Aufsehen, das diese erste Dritte Welt-Aktion hervorrief, führte auch zu neuen Aktionsformen im Protest gegen den Vietnamkrieg. Das, was damals passierte, erscheint ja - von heute aus gesehen - völlig unglaublich. Da war völlig klar, daß das weitergehen mußte. Ich nenne mal zwei Beispiele: Wir haben Anfang 1966 Plakate geklebt, auf denen stand, daß die Regierung der Bundesrepublik den Mord, den die Amerikaner in Vietnam verüben, unterstützt. Soweit der Text dieser Plakate, sehr vorsichtig und lieb formuliert, und im Vergleich zu dem, was heute so üblich ist an politischer Plakatkunst, war das wirklich total harmlos. Bei dieser Plakatklebeaktion sind ein paar Leute, darunter auch ich, geschnappt worden und die Polizei versuchte gleich, einen Haftbefehl gegen uns zu erwirken und uns einzubuchten. Von der Medienöffentlichkeit wurde diese Plakataktion so aufgenommen, als hätte da ein Anschlag auf den Staat stattgefunden. Das zweite Beispiel: die Vietnam-Demonstration einen Tag später vor dem Amerikahaus. Da sind genau drei Eier an die Fassade des Amerikahauses geworfen worden, keine Farbeier, ganz normale frische, deutsche Eier. Die Reaktionen darauf waren so, als hättejemand den USA den Krieg erklärt. Hätte sich damals ein Regierungssprecher hingestellt und gesagt ,Was ihr sagt, stimmt im großen und ganzen und wir finden das auch nicht gut, was in Vietnam läuft`, wäre die Luft rausgewesen. Wir hätten mit dem Kopf genickt, ein Teil von uns wäre in die SPD eingetreten und wir hätten das Gefühl gehabt, in einem Land zu leben, mit dessen offizieller Ideologie man mehr oder weniger übereinstimmen kann. Aber diese Diskrepanz, daß drei Eier auf da Amerikahaus diese Empörung auslösen, und Napalm auf vietnamesische Dörfer gar keine, das hat mich - und ich glaube viele andere, die sich damit beschäftigt haben - total sauer gemacht, diese Haltung, jeder harmlose Angriff auf die Staatsmacht oder auf die Amerikaner gilt als Katastrophe, während dort Mord und Totschlag herrscht. Das geht ja heute auch noch allen Dritte Welt-Gruppen so, daß immer wieder deutlich wird, daß ein Menschenleben aus der Dritten Welt hier im Grunde nichts zählt. Da können wirklich halbe Völker verrecken, aber wenn man sich deshalb hier nur unfreundlich verhält, ist das in jedem Fall schlimmer. Darin liegt - so würde ich vermuten - gerade bei den christlichen Dritte Welt-Gruppen ein wesentliches Motiv für ihre Arbeit.

Heißt das, Dritte Welt-Themen ließen sich funktionalisieren, wirkten politisch mobilisierend?

Extrem mobilisierend. Hinzu kam noch, daß wir gerade in Berlin immer die Antwort bekamen: ,Ihr könnt Euch nur frei äußern, weil die USA Berlin schützen und die Universität, an der Ihr studiert, von den Amis gestiftet wurde.` Das hieß umgekehrt, ihr habt gar kein Recht, die amerikanische Kriegsführung zu kritisieren. Das hat die Bewegung zusätzlich angeheizt, weil wir immer wieder gegen eine Wand gerannt sind. Dann kam der Schah-Besuch in Berlin 1967, der so auch nicht möglich gewesen wäre ohne die ganze Vietnam-Bewegung, die dem vorausgegangen war. Der Tod von Benno Ohnesorg bei der Demonstration am 2. Juni 1967 war das Datum, das den Konflikt zwischen den oppositionellen Studenten - und es waren nicht mehr nur Studenten - und der Staatsmacht wesentlich verschärft hat. Dabei muß man immer bedenken, daß der Internationalismusaspekt zwar der Bewegende war, daß aber zur gleichen Zeit im universitären und im sozialpolitischen Bereich, bei den Frauen und in anderen Bereichen davon initiiert andere politische Bewegungen entstanden.

Welche Bedeutung hatte der Vietnam-Kongreß in Berlin?

Der Vietnam-Kongreß 1968 war der Höhepunkt dieser Entwicklung. Dabei ging es darum, die verschiedenen Bewegungen, die sich im und um den SDS entwickelt hatten, zu verknüpfen. Aber es war auch der Endpunkt, weil danach kaum mehr neue inhaltliche Momente dazukamen, sondern sich allenfalls die Basis verbreitert hat.

Wie kam es zur Entwicklung und Radikalisierung der verschiedenen politischen Aktionsformen zwischen l965 und l968?

Es fing an mit Demonstrationen aufdem Bürgersteig. Dann gings auf die Straße bis schließlich Steine auf irgendwelche Gebäude geworfen und Polizeiketten durchbrochen wurden. Das hat sich relativ kontinuierlich entwickelt, weil sich ein Mechanismus eingestellt hatte, der im Prinzip so aussah: Heute ist eine Demonstration, bei der drei Eier ans Amerikahaus geworfen werden. Fazit am nächsten Tag: Riesenspektakel in der Presse. Dieselbe Aktion zwei Wochen später: Wieder werden drei Eier geworfen und die Zeitungen berichten nicht mehr darüber. Wenn aber zu den drei Eiern noch ein Stein kommt, dann ist eine neue Qualität erreicht, und die Presse bringt das ganze wieder groß raus.

Das heißt, als Prüfstein für den Erfolg einer politischen Aktion galt die Resonanz in den bürgerlichen Medien?

Das war ganz wesentlich für uns alle. Nach jeder Demonstration sind wir zum nächsten Kiosk an der Ecke gerannt und haben Zeitungen gekauft und geguckt, ob wir wieder drin sind in der Zeitung oder nicht. Und wenn da nur eine winzige Notiz stand oder manchmal gar nichts, waren wir enttäuscht und hatten das Ge fühl, wir haben was falsch gemacht.

Aber andererseits gab es doch eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Funktion der Medien zur Herrschaftssicherung bis hin zur ,Anti-Springer-Kampagne`. . .

Das war ja auch eine Entwicklung. Schematisch kann man das so sagen: Anfangs wollten wir in der Internationalismus-Bewegung nur, daß das, was wir für die Wahrheit hielten, zur Kenntnis genommen wird. Wir wollten klarmachen, daß die Amis einen Krieg mit schlimmsten Mitteln führten und haben erwartet, daß zumindest ein Teil der Öffentlichkeit mit uns darin übereinstimmte, daß das so nicht sein darf. Aber die Reaktionen, die dann kamen, waren ja bekanntlich andere. Selbst der SPIEGEL hat ganz lange gebraucht, bis da mal ein paar kritische Töne über den Vietnamkrieg zu finden waren. Diese verbiesterte Reaktion, mit der die Berliner Presse und auch der Senat auf uns reagiert haben, hat die politische Mobilisierung wie die Auseinandersetzung mit der Funktion der Medien ständig vorangetrieben.

Gab es auch Auseinandersetzungen mit anderen Dritte Welt-Ländern, mit anderen Dritte Welt- Themen oder blieb alles konzentriert auf Vietnam?

Die meisten von uns sahen Vietnam nicht isoliert. Vietnam war einfach ein Paradigma für das, was das Verhältnis westlicher Länder zur Dritten Welt ausmacht.

Und ein Beispiel für die Linken hier, weil dort auch eine Minderheit, ein kleines Volk gegen die große Übermacht USA kämpfen mußte, so wie die Studenten hier gegen die herrschende Gesellschaft?

Sicher dienten uns die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt als Projektionsbühne für alles, was wir an Vorstellungen hatten, wie sich die Welt und wie sich auch unsere Welt verändern ließe. Wir sahen: Wenige können anfangen, gegen eine Übermacht zu kämpfen. Durch den Kampf werden die wenigen mehr. Auch das ließ sich ja übertragen: Die ersten Demonstrationen wurden von ganz wenigen gemacht und auch bei uns wurden es ja immer mehr. Und es gab noch weitere Analogien zu unserer Situation. So war ja zum Beispiel Ho Chi Minh am Anfang seiner politischen Laufbahn ein glühender Verehrer der amerikanischen Demokratie gewesen. Er hat ja einen Teil der amerikanischen Verfassung in die vietnamesische übernommen. Das traf ja auch auf uns zu. Als Kennedy starb, war die Betroffenheit der Linken hier vielleicht größer als die aller anderen. Dagegen stand die Wirklichkeit der amerikanischen Gesellschaft. Vietnam war ein Land, das eigentlich alle Unterstützung verdient hatte, und die Amerikaner gingen hin und schlugen mit einem großen Hammer alles tot.

Was folgte auf dem Vietnam-Kongreß?

Nach dem Vietnam-Kongreß hat sich durch das Attentat auf Rudi alles ganz auf innenpolitische Auseinandersetzungen verlagert. Nach dem Attentat und nach dieser Eruption gegen die Springer-Presse war Vietnam eigentlich kein Thema mehr. Die Parole, die das am genauesten beschreibt, war: ,Sieg im Volkskrieg - Klassenkampf im eigenen Land`. Das war eine völlige Rückbesinnung auf die politischen Verhältnisse hier und die Solidaritätsbewegung war von diesem Zeitpunkt an auch keine Projektionsbühne mehr, sondern ein politischer Zweig unter anderen. Sie war nicht mehr das Vehikel und auch nicht mehr der Motor der Geschichte. Vietnam stand nicht mehr für etwas anderes. Von da an war Vietnam eigentlich wirklich nur noch Vietnam.

Wie beurteilst Du die Entwicklung der Internutionulismus-Bewegung seit Vietnam bis heute ? Haben sich die Ansatzpunkte verändert, hat sie sich weiterentwickelt?

Die beiden Aspekte, von denen die Vietnam-Bewegung und die Dritte Welt-Bewegung insgesamt ausgegangen ist, gelten heute immer noch: Da ist einmal einfach eine Art richtiger menschlicher Solidarität und zum zweiten ein richtiges, schlechtes Gewissen darüber, daß wir die Welt so eingerichtet haben wie sie ist, daß mehr als die Hälfte der Welt in Elendsverhältnissen lebt und wir dafür in guten. Aber heute wird die Dritte Welt gleichzeitig noch viel häufiger zur Projektionsbühne für all das, was wir nicht haben oder bei uns nicht aufdie Reihe kriegen. Nach wie vor hoffen viele, daß die revolutionären Bewegungen der Dritten Welt gesellschaftliche Veränderungen hervorbringen müssen, die wir gerne haben wollen. Inzwischen gibt es darüber hinaus noch mehr Extreme, wie etwa die Schamanen-Bewegung, die der Medizin der Dritten Welt gerne andichtet, daß sie alles das hätte, was wir nicht haben. Diese Art von Projektion ist ja so alt wie die ,Entdeckung` der Dritten Welt überhaupt. Das Bild vom ,edlen Wilden` hat in der europäischen Geschichte immer eine große Rolle gespielt. Dazu kommt das Gefühl, wenn man irgendetwas gerne will, muß man auch irgendwo auf der Welt etwas entdecken, was das repräsentiert. enschen können es scheinbar nicht ertragen, etwas zu wollen, as es wirklich noch nicht gibt oder nicht geben kann.Wie lassen sich denn Projektionen dieser Art in der Internationalismusarbeit verhindern ?

Wir müssen nur hingucken, einfach nur genau hingucken und bereit sein, ein fremdes Land der Dritten Welt so wahrzunehmen wie es ist, mit all seinen Widersprüchen. Für mich persönlich war es ein Aha-Erlebnis, als ich zum ersten Mal in Lateinamerika war und mir von Leuten dort erzählen ließ, was die gerne wollten. Das waren leider alles Dinge, von denen wir wollen, daß sie die Menschen dort nicht wollen: Sie wünschen sich einen Fernseher, tranken gerne Bier aus Aluminium-Dosen, die sie gerne über die Schulter in den Dreck warfen und dort liegen ließen. Und die Menschen in Nepal träumten davon, daß ihre Kinder im Bus zur Schule fahren können auf einer richtigen ordentlichen Straße, womit daß Land allerdings seine natürliche Unschuld, die wir so an ihm lieben, verlieren würde. Auch wenn wir hingucken, was wollen die Menschen wirklich, bleibt noch eine ganze Menge Raum für das, was ich als wirkliche menschliche Solidarìtät mit anderen bezeichnen würde oder auch als Bewältigung der historischen Schuld, daß wir reich sind auf deren Kosten. Natürlich ist es nach wie vor unsere Pflicht, Befreiungsbewegungen zu unterstützen. Wir sollten nur nicht so tun, als würden die all das verwirklichen, was wir gerne wollen. Die haben ihre eigenen politischen Interessen. Das muß man im Grunde nur zur Kenntnis nehmen und sich dann entscheiden, ob man die trotzdem unterstützen will oder nicht. Vor allem sollte man nicht so tun, als wäre es ganz toll, wenn Menschen irgendwoanders einen Krieg führen müssen, auch wenn man diesen Krìeg trotzdem richtig findet und sie dabei unterstützt. Aber wenn ich Geld für Waffen für irgendeine Befreiungsbewegung spende, tue ich das ohne Begeisterung. Ich kann heute nicht mehr so darauf abfahren, wie es damals bei Vietnam war, wo wir gezählt haben : Die einen haben 180 Tote, die anderen haben 220, und wir uns gefreut haben, wie bei einem Fußballspiel, weil die einen gewonnen haben und die anderen nicht.

Glaubst Du nicht, daß das Verhältnis zu den Befreiungsbewegungen in der Dritte Welt-Szene kritischer geworden ist?

Ein Beispiel dafür, wie unglückselig das bis heute ist, ist doch das Verhältnis der Linken zu den palästinensischen Befreiungsbewegungen. Daran sieht man am deutlichsten, wie sich die Solidaritätsbewegung in vorhandene Ideologien einpaßt, statt sich mit dem auseinanderzusetzen, was da vorgeht. Ohne nachzudenken, welche politischen Richtungen auch in diesen Befreiungsbewegungen präsent sind, wird einfach Partei ergriffen für eine dieser Organisationen, sei es für die PLO oder sonst wen. Und alles das, was man sehen und wissen müßte, um wirklich solidarisch sein zu können, auch mit ein paar ,wenns` und ,abers`, bleibt außen vor. Das war schon 1967 so, da hatte eine Gruppe im SDS ein Papier gemacht zum Verhältnis von Israel und PLO. Das wurde geschrieben, ohne auch nur einen Moment lang darüber nachzudenken, was wir für ein Verhältnis zu den Juden haben und daß wir uns als Deutsche wirklich nicht hinstellen können und eine Organisation unterstützen, die die Juden ins Meer jagen will. Alle derartigen Fragen wurden einfach ausgeklammert und in Sprechblasen verpackt, die wir von kommunistischen Parteien aller Art oder auch aus der Peking Rundschau übernommen hatten. Das wird mit Schlagworten wie "Internationale Solidarität" und "Anti-Imperialismus" und "USA - Hauptfeind aller Völker" erledigt. Das ist so eine Tendenz, die sich seit Beginn der Solidaritätsbewegung bis heute durchzieht. Das merkst Du auch daran, daß sich um den Krieg zwischen dem Irak und dem Iran, der wirklich zum allerschlimmsten gehört, was sich gegenwärtig in der Dritten Welt abspielt, niemand kümmert. Dabei erfüllt er Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit wir protestierend aufstehen: Dieser Krieg ist ein ausgezeichneter Markt für westliche Waffenverkäufe, aber das kümmert hier wirklich keinen Menschen, weil dieser Krieg in kein ideologisches Schema reinpaßt.

Das klingt wie eine Aufforderung, mehr thematisch statt länderbezogen zu arbeiten. Es gibt ja in der Bundeskongreß-Bewegung der Dritte Welt-Gruppen seit ein paar Jahren bestimmte thematische Kampagnen, etwa die Pharma-Kampagne oder die gegen Rüstungsexporte. Ist das ein Ansatzpunkt für kritischen Internationalismus?

Das ist schwer zu sagen. In vielem ist es wohl völlig egal, ob Du nun aus irgendwelchen Gründen in irgendwelchen Ländern handwerkliche Kooperativen fördern willst oder Dich mit einem thematischen Schwerpunkt beschäftigst. Es ist auch egal, in welchem Land Du was machen willst. Denn das, was Du konkret tun kannst, mildert das Elend in der Dritten Welt allentfalls um einen ganz winzigen Bruchteil. Da ist es eigentlich gleichgültig, ob sich nun jemand mit Mexiko beschäftigt, weil er da in Urlaub war oder mit Afrika oder mit einem asiatischen Land, weil er darüber zufällig einen Zeitungsartikel gelesen hat, oder ob einer, den die Pharma-Industrie ohnehin nervt, sich deren Praktiken in der Dritten Welt genauer anschaut. Wichtig ist nur, auf die eigenen Projektionen zu achten, besonders, wenn es sich um Projektionen ganzer Gruppen handelt, damit nicht die Solidaritätsbewegung eine neue Variante des Kulturimperialismus wird.

Nehmen wir das Beispiel Nicaragua-Solidarität heute. Es gibt ja viele Kontakte nach Nicaragua, Projekte, Brigaden. Es waren tausende Leute in Nicaragua. Entspricht das nicht Deiner Forderung, hinzusehen, das Land der Solidarität genauer kennenzulernen?

Gerade Nicaragua zeigt eher, was ich mit linkem Kulturimperialismus meine. Sicher kann man den Nicaraguanern helfen. Man kann auch sagen, die werden derart von den USA unter Druck gesetzt, daß ich alsBürger der zur USA gehörenden Hemisphäre einfach versuchen muß, ein Gegengewicht zu setzen, auch wenn ich nicht alles unbedingt richtig finden muß, was da passiert. Was aber zumindest ein Teil der Nicaragua-Bewegung macht, ist, einfach so zu tun, als wäre dort alles ganz toll. Es ist jedoch nicht alles ganz toll. Es spricht den Leuten in Nicaragua geradezu jede Menschlichkeit ab, daß sie nach dieser langen Somoza-Herrschaft nun plötzlich die neuen Menschen darstellen sollen, die alles richtig machen. Natürlich machen die viel falsch. Ich finde, man muß das auch sehen und auch bereit sein, jemandem zu helfen, der Fehler macht. Sonst kommt genau das raus, was mit unserer Vietnam-Solidarität passiert ist: Wir unterstützen etwas und gucken nicht genau hin, was wir unterstützen. Und wenn wir dann plötzlich gezwungen sind, zur Kenntnis zu nehmen, was da abläuft, wenden wir uns voll Grausen ab und tun so, als ob wir nie was damit zu tun gehabt hätten. Natürlich haben wir weiter was damit zu tun und müssen Fehler auch zur Kenntnis nehmen und nicht von vorneherein sagen, die sind die neuen Menschen und die werden unsere Utopien verwirklichen. Die Menschen dort müssen mit ihrer eigenen Geschichte und ihrer eigenen Situation zurechtkommen. Wir sind mit Schuld daran, daß sie in der Scheiße sitzen und können ein bißchen dazu beitragen, daß sie da rauskommen.

Du meinst, Leute in der Solidaritätsbewegung hier erwarten anderswo von Menschen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, unter ungleich schwereren Bedingungen, Dinge, die wir nicht einmal in unseren Wohngemeinschaften umsetzen können: kollektives Handeln, den neuen Menschen, der fehlerlos ist. Ein Internationalismus, der das Recht auf Selbstbestimmung nicht ernstnimmt, weil er das Recht auf Fehler ausschließt?

Einverstanden. Schön gesagt. . .

Ist das auch die Ursache für die Konjunkturanfälligkeit der Internationalismus-Bewegung, die sich heute mit Algerien, morgen mit Vietnam, übermorgen mit Nicaragua beschäftigt?

Ob es die alleinige Ursache ist, weiß ich nicht. Es gab ja seit Anfang der Internationalismus-Bewegung zwei Ansätze: einerseits die eigene Betroffenheit und zum anderen die Instrumentalisierung der Dritten Welt, weil sich damit gut Politik machen ließ. Die Betroffenheit ist sicher nicht so konjunkturabhängig. Sicher gibt es auch da Schwankungen: Heute ist es vielleicht ein Atomkraftwerk, morgen Nicaragua, das mich existentiell betroffen macht. Aber dieses instrumentelle Verhältnis zum Internationalismus ist sicherlich sehr konjunkturanfällig. Denn wenn ein Thema politisch nicht mehr zieht, nimmt man eben ein anderes. Das führt dazu, daß die Dritte Welt nicht aus eigenem Recht ein politisches Thema bei uns ist, sondern nur insofern, wie es eine Gruppe gebrauchen kann, um die Mobilisierung für ihre politischen Ziele vorantreiben. Aber es wäre wahrscheinlich albern, sich darüber aufzuregen, daß Leute versuchen, andere mit dem zu mobilisieren, was sie für ein wirksames Thema halten. Das ist manchmal eben die Dritte Welt.

Was hälst Du denn von der These, die beste Dritte Welt-Arbeit sei gar keine Dritte Welt-Arbeit, sondern politische Arbeit hier bei uns ? Weil doch die Banken, die Konzerne, die die Dritte Welt ausplündern, in Frankfurt, Köln und Berlin sitzen ?

Du kannst nicht sagen, wir konzentrieren uns nur darauf, die gesellschaftlichen Verhältnisse bei uns so zu verändern, daß unsere Welt in der Dritten Welt nicht mehr so viel Schaden anrichtet. Praktisch würde das ja bedeuten, daß Du die nächsten zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahre zuguckst, wie dort alles mögliche zugrunde geht. Außerdem ist das Bewußtsein für Dritte Welt-Probleme breiter geworden. In allen gesellschaftlichen Gruppen, die überhaupt was mit Politik am Hut haben, sei es Friedenspolitik oder Umweltpolitik, spielt die Dritte Welt-Problematik eine ìmmer stärkere Rolle. Nicht nur die Dritte Welt-Bewegung ist ja stärker geworden, sondern das Interesse an Politik insgesamt ist viel weiter verbreitet...

. . . weiter als 68?

Ja. 1968 waren diejenigen, die politisch engagiert waren, vielleicht engagierter, als das heute der Fall ist. Aber es waren auf jeden Fall viel weniger als heute. Wenn die GRÜNEN z. B.1968 angetreten wären, dann hätten sie vielleicht 0,8 Prozent gekriegt. Wenn Du Dir heute anschaust, wieviele Menschen allein in Berlin in irgendwelche alternativen Projekte verwickelt sind, das sind mindestens 100.000, die irgendwas mit Wohngemeinschaftenoder alternativ arbeiten oder alternativer Kultur zu tun haben. Die Basis ist breiter geworden. Auch die Basis der Dritte Welt-Bewegung. Heute interessiert das viel mehr Menschen als 1968.